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Full text of "Die Familie Mendelssohn, 1729-1847 : nach Briefen und Tagebüchern"

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Die  i 

-amilie; /Mendelssohn  I 

I.  Band  ii 


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Gift  of 

Brandeis  University 

National 

Women's  Committee 


Die  Familie  Mendelssohn, 


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Die 


Familie  Mendelssohn, 


1729-1847. 


Nach  Briefen  und  Tagebüchern. 


Von 

S.  HENSEL. 


Mit  8  Portraits,  gezeichnet  von  Wilhelm  Hensel. 


I. 

Dreizehnte  Auflage 

vermehrt  um  ein  Geleitwort  von  Paul  Hensel  und  ein  Portrait  S.  Hensels. 


BEHLIN. 

B.   Behr's    Verlag* 

Steglitzer  Strasse  4. 

1906. 


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Geleitwort  zur  zelinten  Auflage. 


Diese  neue  Auflage  der  Familie  Mendelssohn  darf  nicht  ohne 
einleitende  Worte  in  die  Welt  gehn.  Der  Verfasser  des  Buches 
weilt  nicht  mehr  unter  den  Lebenden,  und  mir,  seinem  ältesten  Sohne, 
fällt  es  zu,  dieselbe  Pflicht  zu  erfüllen,  die  der  Dahingeschiedene 
seinen  Voreltern  gegenüber  in  treuer  Pietät  übernommen  hat.  Das 
dieser  Auflage  beigegebene  Bild  meines  Vaters  zeigt  ihn,  wie  er 
gegen  Ende  seines  Lebens  war,  und  wird,  wie  ich  hoffe,  Vielen  eine 
willkommene  Zugabe  sein. 

Die  „Familie  Mendelssohn"  bricht  bei  dem  Tode  meiner  Gross- 
mutter ab,  und  dies  Ereignis  bildete  auch  in  dem  Leben  meines 
Vaters  einen  wichtigen  und  folgenschweren  Einschnitt.  Wohl  hatte 
er  in  den  Geschwistern  seiner  Mutter,  Paul  Mendelssohn-Bartholdy 
und  Rebecka  Lejeune-Dirichlet,  treue  und  zuverlässige  Berater,  die 
dem  Sohn  ihrer  früh  entrissenen  Schwester  liebevoll  zur  Seite  standen, 
aber  sein  Elternhaus  hatte  mit  dem  Tode  der  Mutter  die  Bedeutung 
eines  Heims  für  ihn  verloren.  Sein  Vater,  Wilhelm  Hensel,  durch 
den  Tod  der  geliebten  Frau  innerlich  gebrochen,  durch  tiefgehende 
Verschiedenheit,  namentlich  in  seinen  politischen  Ansichten,  die  sich 
von  dem  jugendlichen  Radicalismus  des  Sohnes  weit  entfernten,  von 


II 

ihm  getrennt,  vermocbte  bei  aller  innigen  Zuneigung  nicht  den  Einfluss 
auf  den  Sohn  zu  gewinnen,  den  die  Mutter  so  segensreich  ausgeübt  hatte. 
Der    selbsterwählte   Beruf   meines   Vaters,    die   Landwirtschaft, 
führte  ihn  bald  aus  den  geistig  angeregten  Kreisen  Berlins,  in  denen 
sein  Leben  sich  bewegt  hatte,    hinaus,   und  es  folgten  lange  Jahre 
voll  harter  Arbeit   und  ruhiger   der  eigenen  Ausbildung  gewidmeten 
Stunden,   in   denen   weniger  das   augenblickliche  Leben  als  die  Er- 
innerung an  die  Vergangenheit  seine  Gedanken  beschäftigten.    Als 
er  dann  einen  eigenen  Hausstand  gegründet,  fern  von  der  früheren 
Heimat   in   dem   damals   noch   in  provinzieller  Abgeschiedenheit  ver- 
harrenden Ostpreussen,  war  es  ihm  ein  Bedürfnis,  dass  seine  Kinder 
an  diesen  Erinnerungen  teil  haben  sollten,  und  so  entstand  das  vor- 
liegende Buch.     Erst   lange  Zeit  später,    als  er  wieder  nach  Berlin 
zurückgekehrt  war,   entschloss  er  sich,   das  Buch  der  Oeffentlichkeit 
zu   übergeben,    und   der  Wunsch,    den  Felix  Mendelssohn-Bar tholdy 
seiner  geliebten  Schwester  Fanny  aussprach:  »es  möge  ihr  die  Drucker- 
schwärze nie  schwarz  und  nie  drückend  sein",   hat  sich  an  meinem 
Vater    in   vollstem   Masse    erfüllt.    Er   hat  viel  Freude   an    diesem 
Buch  gehabt,   sich  viele  bekannte  und  unbekannte  Freunde  dadurch 
erworben,    und    es    ist    mir    ein    Bedürfnis,    an    dieser    Steile    den 
Freunden   zu    sagen,    wie  wertvoll    der  Gedanke,    ihnen  durch  sein 
Buch  nahe  getreten  zu  sein,  für  meinen  Vater  bis  in  die  letzten  Tage 
seines  Lebens  gewesen  ist. 

In  das  stille  Westend,  in  dem  Sebastian  Hensel  die  letzten 
Jahre  seines  Lebens  bis  zu  seinem  Tode  am  13.  Januar  1898  ver- 
brachte, kamen  immer  auf's  Neue  Zeichen  dafür,  dass  sein  Buch  für 
viele  ein  wertvolles  geistiges  Besitztum  geworden  sei,  dass  die  Saat, 
die  er  einst,  nur  seiner  Kinder  gedenkend,  ausgestreut  hatte,  auch 
für  Fremde  zum  Segen  geworden  war. 


III 

Die  „Familie  Mendelssohn^  hat,  wie  schon  ihr  Titel  andeutet,  in 
der  deutschen  Memoirenlitteratur  eine  ganz  eigentümliche  Stellung. 
Nicht  ein  einzelner  Mensch  steht  im  Mittelpunkt,  sondern  es  ist  die 
geistige  Entwickelung  einer  Reihe  von  Menschen,  die  uns  hier  vor- 
geführt wird,  und  hei  aller  individuellen  Verschiedenheit  sind  es 
eben  die  gemeinsamen  Züge,  zu  denen  mit  Vorliebe  das  Auge  des 
Beschauers  immer  wieder  zurückkehrt;  denn  es  ist  eine  köstliche 
Familiengeschichte,  die  sich  hier  offenbart.  Wir  sind  heute  nur 
allzu  leicht  geneigt,  bei  dem  Gedanken  der  Vererbung  die  trostlosen 
und  düstern  Seiten  hervortreten  zu  lassen  und  nicht  daran  zu 
denken,  dass  in  den  Kindern  in  der  geistigen  Atmosphäre  des  Eltern- 
hauses auch  die  guten  und  tüchtigen  Eigenschaften  der  Eltern  sich 
immer  wieder  aufs  Neue  hervorbringen.  Diese  Wahrheit  sollte  vor 
allen  die  Familie  Mendelssohn  eindringlich  predigen,  und  diese 
Predigt  hat  willige  Ohren  gefunden. 

Noch  ein  Anderes  ist  zu  berücksichtigen:  Es  sind  zum  Teil 
Töne  wie  aus  einer  vergessenen  Welt,  die  aus  diesem  Buch  zu  uns 
hinüberklingen;  fast  alle  Interessen,  die  unser  modernes  Leben  be- 
wegen, sind  den  Menschen,  von  denen  dieses  Buch  handelt,  fremd 
geblieben  ihr  Leben  hindurch.  Es  sind  unmoderne  Menschen  von 
Grund  aus,  mit  denen  wir  hier  in  Berührung  kommen,  und  der  dies 
Buch  schrieb,  konnte  es  nur  deshalb  schreibeu,  weil  er  selber  ein 
unmoderner  Mensch  war,  weil  sein  Herz  den  Idealen  seiner  Jugend 
treu  blieb,  so  klar  auch  sein  scharfer  Verstand  ihm  das  Einseitige 
dieser  Ideale  zeigte.  Aber  er  war  des  festen  Glaubens,  dass  nichts 
von  dem,  was  einmal  ein  menschliches  Herz  zu  grossen  und  reinen 
Gefühlen  bewegt  hatte,  jemals  veralten  könne;  dass  das  allgemein 
Menschliche,  so  wenig  es  auch  in  den  Interessenkämpfen  unserer 
Zeit  vernehmbar  wird,  doch  immer  wieder  die  letzten  Zielpunkte  der 


VI 

menschlichen  Lebensrichtung  abgeben  muss.  Er  lebte  des  Glaubens, 
dass  eine  Zeit  kommen  werde,  die  mehr  Verständnis  für  eine 
Lebensführung  in  diesem  Sinne  haben  werde,  als  es  der  unsrigen 
möglich  ist.  Und  er  fühlte  sich  wie  einer  jener  Wettläufer,  von 
denen  uns  Plato  erzählt,  welche  die  Fackel  des  Lebens  weiter  geben 
an  den  sie  Ablösenden.  Er  dachte  dabei  zunächst  an  seine  Kinder, 
er  freute  sich,  dass  seine  Hoffnung  übertroffen  wurde,  möge  sein 
Werk  noch  lange  in  diesem  Sinne  Frucht  tragen. 

Westend,  im  September  1900. 

Paul  HenseL 


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Vorrede  zur  zweiten  Auflage. 


Die  Emleitung,  mit  welclier  das  Bucli  bei  seinem  ersten 
Erscheinen  begann,  lautete  folgendermassen: 

„Ursprünglich  wurde  die  Arbeit,  welche  ich  jetzt  der 
Oeffentlichkeit  übergebe,  zu  ganz  anderem  Zweck  und  nach 
ganz  anderen  Gesichtspunkten  hin  unternommen:  Eine  Bio- 
graphie nicht  bloss  der  Familie,  sondern  für  die  Familie  sollte 
es  sein;  ich  wünschte,  dass  meine  Kinder  etwas  mehr  von 
ihren  Vorfahren  erführen,  als,  namentlich  in  bürgerlichen 
Kreisen,  üblich  ist. 

Einzelne  Freunde  sahen  diese,  vor  etwa  15  Jaliren  ent- 
standene „Familien  -  Biographie"  und  der  Wunsch  derselben 
bewog  mich  zur  Herausgabe.  Soviel  als  möglich  habe  ich  die 
ursprüngliche  Form  bewahrt,  und  in  diesem  Sinne,  als  Chro- 
nik einer  guten  deutschen  Bürgerfamiiie,  möchte  ich  das  Buch 
betrachtet  und  gelesen  wissen. 

Allerdings  musste  eine  tief  eingreifende  Umarbeitung  vor- 
genommen werden.  Nicht  dass  irgend  etwas  zu  verheimlichen 
gewesen  wäre:  was  ich  fortgelassen  habe,  war  entweder  für 
das  grössere  Publikum  nicht  interessant  genug,  oder  so  Intimes 
und  Heiliges  (wie  z.  B.   die  Brautbriefe  meiner  Mutter,  von 


VI 

denen  an  der  betreffenden  SteUe  die  Rede  sein  wird),  dass  ich 
es  nicht  veröffentlichen  woUte  und  durfte.  Dagegen  habe  ich 
in  den  Tausenden  von  Briefen,  die  mir  vorlagen,  nicht  die 
kleinste  Stelle  gefunden,  von  der  man  hätte  sagen  müssen,  sie 
könne  Anstoss  erregen.  Vor  allen  Felix  Mendelssohn:  wo  Zu- 
stimmung, lobendes  Urtheü  ihm  nicht  möglich  war,  da  schwieg 
er  lieber  als  dass  er  getadelt  hätte ;  aber  wie  gern,  wie  rück- 
haltlos lobend  bewunderte  er,  wie  freute  er  sich,  wenn  unter 
den  Mitlebenden  und  Jüngeren  sich  ein  Talent,  eine  ihm  sym- 
pathische Natur  zeigte. 

Von  der  ursprünglichen  Form  ist  etwas  übrig  geblieben, 
wofür  ich  vielleicht  Nachsicht  in  Anspruch  nehmen  muss:  die 
Benennungen  „Vater"  und  „Mutter",  „Grossvater"  und  „Gross- 
mntter",  die  ich  mich  nicht  entschliessen  konnte,  mit  den 
Namen  der  mir  so  nahe  Verwandten  zu  vertauschen;  es  wäre 
mir  unnatürlich  vorgekommen,  z.  B.  meine  Mutter  im  Laufe 
der  Erzählung  „Fanny"  zu  benennen.  Dagegen  habe  ich  in 
den  Briefüberschriften  diese  Eigennamen  stets  gebraucht. 

Da  von  den  Briefen  Felix  Mendelssohns  vieles  schon  ver- 
öffentlicht ist,  so  ist  es  natürlich,  dass  dessen  Eltern  und  Ge- 
schwister mit  ihren  Briefen  mehi'  in  den  Vordergrund  treten. 
Indessen  blieb  mir  selbst  aus  den  Felix'schen  Briefen,  nament- 
lich aus  der  Zeit  vor  1830,  noch  eine  reiche  Nachlese  übrig, 
und  gewiss  wird  für  das  Verständniss  seiner  Entwickelung  die 
Kenntniss  des  Bodens  und  der  Umgebungen,  in  denen  er  lebte, 
von  Wichtigkeit  erscheinen. 

Als  Quellen  standen  mir  hauptsächlich  ein  sehr  reiches 
Briefmaterial  und  die  Tagebücher  meiner  Mutter  zu  Gebote; 
für  die  letzten  Jahrzehnte  auch  viele  mündliche  Ueberlieferungen 
und  Selbsterlebtes.    Es  war  stellenweise  unvermeidlich,  bereits 


Vli 

Gedi'ucktes  noch  einmal  aufzunehmen,  der  Zusammenhang  litt 
eine  strenge  Ausscheidung  solchen  Materials,  namentlich  in 
Bezug  auf  die  FeUx'schen  Briefe ,  nicht.  Eine  reiche  Samm- 
lung von  Familienbriefen  an  Felix,  welche  eine  Fülle  schöner 
und  interessanter  Mittheilungen  enthält  und  zur  Ahrundung 
des  Bildes  mir  sehr  erwünscht  gewesen  wäre,  war  mir  leider 
nicht  gestattet  zu  verwerthen ;  es  ist  so  eine  beklagenswerthe 
Lücke  entstanden. 

Die  beigegebenen  Portraits  sind  sämmtlich  nach  Zeich- 
nungen meines  Vaters  auf  phototypischem  Wege  vortrefflich 
vervielfältigt.*)  Von  den  anderen  Familienmitgliedern  besitze 
ich  keine,  oder  wenigstens  nicht  vollkommen  ähnliche  Zeich- 
nungen von  der  Hand  meines  Vaters. 

Meine  Mittheilungen  schliessen  mit  dem  Jahre  1847  ab, 
in  welchem  Felix  und  seine  älteste  Schwester  Fanny,  meine 
Mutter,  aus  dem  Leben  schieden.  Sie  waren  die  für  das 
grössere  Publikum  interessantesten  des  ganzen  Kreises,  sie  waren 
aber  auch  der  zusammenhaltende  Mittelpunkt  der  Familie,  die 
sich  seitdem  weit  zerstreut  hat."  — 


Schneller  als  es  liegend  einer  der  Betheiligten  erwarten 
konnte,  ist  eine  neue  Auflage  nöthig  geworden.  Es  stand  bei 
mir  von  Anfang  an  fest,  dass  dieselbe  eine  in  manchen  Punkten 
veränderte  sein  müsste.  Die  wenigen  Ausstellungen,  welche  di(- 
Kritik  gemacht  hat,  hatte  ich  mir  schon  selbst,  schon  während 
des  Druckes  gemacht. 

Die  Indemnität,  die  ich  mir  für  die  Familienbezeichnungeii 
meiner  Eltern  und  Grosseltern  erbeten  hatte,  ist  mir  nicht  zu 


*)  Durch  das  Berliner  phototypische  Institut  von  R.  Prager. 


VIII 

Theil  geworden,  —  und  mit  Recht.  Es  ist  ein  eigenes  Ding 
am  das  gedruckte  Wort :  sobald  ich  die  Briefe,  welche  ich  bis 
dahin  nui'  in  den  wohlbekannten  Handschriften  gelesen  hatte, 
in  Drucktypen  vor  mir  sah,  stand  ich  denselben  viel  objektiver, 
gewissermassen  selbst  als  Publikum  gegenüber  und  empfand 
sofort  die  UnStatthaftigkeit,  den  Leser  beständig  an  meinen 
Verwandtschaftsgrad  mit  den  Personen  des  Buchs  zu  erinnern. 

Und  noch  ein  zweites:  ich  glaubte  zwar  schon  ziemlich 
streng  in  der  Kritik  des  Aufzunehmenden  und  Wegzulassenden 
gewesen  zu  sein;  indess  auch  hierin  merkte  ich  bald,  dass  noch 
mehr  geschehn  müsse,  dass  manches  intime  Geplauder  zwar  Reiz 
für  den  Nächststehenden,  aber  nicht  für  die  Leserwelt  haben 
könne,  und  dass  namentlich  in  den  beiden  schnell  aufeinanderfol- 
genden italienischen  Reisen  des  Guten  etwas  zu  viel  gethan  sei. 

So  waren  denn  die  beiden  Hauptarbeiten  zur  zweiten  Auf- 
lage: strengste  Aussonderung  alles  dessen,  was  füglich  ent- 
behrt werden  konnte,  ohne  charakteristische  Züge  zu  opfern 
und  alles  dessen,  was  sich  auf  meine  Stellung  zu  den  handeln- 
den Personen  bezog. 

Auch  die  schon  veröffentlichten  und  von  mir  wieder  aufzu- 
nehmenden Briefe  von  Felix  wurden  einer  noch  strengeren 
Sichtung  unterworfen.  Dagegen  war  ich  in  der  Lage,  ausser 
kleineren  Vermehrungen,  eine  Reihe  schöner  Briefe  von  Abraham 
und  Lea  Mendelssohn  neu  hinzufügen  zu  können. 

Endlich  empfand  man  es  von  vielen  Seiten  als  einen  Man- 
gel, dass  das  Buch  mit  dem  Jahre  1847  kurz  abschloss.  Es 
wurde  mir  der  Wunsch  ausgesprochen,  wenigstens  andeutend 
die  weiteren  Schicksale  der  anderen  Hauptpersonen  zu  erwäh- 
nen. Diese  Aufgabe  war  nicht  leicht,  ich  habe  versucht,  ihr 
am  Schluss  zu  genügen. 


IX 

Allen  denen,  die  sich  freundlichst  um  die  Abstellung  der 
in  der  ersten  Aiiflag-e  vorhanden  gewesenen  Mängel  bemülit 
haben,  vor  Allen  Herrn  Walter  Robert  -  Tornow ,  der  die  nie 
müde  werdende  Sorgfalt,  welche  er  schon  von  Anfang  an  dem  Buche 
gewidmet  hat,  auch  jetzt  bewährt  und  mii-  mit  Rath  und  That 
beigestanden  hat,  sage  ich  meinen  allerherzlichsten  Dank. 

Die  gute  Aufnahme,  welche  ich  dem  Buch  bei  seinem  ersten 
Erscheinen  gewünscht  hatte,  ist  demselben  im  reichsten  Masse 
geworden.  Möge  es  sich  auch  in  seiner  veränderten,  wie  ich 
hoffe,  wesentlich  verbesserten  Gestalt  neue  Freunde  erwerben. 

Berlin,  den  24.  Mai  1880. 

S.  Hensei. 


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I.  TJHBIL. 

1729—1835. 


Wohl  dem,  der  seiner  Väter  gern  gedenkt, 
Der  froh  von  ihren  Thaten,  ihrer  Grösse 
Den  Hörer  unterhält,  und  still  sich  freuend 
An's  Ende  dieser  schönen  Reihe  sich 
Geschlossen  sieht. 

CGöthe,  „Iphigenie".) 


Inlialt. 


Seit« 

Moses  Meudelssohu 1 

Joseph  und  Nathan  Mendelssohn 36 

Die  Töchter  Moses  Mendelssohns 42 

Abraham  Mendelssohn-Bartholdy 72 

Wilhelm  Hensel 111 

Die  Schweizer  Reise 124 

Leipzigerstrasse  No.  3 135 

Felix  in  England  1829 200 

1830—1834 272 

Gustav  Peter  Lejeune  Dirichlet 349 

Das  Jahr  1835 358 


Moses  Mendelssohn. 


Wenn  wir  einen  Blick  in  die  Jugendgescliichte  grosser 
Männer  thun,  so  wird  es  uns  in  der  Eegel  nicht  schwer,  die 
günstigen  Momente,  denen  sie  ihr  Gedeihen  verdankten,  heraus- 
zufinden. Bald  kennen  wir  ihre  Eltern  selbst  als  bedeutende 
Naturen,  bald  sind  es  einzelne  Lehrer,  die  den  Funken,  der 
in  der  Kindesseele  schlief,  anfachten ;  fast  immer  aber  wurzeln 
sie  wenigstens  in  dem  fruchtbaren  Boden  einer  gebildeten  und 
mit  reichen  Bildungsmitteln  ausgestatteten  Gesellschaft.  Nicht 
so  Moses  Mendelssohn;  schwer  erklärbar  aus  den  Vorbedin- 
gungen, in  denen  er  aufgewachsen,  erfüllte  er  eine  gewaltige 
Aufgabe  unter  den  denkbar  ungünstigsten  Umständen. 

In  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  befanden  sich  die 
Juden  in  Deutschland  in  der  gedrücktesten  Lage:  durften  sie 
auch  nicht  mehr  in  majorem  dei  gloriam  gemartert  und  ge- 
plündert werden,  so  wurden  sie  dagegen  „von  Staats-  und 
Rechtswegen "  allen  nui*  erdenklichen  Beschränkungen  unter- 
worfen; fast  jeder  Lebensberuf  war  ihnen  abgeschnitten;  in 
vielen  Städten  dui-ften  Juden  garnicht,  in  andern  nur  in  gewisser 
Anzahl  wobjien;  die  Judenviertel  sind  noch  heut  nicht  überall 
überwundene  Standpunkte !  —  Hier  war  ihnen  das  Wohnen  in 
Eckhäusern  verboten,  dort  wurde  ihnen  nur  eine  bestimmte 
Anzahl  Heirathen  erlaubt,  überall  aber  belastete  man  sie  ausser 
den  allgemeinen  Staatssteuern  noch  mit  den  verschiedenartigsten 
Abgaben,    theilweise   ausgesucht  beleidigender  Art.     So  z.  B. 

Die  FamiKe  Mendelssohn.   I.  1 


2  Moses  Mendelssohn. 

wurde  unter  Friedrich  Wilhelm  I.  die  Berliner  Judenschaft 
genöthigt,  die  auf  den  grossen  Hofjagden  erlegten  Wildschweine 
zu  kaufen*),  und  unter  Friedrich  dem  Grossen  musste  jeder 
Jude  bei  seiner  Verheirathung  für  eine  bestimmte  Summe  Por- 
zellan aus  der  neugegründeten  K.  Porzellanmanufaktur  in  Berlin 
entnehmen,  und  zwar  nicht  nach  eigener  Wahl,  sondern  nach 
dem  Belieben  der  Manufaktur,  die  sich  auf  diese  Weise  natür- 
lich ihre  Ladenhüter  vom  Halse  schaffte.  So  bekam  Moses 
Mendelssohn,  der  damals  schon  allgemein  bekannte  und  ge- 
achtete Mann,  20  lebensgrosse,  massiv  porzellanene  Affen,  von 
denen  sich  noch  einige  in  der  Familie  erhalten  haben. 

Als  fast  einzigen  Nahrungszweig  besassen  die  Juden  den 
Kleinhandel,  und  auch  diesen  nur  mit  Ausnahmen.  So  durften 
sie  nicht  mit  Materialwaaren  handeln,  weil  dies  ein  zünftiges 
Gewerbe  war;  es  blieb  der  Handel  mit  alten  Kleidern,  mit 
Schnittwaaren  und  mit  Geld,  d.  h.  der  sogenannte  Wucher. 

Unter  so  ungünstigen  Verhältnissen  blieb  die  jüdische 
Nation  ungebrochen,  keine  Verfolgung  vermochte  ihre  Anhäng- 
lichkeit an  die  Religion  und  die  Sitten  ihrer  Väter  zu  erschüttern; 
auf  der  einen  Seite  stand  alles,  was  den  Menschen  locken  kann: 
Aufnahme  in  die  Gesellschaft,  Theilnahme  am  Staat,  Einfluss,  — 
auf  der  andern  nur  die  Aussicht,  ein  geplagtes  und  verachtetes 
Dasein  auch  ferner  zu  führen,  und  die  Kinder  bis  ans  Ende 
der  Welt  führen  zu  sehn;  aber  jenes  musste  erkauft  werden 
mit  einer  Verleugnung  der  innersten  üeberzeugung,  —  und 
das  Judenthum  blieb  durch  Jahi^tausende  standhaft.  Die  Zahl 
derjenigen,  die  unüberz  engt  zum  Chiistenthum  übergegangen 
sind,  ist  eine  unendlich  geringe.  — 

Ungebrochen  blieb  die  Nation;  aber  es  wäre  unnatürlich 
gewesen,  wenn  nicht  die  lange  Zurückdrängung  aller  edleren 
Eigenschaften,  die  künstliche  Beschränkung  auf  den  niedrigsten 
und  in  jeder  Beziehung  schmutzigsten  Theil  des  Handels,  die 
Absperrung  von  dem  grossen  Strom  der  Civilisation  Früchte 
hätte  tragen  sollen,  gute  und  böse.  Einzelne  edle  Eigenschaften 
blühten  um   so  reicher  durch   die   gezwungene  Beschränkung 


*)  Streckfuss;  Berlin  seit  500  Jahren. 


AUgememe  Lage  des  Judenthums.  3 

des  Stammes  auf  sich  selbst:  Familienliebe,  die  unbe- 
dingteste Ehrfurcht  der  Kinder  gegen  die  Eltern,  Stammes- 
anhänglichkeit, rege  Betriebsamkeit  auf  den  wenigen  ihnen 
offen  gelassenen  Feldern  menschlicher  Thätigkeit,  grossartige 
Wohlthätigkeit  und  strenge  Religiosität.  Das  waren  die  Licht- 
seiten des  jüdischen  Characters,  wie  er  sich  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte entwickelt  hatte.  Aber  ihnen  standen  tiefe  Schatten 
gegenüber:  die  Nation  verknöcherte,  sie  verlor  jeden  weiteren 
Blick,  aller  Fortschiitt  stockte ;  sie  hatte  ihre  besondere  Sprache, 
ein  krasses  Gemisch  von  Hebräisch  und  Deutsch,  ihre  besondere 
Art,  Haar,  Bart  und  Kleidung  zu  tragen ;  das  einzige  Studium, 
ausser  der  Medicin,  war  das  ihTcr  religiösen  Bücher,  Und  wie 
es  immer  geschieht,  wenn  sich  die  Religion  der  Verbindung 
mit  dem  übrigen  geistigen  Leben  entzieht,  so  auch  hier:  sie 
wurde  starr,  jede  Frische  entwich  ihren  Formen,  die  dogma- 
tischen Spitzfindigkeiten  "ond  Haarspaltereien  wurden  immer 
mehr  ausgesponnen,  und  wer  hierin  Meister  war,  galt  für 
fromm.  Ihre  Schriftsprache  war  das  Hebräische.  Dieses  liegt 
aber  in  seinen  Wurzeln  und  seinem  ganzen  Charakter  der 
modernen  Entwickelung  ferner  als  irgend  eine  andere  alte 
Litteratursprache ,  und  so  war  das  einzige  Studium  der  da- 
maligen Juden  auch  noch  dazu  angethan,  sie  der  modernen 
Bildung  immer  mehr  zu  entfremden.  Dazu  kam  die  Persön- 
lichkeit der  Lehrer:  es  waren  fast  durchgängig  polnische 
Juden,  weil  man  sie  für  schriftgelehrter  als  die  deutschen 
hielt.  Natürlich  standen  diese  den  deutschen  Christen  noch 
femer  als  ihre  deutschen  Glaubensgenossen,  und  erweiterten 
die  schon  bestehende  Kluft  immer  mehr.  Eine  Priesterkaste 
neigt  immer  zur  Intoleranz,  wenn  sie  sich  auch  aus  dem 
edelsten,  gebildetsten  Theil  einer  Nation  rekrutirt,  wieviel  mehr 
hier,  wo  sie  aus  Mitgliedern  eines  fremden,  unwissenden  und 
kulturlosen  Volks  bestand.  Verfolgung  der  Aufgeklärteren, 
Verbot  jeder  Spur  von  Bildung,  beharrliches  Zurückhalten  auf 
»dem  einmal  eingenommenen  Standpunkt  war  die  Lebensaufgabe, 
die  sich  diese  polnischen  Rabbiner  gestellt  hatten.  Sie  ahnten, 
dass  bei  allgemeiner  Bildmig  es  um  ilire  Herrschaft  geschehen 
sein  würde,  und  so  stempelten  sie  jede  Abweichimg   von  der 

1* 


4  Moses  Mendelssohn. 

gewohnten  Sitte  oder  Unsitte  zum  Sacrilegium:  richtig  Deutsch 
sprechen,  Lesen  eines  deutschen  Buches  war  Ketzerei. 

So    lagen  die    Verhältnisse,    als   Moses  Mendelssohn  am 
6.  September  1729  geboren  wurde.    Sein  Vater  Mendel  Dessau 
war  bei  der  jüdischen  Gemeinde  in  Dessau  als  Schreiber  und 
Lehrer  an  der  Primärschule  angestellt,  d.  h.  er  war  ein  armer, 
in  untergeordneter   Stellung   lebender  Jude   in    einer   kleinen 
Stadt  eines  mitteldeutschen  Kleinstaats.     Es    ging  sehr  küm- 
merlich im  Hause  zu ;  aber  der  alte  Mendel  gehörte  wenigstens, 
soweit  es   im  damaligen  Juden thum  möglich  war,  zu  den  Ge- 
bildeten und  hielt  den  Sohn  mit  eiserner  Strenge  zum  Lernen 
an.     Kaum  fünf  Jahr  alt,    war  er  dem  Unterricht  des  Vaters 
schon  entwachsen,  und  dieser  übergab  ihn  einer  Art  höherer 
Lehranstalt.    Hierhin  trug  er  im  harten  Winter,  Morgens  schon 
vor  Tagesanbruch,    den  kleinen  Jungen,    den  vor  der  bitteren 
Kälte  nur  ein  alter,  abgeschabter  Mantel  schützte.     Sein  dor- 
tiger Lehrer,  Eabbi  Fränkel,    war  für  damalige  Begriffe  ein 
gelehrter,    vorurtheilsfreier   Jude;    der   Kleine   hing   mit    ab- 
göttischer Liebe  an  ihm,  er  war  sein  eifrigster  Schüler.    Bald 
aber  erhielt  Fränkel  einen  Ruf  als  Ober-Rabbiner  nach  Berlin 
—  und  der  kritische  Wendepunkt  im  Leben  Moses'  trat  ein. 
Die  Mittel   des   Vaters    schienen    ein   weiteres  Studiren  nicht 
gestatten    zu    wollen,    und    Mendelssohn    sollte    Handelsjude 
werden,   mit  dem  Pack    auf   dem  Rücken  die  Dörfer  durch- 
wandern  und    sich   sein  Brod  verdienen.     Indess    zum  Glück 
schreckten  die  fast  unüberwindlichen  Schwierigkeiten,   die  auf 
dem  Wege  zu  den  Wissenschaften  lagen,  die  drohenden  Jahre 
des  Mangels,  der  Gedanke,  in  eine  wildfremde,  feindliche  Um- 
gebung gestossen  zu  werden,    den  Knaben  nicht  ab,  und  mit 
14  Jahren  wanderte  der  kleine,  missgestaltete  und  schüchterne 
Mensch  allein  und  mittellos  nach  Berlin,  zum  Rosenthaler  Thor 
ein,  dem  einzigen,  durch  das  damals  fremde  Juden  einpassiren 
durften,  um  wieder  in  der  Nähe  seines  geliebten  Lehrers  Rabbi 
Fränkel  zu  weilen;  denn  dieser,  das  fühlte  er  dunkel,  konnte- 
ihm  den  Weg  zu  höherer  Bildung  zeigen. 

Jahre  des  bittersten  Elends  folgten ;  seine  Ai-muth  war  so 
gross,  dass  er  an  dem  Brode,  welches  er  sich  wöchentlich  als 


Jugend.    Uebersiedelung  nach  Berlin.  5 

Nahrung:  kaufte,  mit  Strichen  die  täglichen  Rationen  bezeiclinete; 
weiter  durfte  er  nicht  essen,  sonst  hatte  er  am  Ende  der  Woche 
garnichts!  —  Er  bewohnte  ein  Daclikämmerchen  und  hatte 
einige  Freitische  im  Hause  des  Heimann  Bamberger,  an 
Sabbathen  und  Festtagen  ass  er  bei  Rabbi  Fränkel,  der  ihm 
auch  wöchentlich  einige  Groschen  durch  Abschreiben  zu  ver- 
dienen gab ;  wenige  Zeit  blieb  für  eigene  Arbeiten,  den  Meisten 
wäre  noch  weniger  Lust  geblieben.  Das  waren  die  materiellen 
Hindernisse;  aber  viel  grössere,  unübersteiglichere  thürmten 
sich  in  anderer  Art  ihm  entgegen:  die  Cliristen  betrachteten 
damaliger  Zeit  die  Juden  ebensowenig  als  gleich  hoch  organisirte 
bildungsfähige  Menschen,  me  dies  noch  heutigen  Tages  in 
Amerika  mit  den  Negern  geschieht.  Ein  Umgang  von  Juden 
mit  Christen,  ein  geselliger  Verkehr  war  etwas  Unerhörtes. 
So  blieben  alle  christlichen  Bildungsquellen  den  Juden  voll- 
ständig verschlossen,  und  selbst  wenn  die  Chi^isten  nicht  den 
Juden  deren  Gebrauch  unmöglich  gemacht  hätten,  so  würde 
dafür  schon  die  Intoleranz  der  jüdischen  Gemeindevorsteher 
und  Rabbiner  gesorgt  haben.  Jüdische  Bildungsquellen  aber 
gab  es  ausser  dem  Umgang  mit  den  wenigen  gebildeteren 
Glaubensgenossen,  den  auch  Mendelssohn  eifrig  kultivirte, 
garnicht.  Er  musste  also  vollständig  Autodidakt  werden,  ohne 
jede  systematische  Anleitung  von  Anderen;  ja,  er  musste  seine 
Studien  vor  den  Juden  sorgfältig  verheimlichen,  um  nicht  seine 
Ausweisung  aus  Berlin  zu  gewärtigen.  Selbst  noch  lange 
nachher  verketzerten  sie  den  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes 
stehenden,  reifen  Mann;  Lessing  schreibt  in  dieser  Beziehung 
von  ihm:  „Ich  sehe  ihn  im  Voraus  als  die  Ehi^e  seiner  Nation 
an,  wenn  ihn  anders  seine  eigenen  Glaubensgenossen  zur  Reife 
kommen  lassen,  die  allezeit  ein  unglücklicher  Verfolgungsgeist 
gegen  Leute  seines  Gleichen  getrieben  hat."  Mt  einem  Wort, 
er  hatte  Alles,  was  in  der  ganzen  Welt  an  Bornirtheit,  Sek- 
tirerei  und  Glaubenshass  sowohl  bei  Christen  als  bei  Juden 
lebte,  gegen  sich. 

Anfänglich  lag  Mendelssohn  nichts  am  Herzen,  als  sich 
selbst  Bildung  zu  erwerben;  aber  eine  grosse,  reformatorische 
Mission  war  ihm  vorbehalten  und  sollte  bald  an  ilin  herantreten. 


6  Moses  Mendelssohn. 

Aehnlicli  wie  der  erste  Moses  fand  er  ein  entartetes,  ver- 
wahrlostes und  geknechtetes  Volk,  freilich  in  einer  anderen 
Zeit  und  unter  wesentlich  anderen  Bedingungen.  Sein  klarer 
Blick  sagte  ihm,  dass  demzufolge  auch  andere  Mittel  ange- 
wendet werden  müssten.  Damals  war  die  ganze  Nation  in 
dem  kleinen  Nildelta  Egyptens  koncentrirt  gewesen,  die  Lebens- 
und Besitzverhältnisse  waren  einfachere,  das  Nomadenleben, 
das  Umherziehen  ganzer  Völker  gewöhnlich.  So  konnte  Moses 
sein  Volk  fortführen  aus  Egypten  nach  Palästina  und  es  durch 
eine  neue  Gesetzgebung  verjüngen.  Jetzt  waren  die  Juden  in 
der  ganzen  Welt  zerstreut,  innig  verwachsen  in  ihrem  Verkehr 
mit  den  fest  angesiedelten  Nationen ;  es  war  nicht  mehr  thun- 
lich,  eine  Massenauswanderung  zu  organisiren,  und  es  verdient 
gelesen  zu  werden,  mit  welcher  Entschiedenheit  Mendelssohn 
einen  solchen  ihm  von  einem  „Mann  von  Stande"  vorgelegten 
Plan  zur  Gründung  eines  jüdischen  Eeiches  in  Palästina  als 
unpraktisch  zurückwies,  obgleich  es  zu  seinen  Glaubensartikeln 
gehörte,  dass  die  Juden  nicht  immer  zerstreut  leben,  sondern 
„dereinst"  vom  Messias  wieder  zu  einer  freien  Nation  im  Lande 
ihrer  Väter  gemacht  werden  würden.  Er  wusste  eben,  dass 
dieses  „dereinst"  noch  nicht  an  der  Zeit  war.  Ebenso  fand 
Mendelssohn  keinen  Grund,  an  der  Mosaischen  Gesetzgebung 
zu  rütteln,  sie  hatte  sich  bewährt,  und  er  hielt  sie  noch  für 
zeitgemäss  genug,  um  beibehalten  zu  werden.  Die  Juden 
mussten  also  Juden  bleiben  und  mussten  im  Lande  bleiben; 
und  doch  fand  Mendelssohn  ein  Palästina,  in  das  er  sie  ein- 
führte: die  gebildete  Gesellschaft.  Er  stellte  zuerst  in  sich 
das  Musterbild  eines  gebildeten  Juden  auf ;  er  machte  dies  den 
Christen  anziehend  genug,  um  ihm  alle  Kreise  zu  eröffnen,* 
er  befähigte  dann  die  Juden  zur  Nachfolge,  zum  Eindringen 
in  die  gemachte  Bresche;  und  wie  Moses  ging  es  auch  diesem 
Reformator:  er  sah  den  Einzug  seines  Volkes  in  das  Land, 
wohin  er  es  führte,  nicht  vollendet ;  noch  heut  dauert  derselbe 
fort,  immer  mehr  erringen  sich  die  Juden  eine  geachtete  Stelle 
in  der  Gesellschaft,  den  Künsten  und  Wissenschaften,  und  es 
ist  nicht  zuviel  gesagt,  wenn  man  behauptet,  dass  jeder  deutsche 


Lernt  Deutsch.    Wird  Hauslehrer.  7 

Jude,  der  sich  irgendwo  jetzt  auszeichnet,  dies  mittelbar  und 
oft  unmittelbar  Moses  Mendelssohn  verdankt. 

Um  1744  that  er  den  ersten,  wichtigen  Schritt  auf  der 
Bahn  der  Bildung—  er  lernte  Deutsch;  dies  war  mit  den  grössten 
Gefahren  verknüpft  und  musste  ganz  geheim  geschehen.  Ein 
Glaubensgenosse,  den  Mendelssohn  unterrichtete,  wurde  ertappt, 
als  er  für  ihn  ein  deutsches  Buch  holte,  und  sofort  von  dem 
jüdischen  Gemeindevorsteher  aus  Berlin  verwiesen.  Keine  Vor- 
stellung fruchtete,  aber  Mendelssohn  verschaffte  ihm  später  eine 
Stelle  in  Halberstadt.  Verbindungen  mit  einigen  gebildeten 
jüdischen  Aerzten  halfen  Mendelssohn  weiter;  Dr.  Kisch  z.  B. 
gab  ihm  etwa  ein  halbes  Jahr  lang  täglich  eine  Viertelstunde 
lateinischen  Unterricht;  aber  das  Meiste  verdankte  er  dem 
eigenen  eisernen  Willen  und  Fleiss.  „Ich  bin  nie  auf  einer 
Universität  gewesen,"  schreibt  er  einmal,  „habe  auch  in  meinem 
Leben  kein  Kollegium  gehört;  dieses  war  eine  der  grössten 
Schwierigkeiten,  die  ich  übernommen  hatte,  indem  ich  alles 
durch  Anstrengung  und  eigenen  Fleiss  erzwingen  musste."  — 

Dies  Leben  währte  bis  zum  Jahre  1750,  wo  er  als  Haus- 
lehrer zum  Seidenwaarenfabrikanten  Bernhard  kam  —  die 
schwerste  Zeit  der  Prüfung  war  vorüber,  er  hatte  jetzt 
wenigstens  nicht  mehr  mit  Nahrungssorgen  zu  kämpfen,  stand 
unter  dem  Schutz  eines  reichen,  in  der  Gemeinde  angesehenen 
Berliner  Juden  und  konnte  ungestörter  den  Studien  obliegen. 
Mit  wahrem  Heisshunger  verschlang  er  Alles,  beschäftigte  er 
sich  mit  Allem,  was  ihm  vorkam.  Alte  und  neue  Sprachen, 
Mathematik,  namentlich  aber  alles,  was  mit  Philosophie  zu- 
sammenhing, bemeisterte  er  in  wunderbar  kurzer  Zeit.  Aus 
seiner  sich  ganz  selbst  überlassenen  Art  zu  arbeiten  ergaben 
sich  aber  auch  grosse  Lücken  seiner  Kenntnisse.  Er  beschäftigte 
sich  immer  allein  mit  dem,  was  ihm  gerade  zusagte,  oder  wozu 
ihm  durch  gelegentliche  Bekanntschaften  Anlass  wurde.  So 
beklagte  er  selbst  später  schmerzlich  seine  sehr  unbedeutende 
Kenntniss  der  Geschichte.  „Was  weiss  ich  von  Geschichte?" 
schreibt  er  1765  an  Abbt,  „was  nur  den  Namen  von  Geschichte 
hat,  Naturgeschichte,  Erdgeschichte,  Staatsgeschichte,  gelehrte 
Geschichte  hat  mir  niemals  in  den  Kopf  kommen  woUen,  und 


8  Moses  Mendelssohn. 

ich  gähne  allezeit,  wenn  icli  etwas  Historisches  lesen  muss,  e«3 
müsste  mich  denn  die  Sclireibart  aufmuntern:    ich  glaube,  die 
Geschichte  ist  eine  der  Studien,  die  nicht  ohne  Unterricht  er- 
lernt werden  kann."   Und  an  einer  anderen  Stelle:  „Sagen  Sie 
mir  doch,  liebster  Freund!  wie  fange  ich  es  an,  wenn  ich  mir 
von    der    Geschichte    der    alten     und    neueren    Zeiten    nur 
einigen  Begriff  machen  will?    Ich  habe  bisher  die  Gescliichte 
mehr   füi'  die   Wissenschaft    des  Bürgers   f Citoyen J  als  des 
Menschen  gehalten,  und  geglaubt,  ein  Mensch,  der  kein  Vater- 
land hat,   könne  sich  von  der  Geschichte   keinen  Nutzen  ver- 
sprechen.   Ich  merke  aber,  dass  die  Geschichte  der  bürgerlichen 
Verfassung  mit  der  Geschichte  der  Menschheit  ineinander  fliesst, 
und  dass  es  unanständig  ist,  ia  jener  ganz  unwissend  zu  sein. 
Aber  wo  fange  ich  an?     Gehe  ich  zur  Quelle,  oder  begnüge 
ich  mich  an  den   allgemeinen  "Welthistorien,    die   seit  einiger 
Zeit  so  sehr  im  Schwange  sind?    Und  zu  welcher  rathen  Sie 
mir?    Vergessen  Sie  nicht,  mir  auf  diesen  Punkt  zu  antworten." 
—  Freüich  war  die  Kost,  welche  damals  in  den  „allgemeinen 
Welthistorien"  geboten  wurde,  nicht  sehr  schmackhaft  für  einen 
solchen  Geist,  und  man  kann  ihm  das  „Gähnen"  nicht  verdenken. 
Aber  der  Hauptgrund,  warum  Mendelssohn  seine  Studien 
auf  andere  Gebiete  richtete,    war  folgender:    Die  Geschichte 
war  ihm  „die  Wissenschaft  des  Bürgers"  und   der  Jude  des 
18.  Jahrhunderts  war  kein  Bürger.    Jede  Seite  der  Geschichte 
hielt  ihm  die  Unterdrückung  seüier  Nation  vor,  nirgends  zeigte 
sich  in  jener  Zeit  ein  Lichtblick,    eine  Anbahnung  besserer 
Zustände.     Nur  auf  dem  Gebiete  des  Gedankens,  im  Eeich  der 
Philosophie ,   im  Idealismus  war  für  ihn  zu  wirken.    Hierhin 
zog  ihn  ausserdem  der  angeborene  Scharfsinn  der  Juden,  die 
Liebe    zu   den   oft    abstrusen   talmudischen  Spekulationen,    in 
denen  Mendelssohn  in  der  Dessauer  und  ersten  Berliner  Zeit 
sich  geübt  hatte.     Eme   gefähi^liche  Klippe  war   hier  zu  ver- 
meiden:   dem  schaalsten  Kosmopolitismus  konnte  Mendelssohn 
verfallen;  als  Bürger  fühlte  er  sich  nicht,  im  Staat  war  keine 
Wirksamkeit    für  ihn,   jüdische  Anknüpfungspunkte    dagegen 
waren  in  allen  Staaten  der  Welt  vorhanden;  was  wäre  natür- 
licher  gewesen,  als  ein  Ueberspringen  aller    staatlichen   und 


Bildungsgang.    Litteraturbriefe.  9 

nationalen  Scliranken,  ein  Aufgehn  in  einem  luftigen,  jeder  realen 
Basis  entbehrenden  Weltbürgerthum:  wie  viele  ideal  angelegte 
Natui'en  sind  vor  und  nach  ihm  hieran  zu  Grunde  gegangen! 
—  Zwischen  diesem  Extrem  und  dem  andern,  gleich  gefährlichen, 
eines  gänzlichen  Ignorirens  aller  höheren,  idealen  Zwecke,  eines 
Verspinnens  in  die  gewöhnlichste  Alltäglichkeit,  eines  Herab- 
sinkens zum  blossen  Gemeinde-Indi\aduum  hat  sich  Mendelssohn's 
taktvolle,  harmonische  Natur  einen  ebenso  glücklichen,  als 
grossartigen  Standpunkt  gewählt,  einen  Standpunkt,  der  weit 
über  die  Anschauungen  seiner  Zeit  hinaus  war,  den  deutschen. 
Unbeirrt  durch  das  glänzende,  aber  hohle  Phantom  des  Kos- 
mopolitismus ,  nicht  bestochen  durch  die  konkrete  Kraft  des 
jungen,  damals  das  abgestorbene  Deutschland  in  Stücke  schlagen- 
den Preussen,  ging  er  bis  zur  äussersten,  mit  praktischer  Wirk- 
samkeit zu  vereinbarenden  Grenze  vor,  zum  Deutschthum;  er 
stellte  sich  als  deutscher  Jude  öffentlich  hin,  somit  als 
Vorbild  dessen,  was  seine  Glaubensgenossen  zu  erstreben  hätten. 
Als  Deutschen  durch  Arbeiten  an  der  „Bibliothek  der  schönen 
Wissenschaften  und  der  freien  Künste"  und  namentlich  an  den 
„Litteraturbriefen",  als  Jude  durch  den  berühmten  „Lavater- 
streit". 

Die  Litteraturbriefe  wurden  angeregt  durch  Nikolai;  die 
Seele  derselben  aber  waren  Lessing  und  Mendelssohn ;  sie  gaben 
ihnen  den  klassischen,  ausgeprägten  Charakter  der  rücksichts- 
losen, nur  die  Sache  im  Auge  behaltenden  Kritik.  Die  damals 
grassirende  Anbetung  und  Nachäfferei  des  Französischen  wurde 
ohne  Schonung  angegriffen  und  die  Grundsteine  einer  d  eut  sehen 
nationalen  Litteratur  gelegt.  Die  Litteraturbriefe  waren  die 
Vorboten  der  hamburgischen  Dramaturgie,  der  Wii'ksamkeit 
Schiller's  und  Goethe's.  Von  der  Unerschrockenheit ,  mit  der 
Mendelssohn  in  den  „Briefen"  auftrat,  giebt  den  besten  Beweis 
die  RecensJon  der  Paedes  diverses  Friedrich's  des  Grossen,  in 
denen  der  kaum  in  Berlin  geduldete  Jude  den  grossen  König 
tadelt,  unter  Aufstellung  des  Grundsatzes,  wer  als  Autor  auf- 
trete, müsse  sich  auch  der  Kritik  unterwerfen.  Er  hält  dem 
König  die  Verachtung  der  deutschen  Sprache  und  den  Gebrauch 
der   französischen    tadelnd   vor.      Diese   Angelegenheit    hätte 


10  Moses  Mendelssohn. 

Mendelssolin  beinahe  empfindliche  Unannehmlichkeiten  bereitet, 
die  aber  an  dem  grossen  Sinn  Friedrich's  scheiterten.  Die 
„ Litter aturbriefe"  machten  verdientes  Aufsehen  und  Mendelssohn 
war  von  da  ab  anerkannter  Verfechter  der  deutsch-nationalen 
litterarischen  Bestrebungen. 

Durch  die  Bekehi^ungswuth  eines  christlichen  Geistlichen 
wurde  ihm  bald  Gelegenheit,  sich  ebenso  entschieden  als  Juden 
aller  Welt  zu  zeigen.  Es  war  Lavater,  der  auf  einer  Reise 
1763  Mendelssohn  flüchtig  hatte  kennen  lernen  und  der,  wie 
Alle,  vom  Zauber  seiner  Persönlichkeit  aufs  Mächtigste  berührt 
worden  war.  In  seinem  berühmten  Werk  der  „Physiognomik'* 
giebt  er  folgende  Schilderung  von  Mendelssohn:  „Vermuthlich 
kennst  Du  diese  Silhouette?  Ich  kann  Dir's  kaum  verhehlen, 
sie  ist  mir  gar  zu  Heb,  gar  zu  sprechend!    Kannst  Du  sagen 

—  kannst  Du  einen  Augenblick  anstehen,  ob  Du  sagen  wolltest: 
„Vielleicht  ein  Dummkopf!  Eine  rohe  geschmacklose  Seele!" 
Der  so  was  sagen  könnte,  ertragen  könnte,  dass  ein  Anderer 
es  sagte,  der  schliesse  mein  Buch  zu,  werfe  es  von  sich  — 
nnd  erlaube  mir,  meinen  Gedanken  zu  verwehren,  dass  ich 
nicht  über  ihn  urtheile!  Ich  weide  mich  an  diesen  Umrissen! 
Mein  Blick  wälzt  sich  von  diesem  herrlichen  Bogen  der  Stilen 
auf  den  scharfen  Ejiochen  des  Auges  herab.  —  In  dieser  Tiefe 
des  Auges  sitzt  eine  sokratische  Seele!  Die  Bestimmtheit  der 
Nase,  der  herrUche  Uebergang  von  der  Nase  zur  Oberlippe  — 
die  Höhe  beider  Lippen,  ohne  dass  eine  über  die  andere  hervor- 
ragt! 0  wie  alles  dies  zusammenstimmt,  um  die  göttliche  Wahr- 
heit der  Physiognomik  fühlbar  und  anschaulich  zu  machen."  — 

Die  „göttUche  Wahrheit  der  Physiognomik"  hinderte  aber 
ihren  begeisterten  Propheten  nicht,  sich  in  Mendelssohn  ganz 
gründlich  zu  täuschen.  Er  gab  im  Jahre  1769  eine  Ueber- 
setzung  von  Bonnet's  „Beweisen  für  das  Clmstenthum"  heraus, 
eignete  sie  Mendelssohn  zu  und  forderte  ihn  öffentlich  auf,  das 
Buch  zu  widerlegen  oder  —  zum  Clmstenthum  überzutreten. 

—  Die  Lage  Mendelssohn's  war  eine  sehr  üble.  Er  hatte  nicht 
Lessing's  Athletennatur,  dem  ein  solcher  Kampf  mit  einem  ein- 
gebildeten Pfaffen  gerade  recht  gewesen  wäre,  um  ihn  neben 
Götze  an  den  Pranger  zu  stellen,  ihn  vor  den  Augen  der  ganzen 


Lavaterstreit.  11 

Welt  zu  zermalmen.  Mendelssohn  hatte  immer  Streitigkeiten 
religiöser  Art  vermieden,  und  nun  wurde  ihm  eine  solche  öffent- 
lich aufgedrungen,  in  der  er  nicht  schweigen  konnte  und  durfte 
und  wenn  er  sprach,  noth wendig  das  Christenthum  angreifen 
musste.  Welche  unangenehmen,  für  seine  Lage  wirklich  ge- 
fährlichen Streitigkeiten  waren  zu  befürchten,  wenn  er  offen 
sprach.  Wie  durfte  er  aber  anders  als  offen  sprechen,  wenn 
er  nicht  seine  heiligsten  TJeberzeugungen  verläugnen  wollte? 

—  Der  Lavater'sche  Schritt  ist  nur  aus  religiösem  Dünkel  er- 
klärlich: Lavater  liebte  Mendelssohn  wirklich,  er  hatte  die 
grösste  Achtung  vor  ihm,  dem  bedeutenden  Schriftsteller,  dem 
vortrefflichen  Menschen,  glaubte  aber  steif  und  fest,  ein  solcher 
Mann  müsse  ganz  gewiss  schon  heimlich  und  innerlich  Christ, 
wenigstens  den  Heilswahrheiten  der  „allein  selig  machenden 
Eeligion"  zugänglich  sein  und  es  fehle  ihm  nur  eine  passende 
Gelegenheit,  dies  auszusprechen.  Nach  dem  Euhme,  solche 
Gelegenheit  zur  öffentlichen  Erklärung  ihm  gegeben  zu  haben, 
die  Mendelssohn'sche  Bekehrung  sich  zuschreiben  zu  können, 
eine  solche  Seele  dem  Himmel  zugefülirt  zu  haben,    geizte  er 

—  es  kam  anders,  als  es  sich  Lavater  und  die  Lavater'schen 
Christen  gedacht  hatten !  Mendelssohn  antwortete  —  antwortete, 
dass  er  ein  Jude  aus  innerster  üeberzeugung  sei,  dass  die 
Bonnet'schen  Lehrsätze  ihn  durchaus  nicht  irre  gemacht,  ja, 
dass  er  sich  getraue,  mit  solchen  Beweisen  jede  geoffenbarte 
Religion  zu  vertheidigen ;  er  stürmte  nicht  vernichtend,  wie 
Lessing  gethan  haben  würde,  aber  er  liess  so  siegreich,  so 
milde,  so  überzeugend  die  Sonne  seiner  klaren  Vernunft  strahlen, 
dass  seinem  Gegner  der  Mantel  der  christlichen  Liebe  von  den 
Schultern  sank,  —  der  Triumph  der  Mendelssohn'schen  Sache 
war  entschieden.  Lavater  sah  zu  seinem  Schrecken,  welches 
Unrecht  er  begangen,  und  bat  auf  das  Reumüthigste  ab;  die 
Gegner  blieben  fortan  gute  Freunde.  Aber  eine  Anzahl  klein- 
licher Geister,  die  sich  theils  in  der  Erwartung  pikanter  Ent- 
hüllungen gefreut,  theils  auf  die  sichere  Demüthigung  des 
gehassten  Juden  gehofft  hatten,  nahm  jetzt  unberufen  an  dem 
Streit  Theil  und  fiel  über  Mendelssohn  her.  Indessen  sahen 
sie  sich   in   ihren  Hoffnungen    getäuscht:   Mendelssohn   hatte 


12  Moses  Mendelssohn. 

einmal,  dem  einig-ermassen  würdigen  Gegner  gegenüber,  ent- 
scheidend geantwortet;  die  kleinen  Kläffer  liess  er  billig  un- 
beachtet und  schrieb:  „In  dieser  Angelegenheit  mögen  Auf- 
forderungen, Zumuthungen,  Angriffe,  Widerlegungen  heraus- 
kommen, von  wem  man  will,  so  viel  man  will,  so  höflich  oder 
unhöflich  man  will,  ich  werde  nicht  eher  antworten,  als  bis 
ich  glauben  werde,  meine  Zeit  nicht  nützlicher  anwenden  zu 
können."  Und  an  einer  anderen  Stelle:  „Wer  die  Absicht, 
mich  zu  reizen,  so  deutlich  merken  lässt,  der  soll  Mühe  haben, 
sie  zu  erreichen." 

So  peinlich  diese  Angelegenheit  für  ihn  war,  so  erspriesslich 
wurde  sie  für  die  Bildung  des  Judenthums :  noch  nie  war  dessen 
Sache  von  einem  solchen  Vorkämpfer  so  glänzend  verfochten 
worden:  „Mendelssohn  war  von  üeberzeugung  ein  Jude",  das 
stand  jetzt  fest  und  fortan  waren  solche  Zweifel,  wie  sie  Lavater 
gehegt,  unzulässig,  und  die  Christen  mnssten  sich  mit  dem  un- 
bequemen Faktum  eines  so  ausgezeichneten  Juden  wohl  oder 
übel  abfinden.  Wie  Mendelssohn  einmal  in  einem  anderen  Zu- 
sammenhange schreibt:  ,,Trescho,  Ziegra  und  Bahrdt  ärgern 
sich  fast  zu  Tode,  dass  ünchiisten  auch  Vernunft  haben  sollen. 
0  wohl  uns,  dass  der  liebe  Gott  gütiger  ist,  als  Trescho,  Ziegra 
und  Bahi'dt." 

Es  war  mittlerweile  an  Mendelssohn  die  Frage  der  Wahl 
eines  eigentlichen  Lebensberufes  herangetreten.  Eine  Zeit  lang 
schwankte  er,  ob  er  nicht  seine  tiefen  talmudischen  und  sonstigen 
Kenntnisse  in  der  damals  gewöhnlichen  Art  verwenden  und 
Eabbiner  werden  sollte.  Indessen  es  mag  ihn  wohl  die  Er- 
wägung zurückgehalten  haben,  dass  er  in  dieser  Stellung  durch 
manche  Rücksichten  gehindert  werden  möchte,  sich  seinem  refor- 
matorischen Werke  zu  widmen,  dessen  Grundplan  in  jener  Zeit 
schon  vollständig  bei  ihm  feststand.  So  wollte  er  sich  denn 
lieber  hierin  vollkommen  freie  Hand  bewahren  und  trat,  um 
sich  seinen  Lebensunterhalt  zu  erwerben,  bei  demselben  Bern- 
hard, dessen  Kinder  er  erzogen  hatte,  als  Buchhalter  in  der 
Seidenfabrik  ein.  Es  blieb  ihm  dabei  Müsse  zu  seiner  sich 
immer  mehr  und  mehr  ausdehnenden  litterarischeu  Thätigkeit, 
und  doch  war  er  nicht  auf  seine  Feder  zum  Broderwerb  ange- 


Wird  Buchhalter.    Der  Phädou.  13 

wiesen;  seine  Unabliängigkeit,  auf  die  er  schon  von  früh  an 
den  grössten  Werth  gelegt  hatte,  war  gesichert ;  selbst  in  den 
sieben  Leidensjahren  der  ersten  berliner  Zeit  hatte  er  sich  nicht 
entschliessen  können,  Unterstützungen  reicher  Glaubensgenossen 
zu  erbitten:  „Ich  kann  meinen  Anspruch  auf  Unterstützung 
auf  nichts  begründen,  als  etwa  darauf,  dass  ich  gern  etwas 
lernen  möchte,  und  was  geht  das  Andere  an",  sagte  er.  — 
Diese  Stellung  zur  Bernhard'schen  Fabrik  behielt  er  bis  an 
sein  Lebensende  und  benutzte  seine  Müsse  zu  rastloser  littera- 
rischer Thätigkeit. 

Gleich  eins  seiner  ersten  Werke  ist  für  seine  Beziehungen 
zu  den  christlichen  Zeitgenossen  epochemachend:  Der  Phädon. 
Es  ist  theils  eine  Uebersetzung,  theils  eine  moderne  und  dem 
damaligen  Stande  der  Philosophie  angepasste  Bearbeitung  des 
gleichnamigen  platonischen  Gesprächs  und  handelt  von  den  Be- 
weisen für  die  Unsterblichkeit  der  Seele.  Kaum  hat  zu  jener 
Zeit  irgend  ein  Buch  solches  Aufsehen  gemacht:  es  wui'de  in 
fast  alle  lebenden  Sprachen  übersetzt  und  sein  Verfasser  hatte 
sich  mit  diesem  einen  Schriftchen  einen  Platz  unter  den  deut- 
schen Klassikern  erworben.  Eine  gewisse  Verwandtschaft  zwi- 
schen dem  Sokrates,  wie  Mendelssohn  ihn  im  Phädon  darstellt, 
und  ihm  selbst  ist  unverkennbar;  man  lese  z.  B.  folgende  Stelle: 
„Er  hatte  von  der  eiuen  Seite  seine  eigenen  Vorurtheile  der 
Erziehung  zu  besiegen,  die  Unwissenheit  Anderer  zu  beleuchten, 
Sophisterei  zu  bestreiten,  Bosheit,  Neid,  Verläumdung  und  Be- 
schimpfung von  Seiten  seiner  Gegner  auszuhalten,  Armuth  zu 
ertragen,  festgesetzte  Macht  zu  bekämpfen  und,  was  das  Schwerste 
war,  die  finsteren  Schrecknisse  des  Aberglaubens  zu  vereiteln. 
Von  der  anderen  Seite  waren  die  schwachen  Gemüther  seiner 
Mitbürger  zu  schonen,  Aergernisse  zu  vermeiden  und  der  gute 
Einfluss,  den  selbst  die  albernste  Religion  auf  die  Sitten  der 
Einfältigen  hat,  nicht  zu  verscherzen.  Alle  diese  Schwierig- 
keiten überstand  er  mit  der  Weisheit  eines  wahren  Philosophen, 
mit  der  Geduld  eines  Heiligen,  mit  der  uneigennützigen  Tugend 
eines  Menschenfreundes,  mit  der  Entschlossenheit  eines  Helden, 
auf  Unkosten  und  mit  Verlust  aller  weltlichen  Güter  und  Ver- 
gnügungen. —  Diese  höheren  Aussichten  des  Weltbürgers  hielten 


14  Moses  Mendelssohn. 

ihn  indessen  nicht  ab,  auch  die  gemeinen  Pflichten  gegen  sein 
Vaterland  zu  erfüllen  etc.  etc."  —  Wahrlich,  diese  Schilderung 
passt  besser  auf  Moses  Mendelssohn,  als  auf  Sokrates. 

Mendelssohn's  persönliche  Beziehungen  nahmen  jetzt  aus- 
gedehnte Dimensionen  an;  wollten  wir  seine  Freunde  nennen, 
wir  müssten  fast  alle  bedeutenden  Männer  jener  Zeit  aufzählen: 
d'Ai'gens,  Maupertuis,  Nikolai,  Herder,  Kant,  F.  H.  Jakobi,  der 
Herzog  von  Braimschweig,  Campe,  Dalberg,  Hamann,  Michaelis, 
Lavater,  —  das  sind  einige  der  Namen,  die  uns  in  Mendels- 
sohn's Correspondenz  begegnen.  Jeder,  der  mit  ihjn  in  persön- 
liche Berührung  kam,  \\Tirde  duixh  den  Zauber  seines  Wesens 
hingerissen,  so  dass  er  alle  Vorurtheile  vergass,  wenn  sie  auch 
später,  sobald  seine  Gegenwart  nicht  mehr  wii'kte,  um  desto 
stärker  wieder  auftraten:  nur  so  ist  das  ungleiche  Benehmen 
Einiger,  z.  B.  Herder's  und  Hamann's,  gegen  ihn  zu  erklären. 
Aber  in  erster  Stelle,  sowohl  was  die  Grösse  des  Mannes,  als 
die  Innigkeit  und  Dauer  der  Freundschaft  und  die  Wichtigkeit 
der  dadurch  hervorgerufenen  Resultate  betrifft,  ist  Lessing 
zu  nennen!  — 

Durch  das  Schachspiel  sollen  sie  zusammengefühi't  sein: 
aber  bald  erkannten  sie  sich  als  gleichartige  Geister  und  ihr 
ganzes  Wirken  wurde  gegenseitig  durch  einander  bedingt.  Von 
ihrer  gemeinsamen  Thätigkeit  an  den  Litteratui^briefen  ist  schon 
die  Rede  gewesen;  ihr  Briefwechsel  giebt  Zeugniss  von  der 
Art,  wie  sie  ihre  Freundschaft  auffassten ;  namentlich  Mendels- 
sohn nimmt  öfter  Anlass,  Lessing  auf  Fehler  aufmerksam  zu 
machen;  beide  sprechen  es  gerne  aus,  wie  der  Andere  jedem 
als  immer  gegenwärtiger  Richter  der  innersten  Gedanken  vor- 
schwebt. Es  sei  nur  erwähnt  der  rührende  Schluss  des  letzten 
Lessing'schen  Briefes  an  Mendelssohn,  wenige  Wochen  vor 
Lessing's  Tode  geschrieben:  „An  dem  Briefchen,  das  mir  Dr.  Flies 
damals  von  Urnen  mitbrachte,  kaue  und  nutsche  ich  noch; 
das  saftige  Wort  ist  hier  das  edelste.  Und  wahrlich,  lieber 
Freund,  ich  brauche  so  ein  Briefchen  von  Zeit  zu  Zeit  sehr 
nöthig,  wenn  ich  nicht  ganz  missmüthig  werden  soll.  Ich  glaube 
nicht,  dass  Sie  mich  als  einen  Menschen  kennen,  der  nach  Lobe 
heisshungrig  ist.    Aber  die  Kälte,  mit  der  die  Welt  gewissen 


Lessing. 

Leuten  zu  bezeugen  pflegt,  dass  sie  ihr  auch  garnichts  recht 
machen,  ist,  wenn  nicht  tödtend,  doch  erstarrend.  Dass  Ihnen 
nicht  alles  gefallen,  was  ich  seit  einiger  Zeit  geschrieben,  das 
wundert  mich  gamicht.  Ihnen  hätte  garnichts  gefallen  müssen, 
denn  für  Sie  war  nichts  geschrieben.  Höchstens  hat  Sie  die 
Zurückerinnerung  an  unsere  besseren  Tage  noch  etwa  bei  der 
und  jener  Stelle  täuschen  können.  Auch  ich  war  damals  ein 
gesundes,  schlankes  Bäumchen  und  bin  jetzt  ein  so  fauler, 
knorrichter  Stamm!  Ach  lieber  Freund!  Diese  Scene  ist  aus! 
Gern  möchte  ich  Sie  freilich  noch  einmal  sprechen!" 

Das  schönste  Denkmal  aber  hat  Lessing  dem  Freunde  in 
seinem  Nathan  dem  Weisen  gesetzt.  Theilweis  hervorgerufen 
mag  es  sein  durch  die  Lavater'sche  Zumuthung  an  Mendelssohn, 
Christ  zu  werden.  Die  meisten  Figuren  im  Nathan  sind  aus 
dem  Mendelssohn'schen  Kreise  unverkennbar  entnommen,  vor 
allen  Dingen  ist  die  edle,  massvolle,  milde  und  ruhige  Person 
des  Nathan  selbst  das  getreue  Bild  Moses  Mendelssohn's.  Der 
Derwisch  ist  einem  jüdischen  Lehrer,  Wolf,  der  oft  in's  Mendels- 
sohn'sche  Haus  kam  und  die  Kinder  unterrichtete,  nachgebildet; 
und  Joseph,  der  älteste  Sohn  Moses',  meint,  die  Parallele  Hesse 
sich  noch  viel  weiter  fortsetzen. 

Auch  Mendelssohn  hatte  vor,  nach  Lessing's  Tode  dem 
Freunde  ein  seiner  würdiges  ütterarisches  Denkmal  zu  setzen;  es 
wurde  leider  nicht  vollendet,  und  der  schöne  Plan,  zu  dem  er  be- 
rufen gewesen  wäre  me  Keiner,  blieb  liegen.  Nui'  eine  kurze 
Charakteristik  Lessing's  haben  wir  in  einem  Briefe  an  Hennings : 
„Mich  beschäftigt  jetzt  der  einzige  Gedanke:  Lessing's  Tod. 
Er  macht  mich  nicht  trauiig,  nicht  tiefsinnig;  aber  er  ist  mir 
immer  gegenwärtig,  wie  das  Bild  einer  GeKebten.  Ich  schlafe 
mit  ihm  ein,  träume  von  ihm,  wache  mit  ihm  auf,  und  danke 
der  Vorsehung  für  die  Wohlthat,  die  sie  mir  erzeigt  hat,  dass 
ich  diesen  Mann  so  frühzeitig  habe  kennen  lernen,  und  dass 
ich  seinen  freundschaftlichen  Umgang  so  lange  genossen  habe. 
Die  Welt  kennt  seinen  schriftstellerischen  Werth,  "Wenige  aber 
kennen  seinen  freundschaftlichen  Werth,  ja  ich  finde,  dass  sein 
moralischer  Werth  überhaupt  von  Vielen  sogar  misskannt  wird. 
Auch  die  Begriffe  von  Tugend  und  Sittlichkeit  sind  der  Mode 


18  Moses  Mendelssohn. 

unterworfen,  und  wer  sich  nicht  nach  den  Modebegriffen  seines 
Jahrhunderts  schmiegen  kann,  der  wird  von  seinen  Zeitgenossen 
verkannt  und  verschrieen.  So  viel  scheint  mir  indessen  ausser 
allem  Zweifel  zu  sein:  Wenn  irgend  ein  Mensch  besser  war, 
als  er  sich  in  seinen  Schriften  zu  erkennen  gab,  so  war  es 
Lessing.  Die  am  meisten  wider  ihn  eingenommen  waren, 
wusste  er  in  einer  Stunde  persönlichen  Umgangs  zu  gewinnen, 
und  gleichwohl  ist  ihm  meines  Wissens  nie  eine  geflissentliche 
Schmeichelei  aus  dem  Munde  gegangen;  ja  er  hatte  sogar  die 
—  wie  soll  ich  es  nennen?  —  Bizarrerie,  ein  abgesagter  Feind 
von  der  äusseren  Höflichkeit  zu  sein.  Seine  gesellschaftlichen 
Tugenden  bestanden  vielmehr  in  ächter  Theilnehmung ,  auf- 
richtiger Dienstbeflissenheit,  in  der  äussersten  Entfernung  von 
Eigennutz  und  Eigendünkel,  und  in  der  milden  Bereitwilligkeit, 
eiD.em  Jeden  mit  seinem  Reichthum  an  Begriffen  so  zuvorzu- 
kojnmen,  dass  man  sich  in  einer  Unterredung  mit  ihm  allezeit 
scharfsinniger  glaubte,  als  man  wirklich  war,  ob  man  gleich 
nicht  unterlassen  konnte,  dessen  üeberlegenheit  innerlich  recht 
sehr  zu  fühlen.  Sarkastisch  und  bitter  gegen  jeden  Geck, 
der  sich  die  Wahrheit  allein  gefunden  zu  haben  einbildete, 
war  er  liebreich  und  bescheiden  gegen  Jeden,  der  Wahrheit 
«uchte,  und  zu  allen  Zeiten  bereit,  ihm  mit  seinem  Vorrathe 
zu  dienen."  — 

Zum  Abschluss  des  schönen  Freundschaftsbündnisses  der 
beiden  Männer  finde  hier  noch  der  Brief  einen  Platz,  den 
Mendelssohn  bald  nach  Lessing's  Tode  an  dessen  Bruder  schrieb: 
„Nicht  ein  Wort,  mein  Bester,  von  unserm  Verluste,  von  der 
grossen  Niederlage,  die  unser  Herz  erlitten !  das  Andenken  des 
Mannes,  den  wir  verloren,  ist  mir  jetzt  zu  heilig,  um  es  durch 
Klagen  zu  entweihen.  Es  erscheint  mir  nunmehr  in  einem 
Lichte,  das  Euhe  und  erquickende  Heiterkeit  auf  die  Gegen- 
stände verbreitet.  Nein!  ich  rechne  nicht  mehr,  was  ich  durch 
seinen  Hintritt  verloren.  Mt  gerührtem  Herzen  danke  ich 
der  Vorsehung  für  die  Wohlthat,  dass  sie  mich  so  früh,  in 
der  Blüthe  meiner  Jugend  hat  einen  Mann  kennen  lassen,  der 
meine  Seele  gebildet  hat,  den  ich  bei  jeder  Handlung,  bei  jeder 
Zeile,    welche   ich  hinschreiben  wollte,   mir   als  Freund  und 


Lessing.  17 

Ricliter  vorstellte,  imd  den  ich  mir  zu  allen  Zeiten  noch  als 
Freund  und  Richter  vorstellen  werde,  so  oft  ich  einen  Schritt 
von  Wichtigkeit  zu  thun  habe.  Wenn  sich  in  diese  Betrachtung 
noch  etwas  Melancholisches  mit  hineinmischt,  so  ist  es  vielleicht 
die  Reue,  dass  ich  seine  Führung  nicht  gehörig  benutzt  habe, 
dass  ich  nicht  geizig  genug  war  nach  seinem  lehrreichen  Um- 
gange, dass  ich  manche  Stunde  vernachlässigte,  in  der  ich 
mich  mit  ihm  hätte  unterhalten  können.  Ach!  Seine  Unter- 
haltung war  eine  ergiebige  Quelle,  aus  welcher  man  unauf- 
hörlich neue  Ideen  des  Guten  und  Schönen  schöpfen  konnte, 
die  er  Avie  gemeines  Wasser  von  sich  sprudelte,  zu  Jedermanns 
Gebrauch.  Die  Milde,  mit  welcher  er  seine  Einsichten  mit- 
theilte, setzte  mich  zuweilen  in  Gefahr,  das  Verdienst  zu  ver- 
kennen: denn  sie  schienen  ihn  in  keine  Unkosten  zu  setzen : 
und  zuweilen  schob  er  sie  den  Meinigen  so  mit  unter,  dass  ich 
sie  nicht  mehr  unterscheiden  konnte.  Ueberhaupt  war  seine 
Mildthätigkeit  hierin  nicht  von  der  engherzigen  Art  mancher 
Reichen,  die  es  fühlen  lassen,  dass  sie  Almosen  ausspenden, 
sondern  er  spornte  den  Fleiss  an,  und  Hess  verdienen,  was 
er  gab. 

„Alles  wohl  überlegt,  mein  Liebster,  ist  Ihr  Bruder  grade 
zur  rechten  Zeit  abgegangen;  nicht  nur  in  dem  Plane  des 
Weltalls  zur  rechten  Zeit ;  denn  da  geschieht  eigentlich  nichts 
zur  Unzeit;  sondern  auch  in  unsrer  engen  Sphäre,  die  kaum 
eine  Spanne  zum  Durchmesser  hat,  zur  rechten  Zeit.  Fontenelle 
sagt  von  Copernicus:  Er  machte  sein  neues  System  bekannt 
und  starb.  Der  Biograph  Ihres  Bruders  wird  mit  eben  dem 
Anstände  sagen  können:  Er  schrieb  Nathan  den  Weisen  und 
starb.  Von  einem  Werke  des  Geistes,  das  ebenso  sehr  über 
Nathan  hervorragte,  als  dieses  Stück  in  meinen  Augen  über 
AUes,  was  er  bis  dahin  geschrieben,  kann  ich  mir  keinen 
Begriff  machen.  Er  konnte  nicht  höher  steigen,  ohne  in  eine 
Region  zu  kommen,  die  sich  unseren  sinnlichen  Augen  völlig 
entzieht.  Nun  stehen  wir  da,  wie  die  Jünger  des  Propheten, 
und  staunen  den  Ort  an,  wo  er  in  die  Höhe  fuhr  und  ver- 
schwand. Noch  einige  Wochen  vor  seinem  Hintritte  hatte  ich 
Gelegenheit,   ilim  zu  schreiben:   er  solle  sich  nicht  wundern, 

Die  Familie  Mendessahn.   I.  ^ 


18  Moses  Mendelssohn. 

dass  der  grosse  Haufe  seiner  Zeitgenossen  das  Verdienst  dieses 
Werks  verkenne;  eine  bessere  Nachwelt  werde  noch  fünfzig 
Jahr  nach  seinem  Tode  daran  lange  Zeit  zu  kauen  und  zu  ver- 
dauen finden.  Er  ist  in  der  That  mehr  als  ein  Menschenalter 
seinem  Jahi^hunderte  zuvorgeeilt." 

Kehren  wir  aber  zurück  zu  Mendelssohn's  Wirksamkeit. 
Wenn  er  sich  auch  durch  den  Lavaterstreit    offen  als    Vor- 
kämpfer des  Judenthums  bekannt  hatte,   so   war  damit  etwas 
Positives  für  die  Juden  doch  noch  nicht  geschehen.    Nun  aber 
begann  Mendelssolin  seine  reformatorische  Thätigkeit  und  nahm 
dabei    seinen  eigenen  Bildungsgang,    der  sich  bewährt  hatte, 
zum  Muster.     Zuerst   musste  Deutsch    gelernt    werden.     Die 
vortrefflichen  Bemerkungen  über   das  Wesen   der  Sprache  im 
„Jerusalem"  zeigen,  wie  viel  Mendelssohn  darüber  nachdachte. 
Um  den  Juden  nun  gerade  als  Juden  das  Deutsche  zugänglich 
zu  machen,  übersetzte  er  die  heiligen  Schriften  derselben,  die 
fünf  Bücher  Mosis,  die  Psalmen,    das  Hohelied  Salomonis  ins 
Deutsche.     Andere  sollten  folgen;    es  lag  im  Plan,  das  ganze 
alte  Testament  in  gleicher  Weise  zu  bearbeiten,  aber  der  Tod 
ereilte  ihn  über  dem  Werke.     Diese  Bücher  wui'den  deutsch 
theils  mit  hebräischen,  theils  mit  deutschen  Lettern  gedruckt, 
um  die  Bekanntschaft  mit   dem  Deutschen  stufenweise  herbei- 
zuführen und   zugleich    den   Christen  Gelegenheit  zum  Lesen 
einer  im  Sinne  des  Originals,  nicht  theologisch  und  mit  christ- 
lichen Deuteleien  gehaltenen  Uebersetzung  zu  geben.    Für  seine 
Auffassung    der  Schriften   ist  bezeichnend,    w^as   er  in  einem 
Briefe  an  Michaelis  sagt:     „Ich  habe  selbst  etwa  20  Psalmen 
ins  Deutsche  übersetzt  und  war  nicht  ungeneigt,  sie  als  Proben 
der  lyrischen  Poesie  der  Hebräer  bekannt  zu  machen. 
Ich  muss    gestehen,    dass    ich   mit  allen  Uebersetzungen  der 
Psalmen,   die  mir  zu  Gesicht  gekommen  sind,  sehr  wenig  zu- 
frieden bin,    mit    den   poetischen  noch  weniger,   als  mit  den 
prosaischen.     Wo  sie  auch  zufälligerweise  den  Sinn  treffen,  da 
verderben  sie  doch  durch  das  occidentalische  Reimgebäude  das 
Eigenthümliche    der   hebräischen  Dichtkunst.  —  Ich  bin  ver- 
sichert, dass  Sie  die  Psalmen  als  Poesie  behandeln  werden, 
ohne  auf  das  Prophetische  und  Mystische  zu  sehen,  das  sowohl 


Litterarische  Arbeiten.  19 

christliclie  als  jüdische  Ausleger  nur  darum  in  den  Psalmen 
gefunden,  weü  sie  es  darin  gesucht  haben;  und  nur  darum 
gesucht  haben,  weil  sie  weder  Weltweise  noch  Kunstrichter 
gewesen  sind.  —  Es  ist  vielleicht  gefährlich,  diese  einge- 
wurzelten Vorurtheile  öffentlich  zu  bestreiten;  allein  diesen 
Weg  müssen  wir  doch  endlich  gehen,  wenn  die  Psalmen  mit 
vernünftiger  Erbauung  gelesen  v/erden  sollen.  Man  hat  uns 
lange  genug  durch  mj^stische  Deuteleien  den  klaren  Sinn  der 
Schrift  verdunkelt." 

Diese  Uebersetzungen  waren  ein  schmeriges  Werk.  Die 
Orthodoxen  beider  Religionen  waren  natürlich  mit  Mendelssohn's 
grossartiger  und  vorurtheilsfreier  Auffassung  nicht  zufrieden  und 
es  war  zu  erwarten,  dass  namentlich  die  jüdischen  Eabbiner 
und  Talmudisten  Himmel  und  Erde  gegen  Uebersetzung  und 
Uebersetzer  in  Bewegung  setzen  würden.  Aber  sie  fanden  in 
Mendelssohn  einen  ihnen  vollkommen  gewachsenen  Kämpfer, 
dem  seine  frühere  talmudische  Ausbildung  hier  zu  Statten  kam. 
Die  Uebersetzungen  gewannen  sich  ein  immer  grösseres  Publikum 
und  bilden  noch  heute  die  Grundlage  aller  jüdischen  Jugend- 
Erziehung. 

Andere  epochemachende  Werke  folgten.  Er  liess  eine 
Uebersetzung  eines  im  Jahre  1656  für  Cromwell  geschriebenen 
Werkes  „Rabbi  Manasseh  Ben  Israel,  Rettung  der  Juden"  an- 
fertigen und  schrieb  dazu  eine  Vorrede.  Es  sind  nur  22  Seiten, 
aber  die  reifsten,  weit  dem  Standpunkt  der  damaligen  Zeit 
vorauseilenden  Ansichten  sind  in  so  vollendetem  Stil  darin  aus- 
gesprochen, dass  diese  Vorrede  wohl  für  die  Perle  unter  Men- 
delssohn's Werken  gelten  kann.  Es  folgte  „Jerusalem,  oder 
über  religiöse  Macht  und  Judenthum",  eine  grosse  Allheit,  die 
sich  jener  „Vorrede"  würdig  anreiht,  die  dort  angedeuteten 
Fragen  weiter  begründet,  gewissermassen  Mendelssohn's  politisch- 
religiöses Testament.  Er  hat  es  dem  19.  Jahrhundert  zur 
Vollstreckung  hinterlassen;  „Trennung  der  Kirche  vom  Staat" 
ist  die  kurz  ausgedrückte  Hauptforderung.  Seiner  plülosophischen 
Natur  gemäss  knüpft  er  bei  jedem  Schritt  an  spekulative  Grund- 
sätze an  und  entzieht  so  seine  ganze  Beweisführung  dem  poli- 
tischen Partheiliader.     Speciell  politisch  hat  sich  Mendelssohn, 

2* 


20  Moses  Mendelssohn. 

friedliebend  wie  er  war,  nie  ausgesprochen,  wenigstens  nicht 
öffentlich.  Seine  Ansichten  waren  indess,  wie  es  hei  seiner 
sonstigen  Denkungsweise  auch  natiirlich  ist,  entschieden  frei- 
sinnige. 

Die  letzten  Jahre  seines  Lehens  wurden  dmxh  einen  für 
ihn  selir  unerquicklichen  Streit  über  Lessing's  philosophische 
Ansichten  ausgefüllt.  Aber  selbst  aus  solchen  Giftblumen  ^\Tisste 
er  Honig  zu  ziehen;  die  „Morgenstunden"  verdanken  dieser 
Controverse  ihre  Entstehung.  Wie  „Jerusalem"  das  politisch- 
religiöse, so  sind  sie  das  philosopliische  Testament  Mendels- 
sohn's.  Sie  hatten  zugleich  einen  liebenswürdigen  Nebenzweck: 
sie  waren  zur  Belehrung  seiner  Kinder,  namentlich  Joseph's, 
des  Aeltesten,  und  einer  Eeihe  junger  Leute  „von  schätzbaren 
Geistesgaben  und  noch  besseren  Herzen"  bestimmt,  die  sich 
täglich  um  ilin  versammelten.*) 

Was  Mendelssohn's  specielle  philosophische  Thätigkeit  be- 
trifft, so  ist  unläugbar,  dass  er  zu  den  bahnbrechenden,  grossen 
Philosophen  nicht  gehört  hat.  Erdmann  in  seinem  „Grundriss 
der  Geschichte  der  Philosophie"  bestimmt  seine  Stellung  folgen- 
dermassen,    indem    er   im  §  293  von  ihm  und   einem  Kreise 

gleichstehender  Männer  sagt: „schliesst   dieser  Mangel 

an  Selbstverständniss  sie  freilich  aus  der  Zahl  der  grossen 
Philosophen  aus,  so  verhindert  er  sie  doch  nicht,  eine  be- 
deutende Wirkung  zu  zeigen.  Ja,  wenn  sie  die  Energie  und 
Zeit,  die  zu  einer  solchen  Vertiefung  in  sich  selbst  nöthig 
gewesen  wäre,  dazu  anwenden,  den  Grundgedanken,  der  als 
ein  Gefühl  und  als  Instinkt  sie  beseelt,  in  allen  Gebieten  des 
Lebens  herrschend  zu  machen,  so  kann  der  Erfolg  ihres  Wirkens, 
weil  er  in  die  Breite  geht,  grösser  erscheinen,  als  wenn  sie 
Philosophen  ersten  Ranges  gewesen  wären.  Die  Sophisten, 
der  römische  Synkretismus  und  die  Philosophie  der  Renaissance 
haben  gezeigt,  dass  es  Zeiten  giebt,  wo  es  füi'  die  Philosophie 
nicht  sowohl   auf   einen   neuen  bedeutenden  Schritt  ankommt, 


*)  In  der  ersten  Auflage  waren  hier  die  beiden  Humboldts 
genannt.  Es  beruhte  diese  Angabe  auf  einer  wohl  ungenauen, 
mündlichen  Tradition. 


Philosophische  Bedeutung.  21 

als  vielmelir  darauf,  dass  ein  bereits  geltend  gemachter  Ge- 
dankenkreis sich  ganz  auslebe.  Einen  solchen  Punkt  hat  die 
Plülosophie  des  achtzehnten  Jahi^hunderts  dort  erreicht,  wo 
sie  in  den  Dienst  der  deutschen  Aufklärung  tritt  und  zu 
einem  sprechenden  Zuge  in  deren  Physiognomie  wird.  Nur  zu 
einem  Zuge;  denn  wenn  die  den  Begrifi'  der  Aufklärung  gewiss 
zu  enge  fassen,  welche,  wie  das  sehr  oft  geschieht,  nur  an 
gewisse  Erscheinungen  im  religiösen  Gebiete  denken,  so 
darf  dem  nicht  eine  eben  so  enge  Auffassung  entgegengestellt 
werden,  indem  man  unter  Aufklärung  nur  Popularphilosophie 
versteht.  Vielmehr  ist  die  Aufklärung  eine  alle  Lebensgebiete 
durchdringende  weit-  und  kultm-geschichtliche  Ki'isis  und  Revo- 
lution, die  im  18.  Jalirhundert  begann  imd  insofern  noch  jetzt 
dauert,  als  heut  zu  Tage  die  Masse  sich  in  einem  Zustande 
befindet,  der  damals  der  der  Elite  war.  Es  handelt  sich  hier 
zuerst  darum,  das  Wesen  dieser  gewaltigen  Erscheiuung  m 
einer  Weise  zu  formuliren,  woduixh  es  möglich  wir-d,  die 
grosse  Zahl   von  Begriffsbestimmungen,   die   gegeben   worden 

sind, richtig  zu  würdigen.     Die   Formel,    dass    in  der 

Aufklärung  der  Versuch  gemacht  wurde,  den  Menschen,  sofern 
er  verständiges  Einzelwesen,  zur  Herrschaft  über  Alles  zu 
bringen,  scheint  dieser  Forderung  zu  entsprechen.  Indem  daria 
zuerst  das  menschliche  Subjekt  in  den  Vordergrund  gestellt 
wird.  Alles  aber,  was  wir  mit  dem  Worte  „Bildung"  bezeich- 
nen, darin  besteht,  dass  das  Subjekt  der  Dinge  Herr  wird, 
theoretisch,  indem  sie  ihm  als  Objekt  der  Erkenntniss  oder 
Unterhaltimg,  praktisch,  indem  sie  ihm  zur  Erreichung  seiner 
Zwecke  dienen,  —  in  beiden  Fällen  dienen  sie,  es  also  herrscht 
über  sie  oder  spielt  mit  ümen  —  ist  es  zu  begreifen,  wie 
Mendelssohn  dazu  kam,  Aufklärung  und  Kiütui'  als  die  Er- 
scheinungsformen der  Büdimg  zu  bestimmen." 

lieber  die  Stellung  Mendelssohn's  zu  Lessing  und  Nikolai 
sagt  derselbe  a.  a.  0. :  „Was  die  Zeitgenossen  nie  bezweifelten, 
dass  diese  drei  als  Freunde  und  Genossen  eines  W^erkes  zu- 
sammen zu  stellen  seien,  wird,  wo  es  heute  geschieht,  von 
vielen  Verehrern  Lessing's  als  eine  Versündigimg  an  diesem 
angesehen.    Zum  Theil  haben  sie  Recht,   denn  es  wird  sich 


22  Moses  Mendelssohn. 

zeigen,  dass  Lessing  subjektiv  und  objektiv  auch  eine  andere 
Stellung  einnimmt,  als  die  beiden  Anderen.  Aber  nur  zum 
Tbeil;  denn  erstlicli  verkennen  sie  die  Stellung  jener  drei 
Männer,  wenn  sie  sich  Lessing  stets  als  den  Gebenden,  die 
anderen  Beiden  bloss  als  empfangend  denken.  Von  manchem 
Gedanken,  dessen  Dui'chführung  Lessing  berühmt  gemacht  hat, 
ist  nachzuweisen,  dass  Mendelssohn  ihn  zuerst  ausgesprochen 
hat.  (Selbst  in  sprachlicher  Hinsicht,  hat  Lachmann  behauptet, 
habe  Lessing  dui'ch  den  Umgang  mit  Einem  gewinnen  müssen, 
der  sich  das  reine  Hochdeutsch  nicht  als  Kind,  sondern  mit 
vollem  Bewusstsein  angeeignet  hatte.)  Sie  übersehen  aber 
zweitens,  dass  Lessing  in  dem  Jahre  starb,  wo  Kant's  Kritik 
der  reinen  Vernunft  erschien  und  dass  darum  die  Kämpfe,  in 
welchen  sein  Leben  bestand,  nur  gegen  absterbende  Principien 
gefühi't  wurden,  ja,  dass  ihn  ein  günstiges  Geschick  verhindert 
hat,  zu  thun,  was  er  wollte:  über  Göthe's  Werther  herzufallen 
(was  schwerlich,  wie  Nikolai  meint,  Göthe  bei  der  Nachwelt 
geradeso  diskreditirt  hätte,  wie  Klotz),  wälu-end  Mendelssohn 
gleich  nach  Lessing's  Tode  veranlasst  wird,  sich  über  Kant, 
über  Spinoza  gegen  Jakoby  auszusprechen,  also  über  Männer, 
die  theils  ausser,  theils  über  dem  Ideenkreise  des  18.  Jahi*- 
hunderts  stehen,  in  dem  Mendelssohn  wui'zelt." 

Li  Bezug  auf  Mendelssohn's  Verhältniss  zu  Kant  ist  es 
ein  eigenthümliches  Zusammentreffen,  dass  Beide  im  Jahre  1763 
um  den  akademischen  Preis  konkurrirten,  und  Mendelssohn  mit 
seiner  Schrift  „lieber  die  Evidenz"  den  Preis  davontrug.  Später 
freüich  überholte  ihn  Kant  bei  Weitem  und  als  im  Jahre 
1782 — 1783  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  erschien,  gestand 
Mendelssohn  in  Briefen  und  Schi-iften  freimüthig,  dass  er,  an 
das  sanfte  Licht  der  Wolf  -  Baumgarten -Leibnitzischen  Philo- 
sophie gewöhnt,  sich  unfähig  fühle,  dem  grossen  Königsberger 
Philosophen  zu  folgen.  Die  beiden  Männer  blieben  in  fort- 
dauerndem freundlichen  Verkehr,  und  Kant  war  ein  aufrich- 
tiger Bewunderer  der  Feinheit,  des  fiu'chtlosen  Eintretens  für 
religiöse  Freiheit  und  des  schönen  Stüs  seines  einstmaligen 
Konkurrenten. 

lieber   Mendelssohn    im   Vergleich    zu   Baumgarten   sagt 


Philosophische  Bedeutung.  23 

Erdmann:  „Der  Hauptunterschied  zwischen  Mendelssohn  und 
Baumgarten  oder  jedem  anderen  Metaphysiker  alten  Schlages 
betrifft  die  Art  des  Philosophirens.  Nicht  nur  Deutsch,  son- 
dern ein  gebildetes,  schönes  Deutsch  will  er  angewandt  haben ; 
Plato  ist  ihm  ein  so  grosser  Philosoph,  viel  weniger  des  In- 
halts seiner  Lehre  wegen,  als  wegen  seiner  glänzenden  Dar- 
stellung. Nicht  streng  philosophisches  Verfahren,  sondern  die 
Form  der  gebildeten  Conversation  ist  sein  Ideal.  Darum  die 
Brief-  oder  Gesprächsform,  in  welche  er  auch  dort  gern  ver- 
fällt, wo  ursprünglich  eine  andere  gewählt  war.  So  sehr  er 
darum  auf  bestimmte  Begriffe  dringt,  und  so  sehr  er  es  be- 
dauert, dass  die  Nachahmung  der  Franzosen  es  dahin  gebracht 
habe,  dass  man  nur  für  Damen  schreibe  und  die  solide  Wissen- 
schaft vernachlässige,  so  lässt  er  doch  gern  merken,  dass  er 
kein  auf  Universitäten  gebildeter,  gelehrter  Magister  sei,  weist 
sich  eine  Mittelstellung  zwischen  Metaphysiker  und  schönem 
Geiste  an,  und  schreibt  weder  für  eüie  bestimmte,  noch  über- 
haupt für  eine  Schule,  sondern  für  die  Welt.  Worüber?  Kein 
einziger  der  Gegenstände,  von  denen  oben  gesagt  war,  dass 
sie  allein  flu*  diese  Philosophen  Interesse  haben,  ist  von  ihm 
vernachlässigt  worden,  und  schon  wegen  dieser  Vollständig- 
keit nimmt  er  unter  diesen  Philosophen  der  feinen  Welt  eiae 
so  hohe  Stelle  ein,  ganz  abgesehen  davon,  dass  er  es  vor  allen 
gewesen  ist,  der  (wie  Protagoras  unter  den  Sophisten)  stets 
in  Erinnerung  gebracht  hat,  worum  sich's  eigentlich  handelt: 
den  Menschen."  — 

Mendelssohn's  äusseres  Lebensgeschick  haben  wir  zu  be- 
trachten aufgehört,  als  er  in  die  Bernhard'sche  Seidenfabrik  als 
Buchhalter  eingetreten  war.  Diese  kaufmännische  Beschäfti- 
gung —  er  leitete  später  die  Fabrik  ganz  selbstständig  und 
wurde  nach  Bernhard's  Tode  Mittheilhaber  des  Geschäfts  — 
war  ihm  oft  unangenehm  und  störend,  wenn  er  irgend  einen 
wissenschaftlichen  Gegenstand  im  Kopf  hatte,  und  seine  Briefe 
sind  voller  Klagen  darüber:  „Ich  höre  den  langen  Tag  soviel 
unnützes  Geschwätz,  ich  sehe  und  thue  soviel  gedankenlose,  er- 
müdende, dummmachende  Dinge,  dass  es  keine  geringe  Wohl- 
that  für  mich  ist,   wenn  ich  mich  des  Abends  mit  einem  ver- 


24  Moses  Mendelssohn. 

nunftliebenden  Geschöpf  unterhalten  kann",  schreibt  er  an  einen 
Freund.  Aber  am  meisten  schüttet  er  in  dieser  Beziehung, 
wie  in  jeder  andern.  Lessing  sein  Herz  aus:  „die  Geschäfte! 
die  lästig-en  Geschäfte !  Sie  drücken  mich  zu  Boden  und  ver- 
zehren die  Kräfte  meiner  besten  Jahi^e.  Wie  ein  Lastesel 
schleiche  ich  mit  beschwertem  Rücken  meine  Lebenszeit  hin- 
durch; und  zum  Unglück  sagt  mir  die  Eigenliebe  oft  ins  Ohr, 
dass  mich  die  Natur  vielleicht  zum  Paradepferd  erschaffen  hat." 
Und  an  einer  anderen  Stelle:  „Ein  guter  Buchhalter  ist  gewiss 
ein  seltenes  Geschöpf.  Er  verdient  die  grösste  Belohnung ;  denn 
er  muss  Verstand,  Witz  und  Empfindung  ablegen,  und  ein  Klotz 
werden,  um  richtig  Buch  zu  führen.  Verdient  ein  solches  Opfer 
zum  Besten  der  Finanzen  nicht  die  grösste  Belohnung  ?  —  Wie 
ich  heut  auf  diesen  Einfall  komme,  fragen  Sie?  Sie  können 
es  wohl  unmöglich  errathen,  dass  mir  des  H.  v.  Kleist  neue 
Gedichte  dazu  Anlass  gegeben  haben.  Ich  liess  sie  mir  des 
Morgens  um  8  Uhr  kommen.  Ich  wollte  unserm  lieben  Nikolai 
eine  unvermuthete  Freude  damit  machen  und  sie  mit  ihm  durch- 
lesen. AUein  ich  ward  verhindert  —  die  imgestümen  Leute! 
Was  bringt  er  mein  Freund?  Und  Sie  Gevattern?  Und  Er 
Geselle?  Lassen  Sie  mich  heut',  ich  kann  nicht!  „Sie  halben 
ja  nicht  irgend  Feiertage  ?"  —  Das  wohl  eigentlich  nicht,  aber 
ich  bin  krank.  Es  verschlägt  Ihnen  ja  nichts.  Kommen  Sie 
morgen  wieder.  —  Diese  Leute  waren  gefällig,  aber  mein  Principal 
war  es  nicht.  Ich  bekam  Arbeit  bis  gegen  Mittag.  Ich  las 
indessen  unter  der  Arbeit  hier  und  da  ein  Fleckchen;  und  da 
merkte  ich,  wie  schwer  es  ist,  Empfindungen  zu  haben  und 
Buchhalter  zu  sein.  Ich  fing  an,  in  Handlungssachen  schön 
zu  denken,  und  machte  in  meinen  Büchern  eine  von  den  Schön- 
heiten, die  man  an  einer  Ode  zu  rühmen  pflegt.  Ich  ver- 
wünschte meinen  Stand,  schickte  die  Gedichte  unserm  Esquire, 
der  von  seinen  Geldern  lebt,  ha,  nicht  ohne  Neid,  und  ward 
verdriesslich."  — 

So  hatte  Mendelssohn  von  dem  Geschäft  wohl  manche  Plage ; 
indessen  war  es  einestheils  gemss  seiner  Gesundheit  zuträglich, 
und  namentlich  während  einer  mehrjährigen  Krankheit,  wo  ihm 
alle  geistige  Anstrengung,    bis  auf  das  Briefschreiben  sogar. 


Praktische  Thätigkeit.  25 

verboten  war,  hielt  es  ihn  alleüi  aufrecht,  dass  er  wenigstens 
im  Geschäft  arbeiten  diu-fte:  absoluter  Müssiggang  wäre  für 
ihn  der  Tod  gewesen.  Ausserdem  aber  darf  man  wohl  diesem 
harten  Untergründe  seiner  geistigen  Thätigkeit  das  Praktische 
der  Letzteren,  die  Rücksicht  auf  das  erreichbar  Mögliche,  die 
Anwendung  der  zweckdienlichsten  Mittel  zuschreiben,  Eigen- 
schaften, die  Mendelssohn  so  charakteristisch  sind.  Die  kauf- 
männische Thätigkeit  ist  allem  Verschwimmen  in  phantastische, 
luftige  Gebiete  feindlich;  sie  gab  ilim  Kenntniss  der  Menschen, 
wie  sie  wirklich  sind,  und  der  Mittel,  mit  denen  man  auf  die 
Menschen  wirkt.  Es  ist  sehr  fraglich,  ob  Mendelssohn,  wäre 
er  nicht  als  Kaufmann  mit  dem  Leben  in  Verbindung  geblieben, 
dem  „Mann  von  Stande"  mit  seinem  palästinensischen  Projekt 
eine  so  praktische,  abweisende  Antwort  gegeben,  oder  einen 
Satz,  wie  den  folgenden,  geschrieben  haben  würde:  „Ich  bin 
mir  nur  garzusehr  bewusst,  wie  wenig  Einfluss  meine  Worte 
und  Vorstellungen  auf  den  grossen  Haufen  haben.  Mein  Wirkungs- 
kreis ist  von  jeher  auf  wenige  Freunde  eingeschränkt  gewesen 
und  hat  sich,  seitdem  ich  Kinder  zu  bilden  und  zu  erziehen 
habe,  noch  enger  zusammengezogen.  Ausserhalb  dieser  Sphäre 
habe  ich  und  suche  ich  keinen  Einfluss.  Ich  fühle  die  Schranken 
meiner  Kräfte  und  halte  mich  innerhalb  derselben  ruhig  und 
stille,  weil  ich  meinem  Maass  doch  nichts  zusetzen  kann."  — 
Mendelssohn  war  klein,  stark  verwachsen,  er  hatte  einen 
Höcker  auf  dem  Eücken  und  stotterte ;  aber  der  geistvolle 
kluge  Kopf,  von  dem  Lavater  jene  lebendige  Schilderung  ent- 
worfen, entschädigte  dafür,  wie  so  oft  bei  Verwachsenen. 
Körperliche  Schönheit  ist  em  vortrefflicher  Empfehlungsbrief 
im  Umgang  mit  Menschen,  aber  mehr  nicht,  und  es  sind  schliess- 
lich andere  Eigenschaften,  die  dauernd  fesseln,  wie  uns  Mendels- 
sohn mit  seiner  grossen  Beliebtheit  in  den  weitesten  Kreisen, 
mit  der  unwandelbaren  Freundschaft,  die  ein  Lessing  für  ihn 
gehabt,  beweist.  Aber  er  erfreute  sich  nicht  nur  der  Zuneigung 
aller  mit  ihm  in  Berührung  kommenden  Männer,  sondern  war 
auch  sehr  glücklich  verheirathet:  Auf  einer  Reise  nach  Hamburg 
lernte  er  im  Jahre  1762  Fromet,  die  Tochter  des  Abraham 
Gugenheim,    kennen,    und  heirathete  sie  im  folgenden   Jahr. 


26  Moses  Mendelssohn. 

Berthold  Auerbach  berichtet  in  seinem  Buch  „Zur  guten 
Stunde"  nach  mündlicher  Ueberlieferung  die  Art,  wie  Moses 
seine  Frau  gewonnen  habe,  folgendermassen : 

Moses  Mendelssohn  war  im  Bade  Pyrmont.  Hier  lernte 
er  den  Kaufmann  Gugenheim  aus  Hamburg  kennen.  ,,Eabbi 
Moses,"  sagte  dieser  eines  Tages,  „wir  Alle  verehren  Sie,  aber 
am  meisten  verehrt  Sie  meine  Tochter.  —  Mir  wäre  es  das 
höchste  Glück  Sie  zum  Eidam  zu  haben;  besuchen  Sie  uns 
doch  einmal  iu  Hamburg." 

Moses  Mendelssohn  war  sehr  schüchtern,  denn  er  war 
traui'ig  verwachsen.  Endlich  entschloss  er  sich  doch  von 
Berlin  aus  zur  Reise  und  besuchte  unterwegs  Lessing  in  Braun- 
schweig, wie  in  dessen  Briefen  zu  lesen. 

Mendelssohn  kommt  nach  Hamburg  und  besucht  Gugen- 
heim in  seinem  Comptoir.  Dieser  sagt:  ,, Gehen  Sie  hinauf  zu 
meiner  Tochter,  sie  wii'd  sich  freuen,  Sie  zu  sehen,  ich  habe 
viel  von  Hmen  erzählt." 

Mendelssohn  besucht  die  Tochter;  andern  Tags  kommt 
er  zn  Gugenheim  und  fragt  endlich,  was  die  Tochter,  die  ein 
gar  anmuthiges  AVesen  sei,  von  ihm  gesagt  habe? 

„Ja,  verehrter  Rabbi,"  sagt  Gugenheim,  „soll  ich's  Hinen 
ehrlich  sagen?" 

„Natürlich!"  — 

„Nun,  Sie  sind  ein  Philosoph,  ein  Weiser,  ein  grosser 
Mann,  Sie  werden  es  dem  Kinde  nicht  übel  nehmen;  sie  hat 
gesagt,  sie  wäre  erschrocken,  wie  sie  Sie  gesehen  hat,  weil 
Sie  — " 

„Weü  ich  einen  Buckel  habe?" 

Gugenheim  nickte. 

„Ich  habe  es  mir  gedacht,  icli  will  aber  doch  bei  Hirer 
Tochter  Abschied  nehmen." 

Er  ging  hierauf  in  die  Wohnung  und  setzte  sich  zu  der 
Tochter,  die  nähte.  Sie  sprachen  gut  und  schön  miteinander, 
aber  das  Mädchen  sah  nicht  von  ihrer  Arbeit  auf,  vermied, 
Mendelssohn  anzusehen.  Endlich,  da  dieser  das  Gespräch  ge- 
schickt so  gewendet,  fragt  sie: 


Heirath.  27 

„Glauben  Sie  auch,  dass  die  Ehen  im  Himmel  gesclilossen 
werden?" 

„Gewiss,  und  mir  ist  noch  was  Besonderes  geschehen. 
Bei  der  Geburt  eines  Kindes  wird  im  Himmel  ausgerufen:  Der 
und  Der  bekommt  Die  und  Die.  Wie  ich  nun  geboren  werde, 
wii'd  mir  auch  meine  Frau  ausgerufen,  aber  dabei  heisst  es: 
Sie  wird,  leider  Gottes,  einen  Buckel  haben,  einen  schrecklichen. 
Lieber  Gott,  habe  ich  da  gesagt,  ein  Mädchen,  das  verwachsen 
ist,  wird  gar  leicht  bitter  und  hart,  ein  Mädchen  soll  schön 
sein,  lieber  Gott,  gieb  mir  den  Buckel,  und  lass  das  Mädchen 
schlank  gewachsen  und  wohlgefällig  sein." 

Kaum  hat  Moses  Mendelssohn  das  gesagt,  als  ihm  das 
Mädchen  um  den  Hals  fiel  —  und  sie  ward  seine  Frau,  und 
sie  wurden  glücklich  mit  einander,  und  hatten  schöne  und 
brave  Kinder,  von  denen  noch  Nachkommen  leben.  — 

Dass  es  eine  Liebesheirath  war,  geht  aus  einem  Brief  an 
Lessing*)  hervor:  „Das  Frauenzimmer,  das  ich  zu  heirathen 
Willens  bin,  hat  kein  Vermögen,  ist  weder  schön,  noch  gelehrt; 
und  gleichwohl  bin  ich  verliebter  Geck  so  sehr  von  ihr  einge- 
nommen, dass  ich  glaube,  glücklich  mit  ihr  leben  zu  können." 
—  Und  er  lebte  glücklich  mit  ihr;  er  schreibt  an  Abbt**)  I7ö6: 
„Ich  habe  beinahe  die  ganze  Zeit  in  der  äussersten  Gemütlis- 
unruhe  gelebt.  Ich  habe  meinen  alten  Vater,  ich  habe  ein 
Kind  von  einigen  Monaten  verloren,  ich  bin  in  Gefahr  gewesen, 
meine  Frau,  die  ich  mehr  liebe  als  Vater  und  Kind,  zu  ver- 
lieren." 

Das  Einkommen  Mendelssohn's  war  nur  ein  sehr  massiges ; 
viele  seiner  Schriften  lieferte  er  ganz  unentgeltlich,  z.  B.  die 
grosse  Pentateuch-Üebersetzung;  Vermögen  hatte  er  nicht,  und 
so  musste  sein  Gehalt  als  Buchhalter  ausreichen.  Hier  wird 
das  Walten  seiner  Frau  besonders  erspriesslich  gewesen  sein, 
die  alles  aufs   sparsamste  eüirichtete.     Es  wird  uns  erzählt. 


*)  Ohne  Datum,  Moses  Mendelssohn's  gesammelte  Schriften. 
V.  Bd.  S.  165. 

**)  Ohne  Datum,  1761  (Briefe  an  Lessing,  herausgeg.  v.  Redlich, 
Berlin  1879,  S.  166). 


28  Koses  Mendelssohn. 

dass  Fromet  Abends,  wo  bei  Mendelssohn  fast  immer  offenes 
Haus  war,  in  die  auf  den  Tisch  zu  setzenden  Schalen  mit 
Süssigkeiten,  die  Eosiuen  und  Mandeln  hinein  zählte,  damit 
nicht  zu  viel  drauf  gehe,  und  der  Haushalt  in  Avichtig-eren 
Dingen  Noth  leiden  möchte. 

Mendelssohn  hatte  viele  Kinder:  zwei  starben  ganz  klein, 
ein  Mädchen  im  Alter  von  11  Monaten,  worüber  er  an  Abbt 
schi-eibt:  „Der  Tod  hat  an  meine  Hütte  gepocht,  und  mii' 
ein  Kind  geraubt,  das  nur  11  unschuldige  Monate,  aber  diese 
Gottlob!  munter  und  imter  hoffnungsvollen  Versprechungen  auf 
Erden  srelebt  hat.  Mein  Freund!  die  Unschuldio-e  hat  die  11 
Monate  nicht  vera-ebens  s'elebt.  Ihr  Geist  hat  in  dieser  kurzen 
Zeit  ganz  erstaunliche  Progressen  gemacht.  Von  einem  Thier- 
chen,  das  weint  und  schläft,  ist  sie  der  Keim  eines  vernünftigen 
Geschöpfs  geworden.  Wie  die  Spitzen  des  jungen  Grases  im 
Frühlinge  durch  den  harten  Erdboden  di'ingen,  so  sähe  man. 
bei  ihr  die  ersten  Leidenschaften  anbrechen.  Sie  zeigte  Mit- 
leiden, Hass,  Liebe,  Bewunderung,  verstand  die  Sprache  des 
redenden  Menschen,  und  war  bemüht,  ihre  Gedanken  Anderen 
zu  erkennen  zu  geben.  Ist  von  allem  Diesen  keine  Spur  mehr 
in  der  ganzen  Natur  anzutreffen?  —  Sie  werden  über  meine 
Einfalt  lachen,  und  in  diesem  Eaisonnement  die  Schwachheit 
eines  Menschen  erkennen,  der  Trost  sucht,  und  ihn  mi-gend 
findet  als  in  seiner  Einbüdimg.  Es  kann  sein!  —  Ich  kann 
nicht  glauben,  dass  uns  Gott  auf  seine  Erde  etwa  wie  den 
Schaum  auf  die  Welle  gesetzt  hat."  —  Ein  Knabe  starb  12 
Jahr  alt,  und  es  blieben  3  Söhne  und  3  Töchter.  Diese  wiu'den 
aufs  Beste  erzogen,  von  vortrefflichen  Lehi'ern  unterrichtet 
und  keine  Ausgabe  gescheut,  ihnen  einen  Platz  unter  den  Ge- 
bildetsten zu  sichern.  Herz  Homberg,  der  ihr  Hauslehi-er  ge- 
wesen, siedelte  später  nach  Oesterreich  über,  und  in  den  Briefen 
an  um  kommen  häufig  Ansichten  über  die  Kinder  vor,  die 
uns  beweisen,  dass  Mendelssohn  ein  liebender,  aber  keineswegs 
blinder  Vater  war,  der  mit  scharfem  Auge  die  Ent\nckelung 
der  Kinder  aufmerksam  verfolgte,  sich  der  guten  Anlagen,  der 
schönen  Aussichten,  die  ihm  in  ihnen  erblühten,  freute,  aber 
auch  ihi'e  Fehler  klar  erkannte. 


Tageseintheilung.  29 

Mendelssohn  theilte  seinen  Tag  folgendermassen  ein:  Sommer 
nnd  Winter  stand  er  Morgens  um  5  auf,  und  beschäftigte  sich 
dann  einige  Stunden  mit  wissenschaftlichen  Arbeiten.  Dieser 
Zeit  verdankt  sein  letztes  Werk  seine  Entstehung  und  den 
Namen  „Morgenstunden."  Von  9  bis  3  Uhr  war  er  auf  der 
Fabrik,  aber  auch  hier  standen  in  emer  kleinen  Bibliothek 
wissenschaftliche  Werke,  und  jede  Müsse  in  den  Geschäften 
benutzte  er.  Oefters  kamen  Fremde,  die  ilin  kennen  lernen 
wollten  und  dort  aufsuchten,  und  in  bunter  Mannigfaltigkeit 
drängten  sich  Arbeiter  mit  Proben,  Gelehrte  mit  philosophischen, 
Kaufleute  mit  Handels-Anliegen,  Comptoirgeschäfte  und  stille 
Momente  mit  den  Büchern.  Alles  behandelte  er  mit  gleicher 
Klarheit,  und  solcher  Wechsel  diente  dazu,  seinem  Geist  die 
frische  Spannki^aft  zu  erhalten. 

Von  drei  Uhr  ab  war  der  Nachmittag  frei.  Er  wurde 
theilweis  wieder  wissenschaftlichen  Arbeiten  gewidmet,  theilweis 
der  Erholung  in  der  Natur.  Berlin  war  damals  nicht  das 
Häuserungethüm  mit  unabsehbaren,  staubigen  und  übelriechenden 
Strassen,  man  konnte  leicht  nach  jeder  Richtung  hin  das  Freie, 
frische  Luft  und  den  Anblick  grüner  Felder  und  schattiger 
Bäume  erreichen  —  aber  den  Juden  wurde  das  Spaziergehen 
an  öffentlichen  Orten  auf  mancherlei  Weise  verbittert.  „Ich 
ergehe  mich,"  schreibt  Mendelssohn  an  Winkopp,  „zuweilen 
des  Abends  mit  meiner  Frau  und  meinen  Kindern.  Papa!  fragt 
die  Unschuld,  was  ruft  uns  jener  Bursche  dort  nach  ?  Warum 
werfen  sie  mit  Steinen  liinter  uns  her?  Was  haben  wir  ihnen 
gethan!  —  Ja!  lieber  Papa!  spricht  ein  anderes,  sie  verfolgen 
uns  immer  in  den  Strassen  und  schimpfen :  Juden !  Juden !  Ist 
denn  dieses  so  ein  Scliimpf  bei  den  Leuten,  ein  Jude  zu  sein? 
Und  was  hindert  dieses  andere  Leute?  —  Ach!  ich  schlage 
die  Augen  nieder,  und  seufze  mit  mir  selber :  Menschen !  Menschen 
Wohin  habt  Ihr  es  endlich  kommen  lassen?"  —  So  miethete 
sich  denn  Mendelssohn  einen  Garten,  wohin  er  in  der  guten 
Jahreszeit  aus  der  Stadtwohnung  immer  ging.  Letztere  war 
in  der  Spandauerstrasse  und  ist  nach  seinem  Tode  mit  einer 
Gedenktafel  versehen  worden.  —  Jenes  Gartens  erwähnt  er 
oft  mit  innigem  Behagen  in  seinen  Briefen;    er  lag  ganz  in  der 


30  Moses  Mendelssohn. 

Nähe  des  Nikolai'schen,  und  die  Freunde  weilten  bald  in  diesem 
bald  in  jenem.     „Kommen  Sie  zu  uns!"    schreibt  Mendelssohn 
an  Lessing  während  des   7  jährigen  Krieges,    „wir  wollen  in 
unserm  einsamen  Gartenhause  vergessen,  dass  die  Leidenschaften 
der  Menschen  den  Erdball  verwüsten.    Wie  leicht  wird  es  uns 
sein,   die  nichtswürdigen   Streitigkeiten  der  Habsucht  zu  ver- 
gessen, wenn  wir  unsern  Streit  über  die  wichtigsten  Materien, 
den  wir  schriftlich  angefangen,  mündlich  fortsetzen  werden."  — 
Kam    dann    der   Abend   heran,    so   versammelte    sich   im 
Mendelssohn'schen   Hause  fast  täglich  ein  Kreis  näherer  und 
entfernterer  Bekannten;  es  herrschte  jene  angenehme  Gesellig- 
keit, bei  der  jeder  im  Haus  Eingeführte  uneingeladen  Abends 
erscheint,  wann  es  ihm  beliebt,  und  bleibt,  solange  es  ihm  ge- 
fällt.    Man  findet  Bekannte,  wie  sie  denn  der  Zufall  vereinigt, 
es  wird  ein  lebhaftes,  immer  wechselndes   Gespräch  geführt; 
das  Abendessen  ist  einfach,  wie  es  diese  improvisirte  Gesellig- 
keit bedingt.    Solange  die  Familie  Mendelssohn  in  Berlin  lebte, 
ist  sie  ein  Hauptträger   dieser    schönen  Vereinigungsart   von 
Menschen  gewesen;    es  gab  fast  keinen  bedeutenden  Berliner, 
oder  Berlin  besuchenden  ausgezeichneten  Fremden,   der  nicht 
in  den   aufeinander   folgenden  Generationen  im  Hause  Moses 
Hendelssohn's,  Abraham  Mendelssohn-Bartholdy's,  Hensel's  und 
Dii'ichlet's  gewesen  wäre. 

Bei  Moses  drehte  sich  das  Gespräch  In  diesen  abendlichen 
Zusammenkünften  gewöhnlich  um  litterarische  und  Kunstinter- 
essen, selten  um  streng  wissenschaftliche  Gegenstände.  *)„Moses 
sass  gewöhnlich  als  Kampfrichter  auf  seinem  Armsessel  mit 
niedergesenkten  Augen.  Aber  Alle  sahen  auf  ihn  und  seine 
Bewegungen.  Oft  befeuerte  er  den  Muth  dui'ch  ein  plötzliches 
Auffaln-en,  oder  durch  einen  emsilbigen  Ausruf,  oft  belohnte  er 
durch  lächelnden  Beifall.  Ein  schneUes  Niedersehen,  ein  ver- 
neinendes Kopfschütteln  galt  ohne  ein  lautes  Wort  für  bedeu- 
tenderen Tadel.  Wenn  dieses  nicht  wirkte,  wenn  der  Gegner 
auf  wohlbegründete  Einwände  sich  nicht  ergab,  oder  wenn  end- 


*)  Aus  der  den  „gesammelten  Werken«  Yorgedruckten  Lebens- 
geschichte Moses  Mendelssohn's. 


Art  des  Disputirens.    Schutzjudenthum.  31 

lieh  Reden  und  Gegenreden  sich  durchkreuzten  und  verwirrten, 
so  stand  er  wohl  auf  von  seinem  Sitze,  trat  in  die  Mitte  der 
Streitenden  und  schien  liebreich  um  Gehör  zu  bitten.  Dann 
erfolgte  ein  ehrerbietiges  Stillschweigen.  Nun  nahm  er  den 
Faden  des  Gesprächs  auf,  entwickelte  die  Streitfrage,  stellte 
Satz  und  Gegensatz  mit  eüier  ihm  eigenthümlichen  Klarheit 
und  Kürze  gegeneinander,  und  Hess  die  Streitenden  die  Ver- 
gleichspunkte selbst  finden,  ohne  des  Einen  oder  des  Andern 
Parthei  gradezu  zu  nehmen.  Wenn  sich  dann  die  Hitze  gelegt 
und  die  Vereinigung  stattgefunden  hatte,  pflegte  Mendelssohn 
zu  sagen:  „Sehen  Sie,  meine  Herren!  Es  war  ein  blosser 
Wortstreit,  wie  es  gemeiniglich  der  Fall  ist,  ich  glaubte  gleich, 
Sie  würden  eines  Sinnes  werden."  —  Ueberhaupt  hatte  er  die 
Sokratische  Ai^t  des  Disputirens  angenommen,  das,  was  er  lehren 
wollte,  aus  dem  Geist  der  Schüler  herauszuentwickeln,  statt  es 
in  sie  hineinzutragen." 

Da  weder  Mendelssohn  noch  seine  Frau  geborene  Preussen 
waren,  so  konnten  sie  nach  den  damals  geltenden  Bestimmungen 
nur  unter  dem  Schutz   eines  ansässigen  Juden  in  Berlin  leben. 
Der  Marquis  d'Argens,  der  dies  zufällig  gehört  hatte  und  von 
Frankreich  her  derartige  Verhältnisse  nicht  kannte,    hielt  es 
für  unmöglich,  dass  ein  Mann  wie  Mendelssohn  täglich  in  der 
Gefahr   sein   sollte,    durch  die  Polizei  ausgelesen  zu  werden. 
Er   sprach  mit  Mendelssohn  darüber,   und  dieser  bestätigte  es 
und  sagte:    „Sokrates  bewies  ja   seinem  Freunde  Criton,   dass 
der  Weise   schuldig  ist  zu    sterben,  wenn  es  die  Gesetze  des 
Staates   fordern.     Ich  muss   also   die   Gesetze  des  Staates,  in 
dem  ich  lebe,    noch  für  milde  halten,   dass  sie  mich  bloss  aus- 
treiben, im  Fall  mich  in  Ermangelung  eines  andern  Schutzjuden 
auch  nicht  ein  Trödeljude  für  seinen  Diener  erklären  will."  — 
Der  Marquis  verlangte,  Mendelssohn  solle  eine  Bittschrift  auf- 
setzen,   die   er    selbst   übergeben  wolle.     Hierzu  wollte  sich 
Mendelssohn   anfangs   nicht   verstehen.     „Es   thut  mir  weh," 
sagte  er,  „dass  ich  um  das  Recht  der  Existenz  erst  bitten  soll, 
welches   das   Recht   eines  jeden  Menschen  ist,   der  als  ruhiger 
Bürger  lebt.     Wenn  aber  der  Staat  überwiegende  Gründe  hat, 
Leute  wie  meine  Nation  nur  in  gewisser  Anzahl  aufzunehmen, 


32  Moses  Mendelssohn. 

welches  Vorrecht  kann  ich  vor  meinen  übrigen  Mitbrüdern  haben, 
eine  Ausnahme  zu  verlangen?" 

Erst  den  häufigen  Ermahnungen  seiner  Freunde  gelang 
es,  ihn  endlich  zur  Abfassung  einer  Bittschrift  zu  bewegen, 
die  d'Argens  persönlich  übergab  —  und  Mendelssohn  bekam 
keine  Antwort;  es  erwiess  sich,  dass  die  Bittschrift  —  ob  ab- 
sichtlich oder  unabsichtlich,  bleibe  dahingestellt  —  verloren 
gegangen  war.  Auf  ein  Diiplicat  derselben  schrieb  d'Argens: 
„  Un  Philosophe  mauvais  catholique  suppUe  un  PMlosoplie  mauvais 
Protestant  de  donner  le  privilege  a  un  Philosophe  mauvais  juif.  11 
y  a  trop  de  philosophie  dans  tout  ceci^  pour  que  la  raison  ne  soit 
pas  du  cote  de  la  demande.''''  —  Mendelssohn  erhielt  das  Privi- 
legium 1763.  Später  bat  er  um  die  Ausdehnung  desselben 
auf  seine  Nachkommen,  welches  ihm  aber  Friedrich  der  Grosse 
abschlug  und  erst  Friedrich  Wilhelm  II.  1787  der  Wittwe 
und  den  Kindern  gewährte,  wie  es  in  der  betreffenden  Urkunde 
heisst:  „wegen  der  bekannten  Verdienste  Ihres  Mannes  und 
Vaters." 

So  milde  Mendelssohn  war,  fehlte  es  ihm  doch  nicht  an 
schlagfertigem  Witz.  Teller  wandte  sich  einst  an  ihn  mit 
folgender  scherzhaften  Anrede: 

An  Gott  den  Vater  glaubt  ihr  schon, 

So  glaubt  doch  auch  an  seinen  Sohn. 

Ihr  pflegt  doch  sonst  bei  Vaters  Leben 

Dem  Sohne  gern  Credit  zu  geben. 

Mendelssohn  antwortete: 

Wie  könnten  wir  Credit  ihm  geben? 
Der  Vater  wird  ja  ewig  leben. 

Und  die  Abfertigung  jenes  Lieutenants  ist  bekannt,  der 
ihn  anschnarrte:  „Womit  handelt  er?"  —  „Mt  etwas,  was 
Sie  brauchen  können  —  mit  Verstand." 

Ein  junger  Schriftsteller  brachte  ihm  einst  einen  Aufsatz 
über  die  Freiheit  des  menschlichen  Willens.  „Ich  habe  Ihren 
Aufsatz  nicht  lesen  können,"  sagte  ihm  Mendelssohn,  als  er 
nach  einiger  Zeit  um  sein  Urtheil  bat.  Der  Autor,  etwas 
empfindlich,  entschuldigte  sich,  dass  er  belästigt  habe.  Mendels- 
sohn beruhigte  ihn  und  versicherte,  er  habe  wirklich  Abhaltung 


Letzte  Schrift.  33 

gehabt.  „Wie  konnten  Sie  aus  meinen  vorigen  Aeusseningen 
schliessen,  dass  ich  Ihren  Aufsatz  für  schlecht  hielte?"  „Weil 
ich  glaubte,  Sie  hätten  ihn  nicht  lesen  wollen."  „Sie  machen 
also,  wie  ich  höre,  einen  Unterschied  zwischen  wollen  und 
können,"  versetzte  Mendelssohn,  „dann  darf  ich  ja  Ihren 
Aufsatz  über  WiUensfreiheit  gar  nicht  lesen,  denn  ich  höre, 
wir  sind  einig." 

Mendelssohn's  Gresundheit  war  von  jeher  eine  schwächliche, 
durch  angestrengtes  Arbeiten  in  früher  Jugend  und  unzuläng- 
liche Nahrung  noch  untergrabene   gewesen.     Doch  erhielt  er 
sie  durch   ausserordentlich  regelmässiges  Leben  in  leidUchem 
Zustand,   bis  die  Aufregungen  des  Lavater'schen  Streites  ihm 
eine  tiefeingreifende  Nervenkrankheit  zuzogen,  die  ihn  7  Jahre 
lang  zu  aUem  Studiren  unfähig  machte.    Die  aufopfernde,  treue 
Pflege    seiner   Frau   und   der   zweimalige  Besuch   des   Bades 
Pyrmont   stellte   ihn   indess   wieder   her.     So   lebte    er   noch 
ziemlich  rüstig  bis  zum  Schluss  des  Jahres  1785.     Aber  der 
Tod  Lessings  und  der  sich  in  Folge  dessen  anspinnende  Streit 
mit  Jacoby  regte  ihn  wieder  zu  tief  auf.    Am  letzten  Decembesr 
1785  brachte  er  das  Manuscript  seines  letzten  Worts  in  dieser 
Streitsache  zu  seinem  Verleger  Voss.   Am  Schluss  dieser  letzten 
Bogen,  die  er  geschrieben,   heisst  es:   „Ich  glaube,   es  sei  bei 
so  bewandten  Umständen  durch  Disput  wenig  auszurichten  und 
also  wohlgethan,  dass  wir  auseinander  scheiden.    Er  kehre  zu 
dem  Glauben  seiner  Väter  zurück,   bringe  durch  die  siegende 
Macht  des  Glaubens  die  schwermäulige  Vernunft  unter  Gehor- 
sam, schlage  die  aufsteigenden  Zweifel,  wie  in  dem  Nachsatze 
seiner  Schrift  geschieht,   durch  Autoritäten  und  Machtsprüche 
nieder,  „segne  und  versiegele   seine  kindliche  Wiederkehr  mit 
Worten  aus  dem  frommen   engelreinen  Munde  Lavater's."  — 
Ich  von  meiner  Seite  bleibe  bei  meinem  jüdischen  Unglauben, 
traue  keinem  Sterblichen  einen  „engekeinen  Mund"  zu,  möchte 
selbst  von   der  Autorität  eines  Erzengels  nicht  abhängen, 
wenn  von  ewigen  Wahrheiten  die  Rede  ist,  auf  welche   sich 
des  Menschen  Glückseligkeit  gründet,    und  muss   also   schon 
hierin  auf  eignen  Füssen  stehn  und  fallen;  oder  vielmehr  da 
wir  Alle,  wie  Herr  Jacoby   sagt,    „im  Glauben  geboren"  sind, 

Die  Familie  Mendelssohn.  L  3 


34  Moses  Mendelssohn, 

so  kehre  auch  ich  zum  Glauben  memer  Väter  zurück,  welcher 
nach  der  ersten  ursprünglichen  Bedeutung  des  Worts  nicht  in 
Glauben  an  Lehre  und  Meinung,  sondern  in  Vertrauen 
und  Zuversicht  auf  die  Eigenschaften  Gottes  besteht.  Ich  setze 
das  volle,  uneingeschränkte  Vertrauen  in  die  Allmacht  Gottes, 
dass  sie  dem  Menschen  habe  die  Kräfte  verleihen  können, 
die  Wahrheiten,  auf  welche  sich  seine  Glückseligkeit  gründet, 
ohne  Autorität  zu  erkennen,  und  hege  die  kindliche  Zuver- 
sicht zu  seiner  Allbarmherzigkeit,  dass  sie  mir  diese  Kräfte 
hat  verleihen  wollen.  Von  diesem  unwankenden  Glauben 
gestärkt,  suche  ich  Belehrung  und  Ueberzeugung,  wo  ich  sie 
finde.  Und,  Preis  sei  der  seligmachenden  Allgütigkeit  des 
Schöpfers,  ich  glaube  sie  gefunden  zu  haben,  und  glaube, 
dass  Jeder  sie  finden  könne,  der  mit  offenen  Augen  sucht,  und 
sich  nicht  selbst  das  Licht  verstellen  will."  — 

Auf  diesem  Gange  zum  Verleger  erkältete  er  sich;  die 
Sache  schien  zuerst  unbedeutend,  verschlimmerte  sich  aber 
schnell  und  am  4.  Januar  1786  starb  er.  Sein  Ende  war,  wie 
das  fast  aller  seiner  Nachkommen,  ein  schnelles,  nahezu 
schmerzloses.  Sein  Arzt,  Hofrath  Marcus  Herz,  berichtet 
darüber:*) 

„Mittwochs  des  Morgens  um  7  Uhr  kam  sein  Sohn  bestürzt 
zu  mir  und  bat  mich,  sogleich  zu  seinem  Vater  zu  kommen, 
der  sehr  unruhig  wäre.  Ich  eilte  hin  und  fand  ihn  auf  seinem 
Sopha  —  sein  Ansehn  ward  immer  misslicher:  und  während 
ich  in  das  benachbarte  offene  Zimmer  zu  seiner  Gattin  und 
seinem  Schwiegersohne  ging,  ihnen  seinen  Zustand  zu  ver- 
kündigen und  zu  bitten,  dass  man  mir  einen  Gehülfen  riefe, 
hörte  ich  ein  Geräusch  auf  dem  Sopha;  ich  sprang  hinzu,  und 
da  lag  er,  ein  wenig  von  dem  Sitze  herabgesunken,  mit  dem 
Kopfe  rückUngs  —  und  weg  war  Athem,  Puisschlag  und 
Leben.  Wir  versuchten  Verschiedenes,  ihn  zu  ermuntern, 
aber   vergebens.     Er   lag,    ohne   vorhergegangenes   Eöcheln, 


*)  s.  seine  Erzählung   an  Engel  in  dessen  Vorrede  zu  der 
Schrift:  „An  die  Freunde  Lessings." 


Tod.  35 

ohne  Zuckimg,  ohne  Verzerrung,  mit  seiner  gewöhnlichen 
Freundlichkeit  auf  den  Lippen,  als  wenn  ein  Engel  um  von 
der  Erde  hinweggeküsst  hätte.  Sein  Tod  war  der  so  seltene, 
natürliche,  ein  Schlagfluss  aus  Schwäche.  Die  Lampe  erlosch, 
weil  es  ihr  an  Oel  gebrach;  und  nur  ein  Mann  wie  er,  von 
seiner  Weisheit,  Selbstbeherrschung,  Massigkeit  und  Seelenruhe, 
konnte  bei  seiner  Konstitution  die  Flamme  57  Jahre  brennend 
erhalten."  — 

Die  Theilnahme,   als    die   Trauerkunde   sich   verbreitete, 
war  eine  allgemeine  in  ganz  Deutschland. 


8* 


Joseph  und  Nathan  Mendelssohn. 


Moses  Mendelssohn  Mnterliess  3  Söhne,  Joseph,  Abraham 
und  Nathan,  nnd  3  Töchter,  Dorothea,  Henriette  und  Recha, 
in  wenig  glänzenden  Verhältnissen;  er  hatte  nicht  viel  Ver- 
mögen sammeln  können,  und  die  Sorge  um  das  Wohlergehn 
seiner  Kinder  trübte  ihm  noch  die  letzten  Tage  seines  Lebens, 
Einige  Zeit  vor  seinem  Tode  fand  ihn  einer  seiner  Freunde 
unter  dem  Baume  vor  seinem  Hause  sitzen  und  fragte  ihn: 
^Was  haben  Sie,  lieber  Herr  Mendelssohn?  Sie  sehen  so  be- 
sorgt aus?"  —  ^Ja,''  antwortete  er,  „ich  bin  es  auch;  ich 
denke  daran,  wie  es  meinen  Kindern  gehn  wird  nach  meinem 
Tode,  da  ich  ihnen  nur  wenig  Vermögen  hinterlasse."  Und 
Joseph  Mendelssohn,  der  älteste  Sohn  Moses',  der  dies  in  der 
kurzen,  den  gesammelten  Werken  seines  Vaters  vorgedruckten 
Biographie  erzählt,  fügt  hinzu:  „Wenn  du  verklärter  Geist 
auf  uns  Erdenkinder  herabsiehst,  so  wirst  du  dich  überzeugen, 
dass  Gott  sich  aller  deiner  Nachkommen  angenommen  hat,  das» 
alle  ein  anständiges  Auskommen  haben  und  ein  ehrbares  Leben 
führen."  — 

Moses  Mendelssohn  folgte  der  Entwickelung  seiner  Kinder 
mit  aufmerksamem  Auge;  er  freute  sich  ihrer  guten  Anlagen, 
der  schönen  Aussichten,  die  ihm  in  ihnen  erblühten;  er  war 
aber  kein  blinder  Vater,  und  erkannte  auch  ilire  Fehler.  Herz 
Homberg,  der  Hauslehrer  bei  Moses  gewesen  war,  siedelte 
später  nach  Oestreich  über;  in  den  Briefen  an  diesen  kommen 


Joseph  Mendelssohn.  87 

häufig  Nachrichten  über  die  Kinder  vor;  so  schreibt  er  über 
Joseph,  den  Aeltesten:*)  Sie  wollen  wissen,  wie  es  mit  meinem 
Sohne,  Ihrem  Schüler  steht?  Ich  muss  Urnen  sagen,  dass  ich 
mit  seinem  Fleisse  zufrieden  bin;  er  macht  auch  ziemliche 
Progressen.  Wieviel  er  in  diesem  oder  jenem  Buche  gelernt 
hat,  darauf  sehe  ich  so  genau  nicht;  genug,  er  denkt,  und 
denkt  richtig  und  tief.  Auch  sein  Geschmack  fängt  an  sich 
zu  bilden.  Worüber  ich  zu  klagen  habe,  ist  das  ünbiegsame 
in  seinem  Charakter,  das  Unsanfte  in  seinem  ganzen  Wesen, 
das  ihn  zwar  nicht  unsittlich,  aber  doch  ungefällig  macht,  und 
auf  sein  künftiges  Glück  wenigstens  eine  schlimme  Wirkung 
haben  kann.  Sie  kennen  ihn:  er  war  immer  von  einer  Ge- 
müthsart,  die  zehnmal  eher  bricht  als  biegt;  und  so  ist  er 
noch.  Alle  meine  Bemühungen  sind  bisher  ohne  Wirkung. 
Er  ist  sogar  sophistisch  genug,  gegen  aUe  seine  Freunde  die 
ihn  (wiewohl  sehr  wider  meinen  Willen)  zuweilen  aufziehn, 
seine  Schwachheit  durch  Gründe  zu  behaupten.  Ich  gebe  fast 
die  Hoffnung  auf,  ihn  von  dieser  Seite  gebessert  zu  sehen, 
wenn  er  nicht  das  Glück  hat,  einem  Frauenzimmer  zu  Gefallen 
sich  etwas  mehr  Gewalt  anzuthun."  —  Und  an  einer  andern 
Stelle:**) 

„Mein  Joseph  hat  sein  hebräisches  Studium  sogut  als 
an  den  Nagel  gehängt.  Unglücklicherweise  war  er  unmittelbar 
nach  Ihnen  einem  Gelehrten  in  die  Hände  gekommen,  der  ein 
leerer  Meister  in  der  Disputirkunst  war,  und  so  sehr  auch 
Joseph  den  Scharfsinn  liebt  und  dem  Disputiren  ergeben  ist, 
so  hat  er  doch  für  die  eigentliche  ,, Haarspalterei"***)  keinen 
Sinn.  Es  gehört,  wie  Sie  wissen,  eine  ganz  besondere  Art 
des  Unterrichts  dazu,  an  dieser  Geistesübung  Geschmack  zu 
finden;  und  wiewohl  wir  Beide  diesen  Unterricht  selbst  genossen 
haben,  so  kamen  wir  doch  darin  überein,  dass  Joseph  lieber 
etwas  stumpfsinniger  bleibe,  als  dass  man  ihn  in  einer  so  un- 


*)  Moses  Mendelssohn's  gesammelte  Schriften.    Bd.  V.  S.  670. 
**)  A.  a.  0.  Bd.  V.  S.  673. 

***)  So  lässt  sich  wohl  das  im  Original  gebrauchte  hebräische 
Wort  wiedergeben. 


38  Joseph  Mendelssohn. 

fruchbaren  Art  des  Witzes  übe.  Der  Missgeschmack  den  er 
also  an  dem  Unterricht  seines  Lehrers  fand,  brachte  ihm  eine 
Abneigung  gegen  das  ganze  Studium  bei.  In  den  soliden 
Wissenschaften  macht  er  übrigens  gute  Fortschritte,  dringt 
tief  ein,  und  schaut  mit  festem,  forschendem  Blick  umher; 
thut  aber  niemals  grosse  Sprünge,  wie  von  einem  jungen, 
feurigen  Kopf  erwartet  werden  könnte.  In  Absicht  auf  seine 
künftige  Lebensart  haben  wir  noch  nichts  bestimmt.  Ich  bin 
noch  immer  ungewiss,  wozu  ich  ihm  rathen  soU.  Seine  Talente, 
und  guten  Anlagen  zu  den  gründlichen  Wissenschaften  lassen 
in  diesem  Fache  etwas  vorzügliches  von  ihm  erwarten.  Als 
Jude  aber  kann  er  blos  Arzneikunst  treiben,  und  zu  dieser 
hat  er  weder  Lust  noch  Genie.  Ihn  der  Handlung  zu  widmen 
ist,  wie  mich  dünkt,  noch  zu  früh.  Er  mag  also  vor  der 
Hand  alles  lernen,  wozu  er  Lust  und  Trieb  empfindet.  Zum 
Kaufmann  wird  er  dadurch  wenigstens  nicht  verdorben.  Er 
mache  es  allenfalls,  wie  sein  Vater  es  hat  machen  müssen: 
stümpere  sich  durch,  bald  als  Gelehrter,  bald  als  Kaufmann, 
ob  er  gleich  Gefahr  läuft,  keines  von  beiden  ganz  zu  werden. 

So  gern  er  übrigens  denkt,  und  so  richtig:  so  träge  und 
langsam  ist  er  zum  Schreiben.  Gut  und  gründlich  ist  Alles, 
was  er  aufsetzt.  Er  ergreift  aber  nur  selten  die  Feder:  nur 
alsdann  wenn  er  etwas  hört,  oder  selbst  denkt,  das  ihm  von 
Wichtigkeit  scheint.  Auch  freundschaftliche  Briefe  gelingen 
ihm;  aber  er  schreibt  sie  nur  alsdann,  wenn  sich  ihm  neue 
Gedanken  anbieten,  die  ihm  fruchtbar  scheinen.  Die  Uebung, 
seme  Gedanken  niederzuschreiben,  wird  in  unserer  besten  Er- 
ziehung mehrentheils   vernachlässigt. Mir  selbst  ist  es 

noch  allezeit  Arbeit,  so  oft  ich  meine  Gedanken  in  Schrift 
verwandeln  soU. 

Meine  übrigen  Kinder  schlagen  alle  vor  der  Hand  so  ein^ 
wie  wir  es  vermuthet  und  grösstentheils  gewünscht  hatten 
„nicht  lang  und  nicht  kurz,  nicht  weise  und  nicht  thöricht",*) 
bis  auf  meinen  kleinsten  Nathan,  der  sich  den  Weisen  nennt, 
und  dessen  Weisheit  noch  vor  der  Hand  darin  besteht,    dass. 


")  Jüdisches  Sprichwort. 


Joseph  Mendelssohn.  39 

er  von  Swa  Zuckerbrodt,  von  E.  Samuel  Pfefferkuchen  und 
von  der  Köchin  Hanna  alle  seine  übrigen  Bedürfnisse  er- 
wartet." 

Der  Erfolg  hat  gelehrt,  dass  Moses  Mendelssohn  Recht 
hatte,  wenn  er  meinte,  die  wissenschaftliche  Erziehung  ver- 
derbe seinen  Sohn  nicht  für  den  Kaufmannsstand.  Nicht  so 
richtig  prophezeite  er  mit  dem  „Durchstümpern"  und  Schwanken 
zwischen  Gelehrtem  und  Kaufmann.  Joseph  ergriff  diesen 
Stand,  voll  und  ganz;  aus  kleinen  Anfängen  heraus  legte  er 
den  Grund  zu  dem  noch  heut  seinen  Namen  führenden  Bank- 
hause, und  hinterliess  dasselbe  bei  seinem  Tode  auf  dem  sichern 
Wege  zu  seiner  jetzigen  Bedeutung. 

lieber  die  äusseren  Lebensschicksale  der  Hinterbliebenen 
in  der  ersten  Zeit  nach  Moses  Tode  wissen  wir  nicht  viel. 
Die  ersten  Jahre  lebte  die  Wittwe  noch  in  Berlin.  Hier  hatte 
auch  Joseph  bis  zum  Schluss  des  Jahres  1804  ein  kleines  Bank- 
geschäft, in  dem  nur  zwei  Commis  beschäftigt  wurden.  Dem- 
nächst siedelte  die  Familie  nach  Hamburg  über,  wo  sich  Joseph 
mit  seinem  jungem  Bruder  Abraham  associirte;  das  Berliner 
Geschäft  wurde  indess  nicht  aufgegeben. 

Abraham's  Frau  Lea  schildert  uns  das  Alter  ihrer  im 
Jahre  1812  gestorbenen  Schwiegermutter  als  ein  sehr  glück- 
liches und  rüstiges,  üeber  ihren  Schwager  Joseph  spricht  sie 
sich  gleich  nach  ihrer  Ankunft  in  Hamburg  folgendermassen 
aus:  „Sehr  befriedigend  kann  ich  Deine  Frage  nach  den  Be- 
kannten, die  mir  gefallen,  beantworten ;  da  erhält  bis  jetzt  un- 
streitig Joseph  den  ersten  Preis.  Dass  er  gescheut  und  angenehm 
in  der  Unterhaltung  ist,  weisst  Du;  nun  versichere  ich  Dich 
aber,  dass  er  in  den  paar  Tagen,  die  ich  ununterbrochen  mit 
ihm  gelebt,  mein  ganzes  Herz  gewonnen  hat,  so  froh  und 
freundlich,  so  gut  und  warm  und  heitern  Geistes  scheint  er 
mir.  Hm  mit  seinen  schönen  Kindern*)  zu  sehn,  ist  ein  wah- 
res Vergnügen  für  mich;  und  nun  ist  er  zuvorkommend  und 
herzlich,  wie  man  ihm  nie  zutraut;  ist  achtungswerth  als 
thätiger,  kluger  Geschäftsmann  und  treibt  nebenher  Litteratur 


*)  Alexander  und  Benny  Mendelssohn. 


40  Joseph  Mendelssohn. 

und  Wissenschaften  mit  Eifer  und  Eegsamkeit.  Auch  scheint 
er  mir  sehr  glücklich,  was  in  meinen  Augen  eins  der  ersten 
Talente  des  Gemüths  ist,  wenn  ich  so  sagen  darf,  d.h. 
von  der  Art  Innern  Glücks,  das  aus  voller  Lebenslust  und 
Thätigkeit  des  Geistes,  nicht  aus  Beschränktheit  und  Gedan- 
kenlosigkeit entsteht."  — 

Während  der  Besetzung  Hamburgs  durch  die  Franzosen 
erregten  Mendelssohns  das  Miss  fallen  derselben  und  mussten 
heimlich  bei  Nacht  und  Nebel  in  Verkleidungen  die  Stadt  ver- 
lassen. Sie  wandten  sich  nach  Berlin,  erweiterten  dort 
das  Bankhaus,  aus  dem  Abraham  später  ausschied,  und 
Berlin  blieb  fortan  der  Wohnsitz  der  Familie.  Joseph 
beschäftigte  sich  bis  zuletzt  in  seinen  Mussestunden  be- 
ständig mit  wissenschaftlichen  Gegenständen,  und  noch  als 
Greis  ergriff  er  manche  ihm  bis  dahin  unbekannte  Zweige 
des  menschlichen  Wissens  mit  grossem  Eifer  und  ruhte  nicht, 
bis  er  sie  sich  zu  eigen  gemacht.  Bestimmend  wirkte  wohl 
dabei  auf  ihn  das  universelle  Genie  A.  v.  Humboldt's  ein,  mit 
dem  er  bis  an  sein  Lebensende  eng  befreundet  war.  Eines 
Tages  kam  Humboldt  sehr  verstimmt  zu  ihm  und  theilte  ihm 
mit,  er  müsse  ausziehn,  sein  Wirth  habe  ihm  gekündigt,  und 
sei  ihm  dies  namentlich  seiner  vielen  naturhistorischen  Samm- 
lungen wegen  sehr  störend,  deren  Ein-  und  Auspacken  unend- 
liche Arbeit  verursache  und  nicht  ohne  Schaden  abgehe.  Jo- 
seph Mendelssohn  hörte  ihn  ruhig  an  und  sagte  nichts,  am 
Nachmittag  aber  erhielt  Humboldt  einen  Brief  von  ihm,  „er 
solle  ungestört,  solange  er  wolle,  wohnen  bleiben,  er  (Joseph)  sei 
jetzt  sein  Wirth,  er  habe  das  Haus  gekauft."  —  Derartige 
grossartige  Züge  seines  Lebens  Hessen  sich  mehrere  anführen. 

Joseph  hatte,  wie  sein  Vater,  das  Glück  eines  schnellen, 
schmerzlosen  Todes.  Seine  Nichte  Eebecka,  die  zweite  Tochter 
Abraham's,  schrieb  darüber  den  2  6.  November  1848  an  die  Familie: 
„Joseph  Mendelssohn  ist  gestern  früh  gestorben;  sein  Ende  war 
so  beispiellos  glücklich  wie  sein  ganzes  Leben.  Nur  wenige 
Tage  war  er  krank,  nicht  einmal  bettlägerig,  Tags  zuvor  hat 
er  sich  noch  mit  Algebra  beschäftigt,  gelesen,  die  Nacht 
ziemlich  gut  geschlafen;  der  Husten,  an  dem  er  einige  Tage 


Nathan  Mendelssohn.  41 

litt,  Hess  nach,  Morgens  liess  er  sich  ankleiden,  ging  allein 
nach  seinem  Lehnstuhle,  und  so,  nach  wenigen  Minuten,  ent- 
schlief er.  Es  war  ein  vorauszusehender  Verlust,  aber  ein 
unersetzlicher;  solche  eigenthümliche  bedeutende  Männer  wach- 
sen nicht  viel  nach;  es  gehörte  auch  sein  reichbeglückter 
und  bewegter  Lebenslauf  dazu,  um  ihn  so  auszubilden.  Ich 
habe  den  alten  Mann,  wie  Du  weisst,  sehr  selten  nur  gesehen, 
und  es  thut  mir  doch  gar  zu  leid,  dass  er  nicht  mehr  unter 
uns  weilt.  Wir  sind  wieder  bedeutend  ärmer  geworden,  seit 
dieser  stille,  ganz  in  sich  und  den  engen  Kreis  der  Seinigen 
zurückgezogene  Mann  von  seinem  thätigen,  rastlosen  Leben 
geschieden.''  — 

Jene  Zeilen  Lea's,  diese  ihrer  Tochter,  beide  gleich  aner- 
kennend, geschrieben  in  so  weit  auseinanderliegenden  Zeiten, 
geben  ein  schönes  Bild  eines  langen,  nützlichen,  reich  voll- 
brachten Lebens. 

Der  jüngste  Sohn  Moses',  Nathan,  lebte  abwechselnd  in 
Schlesien  und  in  Berlin,  wo  derselbe  schliesslich  eine  kleine 
Staatsanstellung  hatte;  er  überlebte  seine  Geschwister  alle, 
und  starb  erst  im  Jahre  1852  schnell,  und  schmerzlos.  Von 
seinen  Nachkommen  waren  mehrere  sehr  musikalisch,  ein  Erb- 
theil,  was  vielen  Descendenten  Moses'  beschieden  war  und  ist. 


Die  Töchter  Moses  Mendelssohns. 


Dorothea,  die  älteste  Tochter  Moses'  (im  Jahre  1765  in 
Berlin  geboren),  ist  durch  ihre  Ehe  mit  Friedrich  Schlegel 
allgemein  bekannt. 

Ihr  lebhafter  Geist  hatte  sich  durch  die  Anregung  im 
elterlichen  Hause  und  durch  die  Freundschaft  mit  Henriette 
Herz  und  der  Eahel  zu  höherer  Durchbildung  und  Voll- 
kommenheit, als  es  ihrem  Geschlecht  gewöhnlich  zu  Theil 
wird,  entwickelt.  Es  war  ein  gefährliches  Geschenk,  nament- 
lich da  Moses  Mendelssohn,  so  weit  er  auch  seiner  Zeit  und 
dem  Standpunkt  des  Judenthums  vorangeschritten  war,  doch 
eine  nicht  zu  billigende  Sitte  desselben  beibehalten  zu  haben 
scheint.  Bei  Eingehung  der  jüdischen  Ehen  wurde  nämlich 
damals  selten  der  zu  verheirathende  Mann,  das  Mädchen  nie 
um  seine  Meinung  gefragt;  die  Eltern  bestimmten  über  das 
Schicksal  ihrer  Kinder  mit  unumschränkter  Machtvollkommen- 
heit. Das  mochte  auch  in  der  gewöhnlichen  Gattung  jüdischer 
Familien  ganz  gut  gehn,  da  die  geistige  Entwickelung  der 
Männer  schon  sehr  unbedeutend,  die  der  Weiber  aber  gänzlich 
Null  war.  Nun  aber  sollten  die  hochgebildeten  Töchter 
Mendelssohn's,  die  grosse  Ansprüche  des  Verstandes  und  Her- 
zens zu  machen  gelernt  hatten,  in  derselben  Weise  an  Männer 
^vergeben"  werden,  wie  die  Töchter  des  ungebildetsten  Handels- 
juden. Es  existirt  ein  höchst  merkwürdiger  Brief  Mendels- 
sohn's, der  auf  seine  Denkweise  über  diesen  Punkt  eüi  helles 


Veit.    Friedrich  Schlegel.  43 

Licht  wirft:  Herz  Homherg,  der  Erzieher  im  Mendelssohn'schen 
Hause  gewesen  war,  ging  nach  Wien,  verlobte  sich  dort,  zeigte 
dies  Mendelssohn  an  und  schlug  zugleich  eine  Verbindung  eines 
Verwandten  seiner  Braut  mit  einer  Tochter  Mendelssohn's  vor. 
In  der  Antwort  heisst  es:  —  „Sicherlich  würden  wir  uns, 
meine  Tochter  und  ich,  und  (wenn  Sie  es  meiner  Eigenliebe 
vergeben  wollen)  vielleicht  auch  E.  und  Sie  sich  wohl  dabei 
befinden.    Nur  liegt  ein  Bedenken,  eine  Schwierigkeit  im  Wege, 

die   wohl  nicht  leicht  wegzuräumen   ist. Eine  Partlüe, 

die  nicht  Eigennutz  zu  Grunde  haben  soll,  muss  aus  Neigung 
entstehn.  So  wie  ich  den  rechtschafienen  E.  selbst  kenne  und 
durch  Sie  näher  kennen  lerne,  halte  ich  ihn  für  edeldenkend 
genug,  sich  über  alle  Eingebungen  des  Eigennutzes  zu  erheben 
und  aus  Neigung  zu  wählen.  Aber  diese  Neigung  muss  da 
sein,  bevor  sie  wirken  kann;  muss  gefühlt  werden,  wenn  sie 
EntSchliessung  zu  Wege  bringen  soll.  Sie  iässt  sich  aber 
nicht  voraussetzen,  entsteht  nicht  aus  Hörensagen,  weiss  nichts 
von  Tradition  oder  Köhlerglauben,  kennt  nui'  Evidenz  der  Sinne, 
und  übrigens  keine  Versicherung,  wenn  sie  auch  durch  AVunder 
und  Zeichen  bekräftigt  wii'd;  wie  ein  neckisches,  launiges 
Mädchen  ist  sie  grade  da,  wo  Ihr  sie  am  wenigsten  vermuthet, 
und  Iässt  Euch  vergebens  warten,  wo  Hir  auf  sie  Eechnung 
gemacht  habt.  Ihre  Genealogie  klingt  zuweilen  sehr  sonder- 
bar, aber  sicher  ist  sie  noch  selten  aus  Liebe  zu  des  Vaters 
Weltweisheit  entstanden. 

Da  diese  Theorie  der  Neigungen  sowohl  auf  Erfahrung 
als  auf  Grundsätzen  beruht,  so  möchte  ich  mir  selbst  nicht 
gern  einen  Gedanken  in  den  Kopf  setzen,  der  mich  sehr  schwin- 
delig machen  könnte.  In  der  That,  ein  Schwiegersohn  wie  E. 
wäre  keine  geringe  Nahrung  für  meinen  Stolz !  —  Also  hiervon 
für  dieses  Mal  genug."  — 

Mit  welchen  Gründen  weist  Mendelssohn  den  Vorschlag 
zurück?  Sie  wären  vortrefflich,  wenn  sie  von  der  Neigung 
des  Mädchens  handelten,  aber  der  Vater  des  Mädchens  spricht 
nur  immer  von  der  Neigung  des  jungen  Mannes !  Seiner  Tochter 
denkt  er  nicht  mit  einer  Silbe.  Es  kommt  gar  nicht  die  Mög- 
lichkeit in  Betracht,  dass  sie  auch  eine  Individualität,  eine  Nei- 


44  Dorotbea  Mendelssohn. 

gnng  haben  könnte;  wenn  nur  der  Mann  sie  mag,  ihre  Ein- 
\villigung  versteht  sich  von  selbst,  und  „sie  würde  sieb  wohl 
dabei  befinden."  — 

Diese  orientalische  Anschauung  des  Weibes,  als  einer  Sache 
gleichsam,  rächte  sieb  an  allen  Töchtern  Mendelssohn's.  Doro- 
thea zuvörderst  war  in  dieser  Weise,  ebenso  wie  ihre  Freundin 
Herz,  noch  jung  einem  Manne  vermählt  worden,  dem  sie  keine 
Neigung  entgegenbrachte,  einem  jüdischen  Kaufmann  Veit.  Es 
war  ein  durch  und  durch  braver,  guter  Mann;  aber  er  konnte 
ihr  nicht  die  Schätze  eines  gelehrten  und  tiefen  Geistes  bieten, 
die  Marcus  Herz  seiner  Frau  bot  und  die  für  Dorothea  durch 
die  Kreise,  in  denen  sie  ihre  Jugend  verlebte,  ein  Bedürfniss 
geworden  waren.  So  blieb  denn  die  Ehe,  trotz  der  Geburt 
zweier  Söhne,  eine  von  Grund  aus  unharmonische  und  Dorothea 
suchte  bei  den  Büchern  und  ausser  dem  Hause  bei  ihren  Freun- 
dinnen Nahrung  für  ihren  vielseitigen  und  leichtbeweglichen 
Geist. 

Da  trat  ihr  —  es  war  im  Juli  des  Jahres  1797  —  im 
Herzischen  Kreise  ein  Mann  entgegen,  dem  trotz  seiner  Jugend, 
—  er  war  erst  fünfundzwanzig  Jahr  alt,  —  schon  ein  litterarischer 
Ruf  vorangegangen  war,  dem  mannigfache  Bildung,  glänzender 
Witz  und  äussere  Schönheit  in  ihren  Augen  grossen  Reiz  ver- 
leihen mussten  —  Friedrich  Schlegel,  der  seinerseits  sich  auch 
zu  ihr  bald  lebhaft  hingezogen  fühlte,  obgleieh  sie  sieben  Jahre 
älter  als  er  und  keine  Schönheit  war. 

Jemehr  die  Zuneigung  zwischen  diesen  beiden  echten  Kindern 
der  romantischen  Zeit  wuchs,  umsomehr  lockerte  sich  naturge- 
mäss  das  Band,  welches  Dorothea  an  Simon  Veit  knüpfte,  und 
es  gelang  den  vermittelnden  Bemühungen  der  Freunde,  Henriette 
Herz  und  Schleiermacher,  (in  den  letzten  Tagen  des  Jahres 
179S)  die  Scheidung  zu  Stande  zu  bringen.  Ein  eigentliches 
Zerwürfniss  fand  nicht  statt:  Veit  bewies  sich  auch  nach  der 
Trennung  immer  gegen  sie  als  edler  Freund,  während  sie  ihren 
Söhnen,  die  mit  ihr  lebten,  eine  treue,  aufopfernde  Mutter  blieb. 
Der  jüngste  dieser  Söhne  war  der  im  Jahre  1877  hochbetagt 
gestorbene,  berühmte  Maler  Philipp  Veit. 

Eine  Heirath  mit  Friedrich  Schlegel  kam  vorläufig  noch 


Litterarische  Thätigkeit.  45 

nicht  zu  Stande.  Er  schreibt  nach  der  Trennung  von  Veit 
jubelnd  an  seine  Schwägerin  Caroline  (Brief  120):  „Freuen 
Sie  sich,  dass  mein  Leben  nun  Grund  und  Boden,  Mittelpunkt 
und  Form  hat ;  nun  können  ausserordentlicbe  Dinge  geschehen.*' 
Diese  bestanden  dann  in  der  Hervorbringung  des  vielberufenen, 
von  Schleiermacher  vertheidigten  Romans  „Lucinde",  in  welchem 
er  sieb  in  dem  Julius,  die  über  alles  Geliebte  in  der  Lucinde, 
der  Titelheldin,  darstellte. 

Vorerst  führte  er  (im  Oktober  1799)  Dorothea  seinem 
Bruder  Wilbelm  und  dessen  Gattin  Caroline  zu,  die  sie  in  Jena 
gastlich  aufnahmen.  Hier  entzündeteAugust  Wilhelm  Schlegel,  der 
alle  Welt  und  namentlich  seinen  unproduktiven  Bruder  Friedrich 
zum  Dichten  antrieb,  auch  in  Dorothea  die  Lust  zum  Schrift- 
stellern. Diese  Thätigkeit  schildert  R.  Haym,  der  verdienst- 
volle Geschichtschreiber  der  romantischen  Schule,  mit  folgenden 
Worten :  *) 

^Die  arme  Dorothea  in  der  That,  die  mit  so  rücksichts- 
loser Entschlossenheit  ihr  Lebensschicksal  an  das  ihres  Freundes 
geknüpft  hatte,  wurde  zur  Dichterin,  sie  wusste  nicht  wie 
Li  ihrem  Gemüth  lag  vieles,  was,  wenn  es  mit  schöpferischer. 
Kraft  verbunden  ist,  den  Werth  der  Musenkunst  erhöhen  mag. 
Sie  war  der  selbstlosesten  Hingebung,  der  aufopferndsten  Treue 
fähig  und  hat  Beides  unter  harten  Prüfungen  in  dem  Verhält- 
niss  zu  Friedrich,  dem  selbstsüchtigen,  anspruchsvollen,  nichts 
weniger  als  gutmüthigen  Manne  bewiesen.  Ein  starker  Geist 
wohnte  in  diesem  schwächlichen  Körper,  stark  vor  Allem  im 
Stillhalten,  im  Dulden  und  Entsagen.  Es  ist  rührend  zu  sehen, 
wie  sie  nicht  bloss  die  geistigen  Literessen,  sondern,  was  schwerer 
ist,  die  Sorge  ihres  Freundes  von  ganzem  Herzen  theilt  und 
seine  Launen  erträgt.  Es  ist  ihr  Stolz,  ganz  für  den  geliebten 
Mann  zu  leben,  ihn  zu  entschuldigen  und  Alles  zum  Besten 
zu  kehren.  Als  „Auslegerin  und  Ergänzerin«  stellt  sie  sich 
zwischen  Friedrich  und  Schleiermacher,  immer  bemüht,  die 
drohenden  Missverständnisse  und  Verstimmungen  zu  beseitigen. 
Erleichtert  wird  ihr   die  Rolle  des  Duldens  durch  die  tiefste 


*)R.Haym:  „Die  romantische  Schule."  (Berlin  1870.)  S.  663  ff. 


46  Dorothea  Mendelssohn. 

Bescheidenheit  und  ebenso  durch  die  unverwüstliche  Heiterkeit 
ilires  Gemüths.  Von  weichlicher  Sentimentalität  keine  Spur. 
Dire  Briefe,  die  früheren  zumal,  zeigen  neben  echt  weiblichem 
Gefühl  einen  Schatz  munterer  Laune,  der  ihr  nie  versagt  und 
den  sie  in  allerlei  Schalkheit,  in  unschuldigen  Neckereien,  zu- 
weilen auch  in  recht  schnippischen  Wendungen  an  den  Mann 
bringt.  Es  muss  hart  kommen,  wie  es  denn  in  späterer  Zeit 
hart  genug  kam,  wenn  sie  bitter  und  leidenschaftlich  werden 
soll;  dann  meint  man  wohl  zu  sehen,  wie  sie  die  Nase  rümpft 
und  die  Lippen  auf  wirft  und  es  steht  ihr  das  keineswegs  gut; 
aber  der  hässliche  Zug  ist  auch  rasch  wieder  verschv/unden, 
die  Regel  ist,  dass  sie,  um  ihi-e  eignen  Worte  zu  brauchen, 
„auch  unter  Thränen  sich  des  Lachens  nicht  enthalten  kann, 
wo  es  nur  irgend  etwas  Lachenswerthes  giebt."  Gewiss,  sie 
thut  sich  selbst  Unrecht,  wenn  sie  einmal  alles  Misslingen 
Friediich's  als  ihr  eigenes  Verschulden  auffasst,  und  dabei  von 
der  Disharmonie  spricht,  die  mit  ihi'  geboren  worden  und  die 
sie  nie  verlassen  werde.  Es  war  keine  andere  Disharmonie 
in  ihr,  als  die,  welche  ein  Weib  wohl  zuweilen  beunruhigen 
mag,  dass  ihr  Gefühl  sich  fortwährend  mit  einem  männlich 
klaren  Verstände  abzufinden  gezwungen  war.  Sie  war  die 
echte  Tochter  Moses  Mendelssohn's.  Ihre  Offenheit  und  Wahr- 
haftigkeit, ihr  gesundes  Urtheil,  ihr  praktischer  Blick,  zusammen 
mit  iliren  sonstigen  trefflichen  Eigenschaften,  machte  sie  Männern 
wie  Fichte  und  Schleiermacher  werth.  Es  ist  gar  merkwürdig, 
wie  ihr  strebender  Geist  sie  mit  der  Gedankenwelt  und  den 
Einbildungen  der  Romantiker  verwickelte  und  wie  sie  zwischen- 
durch doch  für  die  unromantische  Wirklichkeit,  bis  auf  das 
Oekonomische  herab,  einen  unbestochenen  Sinn  sich  bewahrte. 
Gelegentlich  kömmt  eine  Ahnung  über  sie,  dass  all'  die  ästhetisch- 
litterarischen  Wichtigkeiten,  die  sie  als  Verehrerin  Friedrich's 
eben  auch  wichtig  nehmen  muss,  im  Grunde  blosse  Nichtig- 
keiten seien.  Sie  möchte  so  gern  in  Friedrich  einen  Künstler 
sehen,  aber  recht  lieb  würde  er  ihr  erst  sein,  wenn  er  sich  als 
tüchtiger  Bürger  in  einem  echten  Staate  hervorthäte;  das 
ganze  Wesen  und  Wollen  ihrer  revolutionären  Freunde  scheint 
ihi-  zum  Litterarischen,  zur  Kritik  und  „alle  dem  Zeuge"  wie 


Ihr  Roman  „riorentin".  47 

ein  Eiese  in  ein  Kinderbettclien  zu  passen,  nnd  ginge  es  nach 
ihr,  so  machten  sie  es  wie  Götz  von  Berlichingen,  der  die 
Feder  nur  ansetzte,  um  von  der  Arbeit  des  Schwertes  auszu- 
ruhen. Sie  sagt  das  dem  Freunde  Schleiermacher  ganz  dreist 
und  offen,  und  wenn  man  andere  Stellen  ihrer  Briefe  liest,  so 
stellt  man  sich  leicht  vor,  wie  oft  sie  mit  herzlichem  Lachen 
die  überfeinen  Eeflexionen  Schleiermacher's  unterbrochen,  oder 
Friedi'ich's  transcendentale  Ironie  über  den  Haufen  geworfen 
haben  wird,  und  wie  sie  dann  ganz  gewiss  in  beiden  Fällen 
gegen  die  beiden  wunderlichen  Männer  Recht  hatte." 

GeschriftsteUert  musste  nun  einmal  im  Schlegel'schen  Kreise 
werden,  und  so  machte  sich  denn  Dorothee  neben  anderen  Arbeiten 
auch  an  einen  Roman,  „Florentin".  Haym  sagt  über  denselben: 
„Nicht  etwa,  dass  sie  ein  Seitenstück  zur  Lucinde  zu  liefern 
Willens  gewesen  wäre!  Jeder  Gedanke,  sich  mit  dem  „gött- 
lichen Friedrich"  auf  eine  Linie  stellen  zu  wollen,  würde  ihr 
ohne  Zweifel  wie  ein  Majestätsverbrechen  vorgekommen  sein. 
Der  Verfasser  der  Lucinde  war  in  ihren  Augen  ein  Künstler; 
ihr  war  es  genug,  wenn  es  ihr  gelang,  ihm  Ruhe  zu  schaffen 
und  in  Demuth  als  Handwerkerin  Brod  zu  verdienen,  bis  er 
selbst  es  könne.  Es  war  ein  kindischer  Triumph  für  sie,  dass 
sie  die  Erste  gewesen,  die  zur  Zufriedenheit  des  Meisters  Wil- 
helm einige  Stanzen  zu  Stande  gebracht,  die  sie  ihrem  Florentin 
in  den  Mund  legte.  Mit  klopfendem  Herzen  und  erröthenden 
Angesichts  schickte  sie  die  Aushängebogen  des  Romans,  als 
endlich  ein  erster  Band  im  Herbst  1800  fertig  geworden,  an 
Schleiermacher,  und  aUes  Lob  der  Freunde  konnte  ihre  beschei- 
dene Meinung  nicht  ändern.  Sie  fuhr  fort,  sich  ihrer  blauen 
Strümpfe  ganz  ernstlich  zu  schämen  und  über  die  vielen  rothen 
Striche  zu  lächeln,  die  ihr  Manuscript  sich  hatte  gefallen  lassen 
müssen,  weil  „immer  der  Teufel  an  den  Stellen  regierte,  wo 
der  Dativ  oder  Akkusativ  regieren  sollte."  Das  Liebste  und 
Beste  an  dem  Buch  war  in  ihren  Augen  doch  der  Name  Fried- 
rich's,  der  sich  auf  dem  Titel  als  Herausgeber  genannt  hatte, 
und  die  beiden  an  sie  gerichteten,  auf  sie  bezüglichen  Sonette 
desselben.  —  Sie  hätte  sich  immerhin  ein  wenig  mehr  auf  den 
humoristischen  Taugenichts  einbilden  dürfen,  denn  Roman  gegen 


48  Dorothea  Mendelssohn. 

Roman  gehalten,  ist  der  Florentin  in  seiner  bescheidenen  Un- 
selbständigkeit ein  hundertmal  besserer  Eoman,  als  die  Lucinde 
mit  ihrer  anmasslichen  Originalität." 

Während  Dorothea  so  in  litterarischer  Thätigkeit  leidliche 
Befriedigung  fand,  wurde  ihr  diese  in  ihrem  häuslichen  Leben 
sowohl  durch  Friedrich  Schlegel's  Launenhaftigkeit,  als  durch 
das  immer  unfreundlicher  werdende  Verhältniss  zwischen  ihr 
und  Caroline,  Wilhelm's  Gattin,  nicht  in  gleichem  Masse  zu 
Theil,  Zerwürfnisse,  bei  denen  der  Löwenantheil  der  Schuld 
auf  Letztere  fällt.  Der  üble  Einfluss  dieser  Frau  ^vurde  aber 
bald  dadurch  aufgehoben,  dass  sie  sich  von  ihrem  Gatten 
trennte,  um  den  Philosophen  Schelling  zu  heirathen,  der  zuvor 
ihre  Tochter  erster  Ehe,  Auguste  Böhmer,  gewählt  hatte,  sich 
aber,  als  diese  starb,  der  Mutter  zuwandte,  und  —  abermals 
ein  Zeichen  jener  Zeit  —  keineswegs  mit  seinem  Freunde 
Wilhelm  Schlegel  deswegen  zerfiel,  sondern  sie  ungehindert 
heimführte. 

Friedrich  Schlegel,  dessen  Arbeiten  in  Jena  weniger 
glücken  wollten,  als  die  seiner  Freundin,  riss  sich  endlich  (im 
Jahre  1802)  aus  den  hemmenden  Kreisen  los  und  reiste  mit 
Dorothea  und  deren  Sohn  Philipp  Veit  nach  Paris,  wo  Doro- 
thea zum  christlichen  Glauben  übertrat,  und  die  Liebenden  den 
Bund  der  Ehe  schlössen.  Hier  widmete  sich  Schlegel  mit  Er- 
folg seinen  indischen  Studien,  gab  (1803)  eine  Zeitschrift 
„Europa"  heraus,  eröffnete  ein  Kollegium  und  sammelte  einen 
Ki-eis  um  sich,  von  dem  es  in  „Schmidt's  Necrologen"  heisst: 
„Friedrich  von  Schlegel  lud  seine  deutschen  Bekannten  und 
Freunde  Sonntag  Abends  zum  Thee;  öfters  las  er  dann  aus 
Shakespeare,  oder  ein  Stück  von  Tieck  vor,  wo  sich  beim 
Zerbino  u.  a.  0.  Gelegenheit  fand,  die  Masken  zu  nennen  und 
ergötzliche  Kommentare  zu  machen.  Er  las  ausserordentlich 
schön;  dieses  Lob  lehnte  er  ab,  und  äusserte,  nur  Tieck  lese 
ganz  herrlich,  zumal  den  Shakespeare;  dies  ist  wahr,  doch 
wenn  man  richten  sollte,  müsste  man  eingestehn,  Tieck  Ist  der 
Erste  in  der  Kunst,  Schlegel  in  der  Natürlichkeit  des 
Vortrages.  Es  ging  sehr  angenehm  in  diesem  Kreise  zu. 
Dorotheas  vorsorglicher,  liebender  Sinn  wusste  überhaupt  die 


Häusliches  Leben.  49 

Häusliclikeit  ihres  stillen,  wohlgeordneten  Lebens  fretindlicli 
zu  gestalten.  Alles  war  traulich,  heimlich,  angemessen  und 
wohlthuend  um  sie  her.  Musterhaft  und  angestrengt  übte  sie 
weiblichen  Fleiss.  Unbegreiflich  ist's,  wie  sie  noch  Zeit  zum 
Schreiben  fand;  allein  sie,  deren  flinke,  geschickte  Hand  Klei- 
der und  Wäsche  nähte,  Strümpfe  strickte  und  ausbesserte,  und 
sich  am  häuslichen  Heerde  bemühte,  war  auch  die  Kopistin 
aller  Schriften  ihres  Gemals  und  schuf  fortwährend  Schönes 
und  Treffliches.  Sie  arbeitete  damals  an  dem  (nicht  erschie- 
nenen) zweiten  Theile  des  Florentin,  schrieb  für  die  „Europa" 
gediegene  Aufsätze  (diese  sind  mit  D.  unterzeichnet),  über- 
setzte den  Merlin  in  gedrängtem,  trefflichem  Auszuge,  führte 
eine  ziemlich  starke  Korrespondenz  und  fand  noch  Zeit,  die 
merkwürdigsten  Gegenstände  der  Kunst  zu  betrachten,  bis- 
weilen Konzerte  and  Schauspiele  zu  besuchen,  alles  Neue  zu  lesen, 
die  Abende  durch  Geselligkeit  zu  erheitern,  durch  Vorlesungen 
zu  beseelen.  Hinreissend  schön  las  sie  vor,  doch  stets  nur 
im  engsten  Kreise  und  wenn  Friedrich  in  seinem  Zimmer  ar- 
beitete. Vor  Wenigen  nur  bekannte  sie  sich  als  die  Verfas- 
serinn  des  Florentin  und  ihrer  anderen  Dichtungen  und  Schrif- 
ten. Sie  war  stolz  darauf,  dass  ihre  Sachen  unter  Schlegel's 
Namen  erschienen,  und  äusserte  überhaupt,  dass  Berühmtheit 
den  Frauen  nicht  wohlthue,  und  dass  sie  jedes  Glück  und 
jeden  Glanz  nur  von  der  Liebe  erwarten  und  annehmen  müss- 
ten.  Sie  war  bald  das  Herz,  bald  die  Hand,  bald  der  Geist 
ihres  Mannes,  und  nur  sie  selbst,  um  alles  dieses  recht  schön 
und  genügend  zu  sein.  Sie  stand  in  dieser  Art  ganz  einzeln 
auf  ihrer  Höhe  liebender  Hingebung  und  Werkthätigkeit,  und 
immer  war  sie  stark,  freudig  und  heiter,  ihrer  selbst  mächtig, 
und  für  Andere  vollhaltig  da.  dre  Schwester  Henriette,  die 
Rahel  in  ihren  Briefen  „das  Feinste  und  Tiefste  nennt,  was 
sie  gekannt,"  hatte  einen  stilleren  Zauber,  einen  gehalteneren 
Ernst,  war  wenig  expansiv,  und  bedachtvoller  auf  alle  Aeusser- 
lichkeiten,  indess  es  innerlich  vielleicht  nichts  Glühenderes  und 
Reichhaltigeres,  noch  Zarteres  gab,  als  sie." 

Die  Pariser  Zeit  war  der  Glanzpunkt  in  Dorotheens  Leben, 
aus  dessen  fernerem  Verlauf  nur  noch  anzuführen  ist,    dass 

Die  Familie  Mendessohu.   L  4 


50  Dorothea  Mendessolin. 

sie  sammt  ihrem  Gatten  und  Solin  Philipp  auf  der  Rücki'eise 
von  Paris  in  Kölln  zur  katholischen  Religion  übertrat.  Später 
(1818 — 19)  lebte  sie  bei  ihren  Söhnen,  die  sich  der  Malerei 
widmeten,  in  Rom,  und  verkehrte  dort  viel  in  dem  Humboldtschen 
Kreise.  Den  Rest  ihres  vielbewegten  Lebens  brachte  sie  in 
Frankfurt  a.M.  zu,  woselbst  Friedrich  Schlegel  östreichischer 
Legationsrath  bei  der  Bundestagsgesandtschaft  geworden  war 
und  bis  zu  seinem  Tode  1829  blieb.    Sie  starb  im  Jahr  1839. 

Moses  Mendelssohn's  zweite  Tochter,  Recha,  wurde  an  den 
Mecklenburgischen  Hofagenten  Meyer  verheirathet.  Auch  diese 
Ehe  war  keine  glückliche  und  wurde  nach  einiger  Zeit  auf- 
gelöst. Recha  gründete  dann  eine  Pensionsanstalt  für  junge 
Mädchen  in  Altona  und  lebte  später  in  Berlin  in  naher 
Beziehung  zu  ihrem  Bruder  Abraham.  Sie  war  eine  geistvolle, 
kluge,  leider  aber  sehr  kränkliche  Frau. 

Die  dritte  Tochter,  Heniiette,  blieb  unverheirathet,  lebte 
in  den  ersten  Jahi'en  dieses  Jahrhunderts  in  Wien,  ging,  wahr- 
scheinlich durch  ihren  Bruder  Abraham  veranlasst,  nach  Paris, 
und  leitete  hier  ebenfalls  eine  Pensionsanstalt  in  dem  grossen 
Garten  des  Fouldschen  Hauses. 

Varnhagen  v.  Ense  schildert  ihr  dortiges  Leben  im  Jahre 
1810*)  folgendermassen:  „Nach  dem  vielfachen  Tagesgewirr, 
und  wenn  weder  Frascati  noch  eines  der  Theater  besucht 
wurden,  oft  auch  schon  vom  frühen  Nachmittag  an,  gewährte 
mir  ein  Garten  in  der  Rue  Richer  den  traulichsten ,  be- 
ruhigendsten Aufenthalt.  Dort  wohnte  in  einem  Gartenhause 
Henriette  Mendelssohn,  die  sinnvolle,  feingebildete  Schwester 
der  Frau  v.  Schlegel,  und  leitete  eine  Pensionsanstalt  kleiner 
Mädchen.  Sie  selbst  war  unanselmlich ,  etwas  verwachsen, 
aber  dennoch  eine  Erscheinung,  von  der  man  sich  angezogen 
fühlte,  so  sanft  und  doch  so  sicher,  so  bescheiden  und  doch 
zuverlässig  war  ihr  ganzes  Wesen.  Sie  hatte  scharfen  Ver- 
stand, ausgebreitete  Kenntnisse,  helles  ürtheil  und  dabei  die 
feinste  Weltsitte,   den  erlesensten  Takt.    Mit   der  Litteratur 


*)  Denkwürdigkeiten  des  eigenen  Lebens  von  K.  A.  Varnhagen 
V.  Ense.    3.  verm.  Aufl. 


Varnhageu  bei  Henriette  Mendelssohn.  61 

^er  Deutschen,  der  Franzosen  und  Engländer,  zum  Theil  auch 
der  Italiäner,  war  sie  wohlvertraut  und  sprach  das  Französische 
und  Englische  wie  eine  Eingeborene.  Bei  solchen  Eigenschaften 
konnte  ilir  ein  edler  Gesellschaftskreis  nicht  fehlen,  den  sie 
jedoch  um  ihres  Pflichtberufes  willen  möglichst  einzuschränken 
suchte.  Als  Frau  v.  Stael  noch  in  Paris  sein  durfte,  kam  sie 
öfter  zu  Fräulein  Mendelssohn,  ebenso  Benjamin  Constant; 
Frau  von  Constant  sah  ich  zuerst  bei  ihr.  Mad.  Fould,  welche 
das  Vorderhaus  des  Gartens  bewohnte ,  fühi'te  bisweilen  ihre 
Gäste  der  angenehmen  Freundin  zu;  Spontini  sass  hier  ganze 
Abende  mit  uns  im  Mondschein  und  sann  auf  neue  Lorbeeren, 
die  er  den  durch  die  Vestalin  jüngst  gewonnenen  Mnzufügen 
könnte,  wenigstens  schien  er  sehr  zerstreut  und  nahm  an  den 
Gesprächen  wenig  Theil.  Frau  von  Pobeheim  brachte  den 
Dänen  Heiberg  mit,  der  durch  Talleyrand  im  auswärtigen 
Ministerium  angestellt  worden  war,  aber  Müsse  genug  behielt, 
um  vorzugsweise  der  Litteratur  zu  leben.  Auch  Frau  von 
€hezy  und  Frau  von  Quandt,  beide  aus  Berlin,  sah  ich  hier 
zum  ersten  Mal.  Humboldt  stand,  wenn  auch  jetzt  etwas 
entfernt,  in  bestem  Andenken ;  Koreff  und  der  Baron  Drieberg 
erschienen  seit  einiger  Zeit  selten ;  desto  häufiger  der  Ritter 
von  Eskeles,  der  früher  in  Wien  um  die  Hand  der  liebens- 
würdigen Erzieherin  geworben  hatte  und  noch  jetzt  ihr  mit 
Neigung  zugewandt  war. 

Hier  fanden  oft  merkwürdige  Unterhaltungen  statt;  die 
deutschen  und  französischen  Ansichten,  welche  meist  keine 
Vermittelung  zuzulassen  schienen,  empfingen  sie  unerwartet 
durch  die  glückliche  üebersetzung ,  welche  Fräulein  Mendels- 
sohn ihnen  zu  geben  wusste,  und  wobei  gerade  die  Worte  am 
wenigsten  übersetzt  werden  durften.  Hier  wurde  der  Inhalt  des 
noch  unter  der  Presse  befindlichen  Buches  der  Frau  von  Stael 
über  Deutschland  im  Voraus  erörtert,  und  ich  erliielt  darauf  im 
tiefsten  Vertrauen  die  Aushängebogen  desselben  ausgeliefert, 
die  ich  wohl  mit  Spannung,  aber  auch  mit  Missbehagen  und 
zum  Theil  mit  Unwillen  las,  indem  ich  einseitig  und  ungerecht 
nicht  erwägen  wollte,    was    und  wie    das  Buch  in  Frankreich 

wii'ken  müsse,  sondern    nur  wiefern  es  für  uns  das  Deutsche 

4* 


52  Henriette  Mendelsohn. 

wiedergäbe.  Bisweilen  traten  auch,  wenn  der  Boden  sicher 
war,  die  politischen  Meinungen  ohne  Scheu  hervor,  und  da 
war  es  merkwürdig,  welche  Kenntniss  der  geheimsten  Ver- 
hältnisse und  Thatsachen  hier  von  stillen  Privatpersonen  oft 
überraschend  dargelegt  wurde,  eine  Kenntniss,  nach  welcher 
ich  die  Diplomaten  nicht  selten  mit  äusserster  Anstrengung 
und  doch  vergebens  jagen  sah.  Die  näheren  Ursachen  der 
Entlassung  Fouche's,  die  Eänke  des  nachher  so  berüchtigten 
Ouvrard  und  was  sonst  damit  zusammenhing,  alles  wurde  hier 
in  grösster  Genauigkeit  mitgetheilt. 

Lieber  als  die  gesellschaftlichen  Abende  waren  mir  die^ 
einsamen,  wo  ich  Fräulein  Mendelssohn  ganz  in  ihrer  Häus- 
lichkeit traf,  und  in  deutscher  Sprache  nur  deutsche  Gegen- 
stände besprochen  wurden.  Die  Fenster  ihres  Salons  waren 
von  aussen  mit  Weinlaub  dicht  überkleidet,  welches  zugleich 
der  Sonnengluth  wehrte  und  die  Abendkühle  milderte;  hin- 
ter solchem  Vorhange  sassen  wir  auf  dem  niedrigen  Fenster- 
brett bisweilen  stundenlang,  und  riefen  die  theuren  Bilder  des 
Vaterlandes  hervor,  die  gemeinsamen  Freunde  und  Bekannten, 
deren  sich  immer  mehr  fanden,  die  uns  liebsten  Erscheinungen 
der  Poesie  und  Kunst,  und  oft  auch  wurden  die  höchsten  An- 
liegen der  Menschen  der  Stoff  unserer  Betrachtung. 

Fräulein  Mendelssohn  huldigte  durchaus  der  Vernunft 
und  wies  alle  anderen  Quellen  der  Erkenntniss  entschieden  zu- 
rück. Ihre  Liebe  zu  Frau  von  Schlegel  war  getrübt,  seit 
diese  mit  ihrem  Manne  katholisch  geworden  war;  sie  hatte 
Eechenschaft  über  diesen  ihr  ganz  unbegreiflichen  Schritt  von 
der  Schwester  gefordert  und  nicht  erhalten,  sondern  nur  die 
eifrige  Mahnung,  sich  ebenfalls  der  römischen  Kirche  in  die 
Arme  zu  werfen,  eine  Zumuthung,  welche  nur  mit  Unmuth 
verlacht  und  ein  für  allemal  verbeten  worden.  Ich  musste 
genau  erzählen,  was  ich  von  den  Neubekehi'ten  wusste,  wie 
ich  mir  die  Sache  vorgegangen  dächte,  welche  Erklärungen 
sich  dafür  annehmen  Hessen,  denn  dass  ein  Geist  wie  Friedrich 
von  Schlegel  sich  blindlings  dem  Glauben  der  römischen  Kirche 
ergeben  könne,  schien  so  wenig  möglich,  als  ihm  bloss  irdische 
Triebfedern  Schuld  zu  geben." 


Wird  katholisch.  53 

In  diesem  anmuthigen  Heim  lernte  der  General  Sebastian! 
Henriette  Mendelssohn  kennen  nnd  vertraute  ihr  die  Erzie- 
hung seiner  Tochter  Fanny  an.  Hier  traf  sie  Vamhagen  1814 
wieder  und  berichtet  darüber:*) 

„Henriette  Mendelssohn  glaubte  ich  mit  ihrem  Zögling,  der 
Tochter  des  Generals  Sebastiani,  in  der  Normandie,  ich  fand 
sie  aber  unvermuthet,  als  ich  gerade  zu  Metternich  gehen  wollte, 
der  im  Sebastianischen  Hotel  wohnte.  Mit  ihr  war  durch  den 
Eintritt  in  dieses  Haus  eine  grosse  Veränderung  vorgegangen, 
sie  war  katholisch  geworden,  nicht  eigentlich  schon  im  Besitz 
eines  festen  Glaubens,  aber  voll  Hoffnung  ihn  zu  erlangen,  und 
so  traten  die  äusseren  Ereignisse,  wie  gross  sie  auch  sein  mochten, 
ihr  sehr  zurück  gegen  die  inneren,  mit  denen  sie  täglich  zu 
kämpfen  hatte.  Ich  konnte  ihr  von  keinem  Tröste  sein,  im 
Gegentheil  mehrte  ich  nur  ihre  Unruhe,  denn  sie  sah  mich 
grade  so  reich,  als  sie  geworden  war,  ohne  dass  ich  in  dieser 
Eichtung  reicher  zu  werden  begehrte,  was  allerdings  ihr  Fall 
war,  und  wenn  ihr  dies  zu  werden  gelang,  so  sah  sie  voraus, 
dass  sie  mich  würde  verwerfen  müssen,  was  sie  nur  eben  jetzt 
noch  nicht  durfte,  da  sie  eingestandener  Weise  das  mir  Fehlende 
auch  erst  zu  erringen  hoifte.  Eine  wunderliche  Verwirrung, 
in  der  aber  doch  mehr  Unbequemes  als  Unterhaltendes  war, 
und  die  unsem  Umgang  etwas  ermatten  liess."  — 

Möge  nun  diese  Schilderung  des  Seelenzustandes  der  Neu- 
bekehrten etwas  gefärbt  sein,  oder  nicht,  soviel  steht  fest,  dass 
Henriette  den  Frieden,  den  sie  in  der  neuen  Religion  suchte, 
auch  fand,  und  dass  sie  als  überzeugungstreue  Katholikin  lebte 
und  starb,  ohne  von  den  unangenehmen  Eigenschaften,  die  so 
manchen  Konvertiten  oft  anhaften,  das  mindeste  angenommen 
zu  haben.  Ueber  ihre  Erlebnisse  im  Sebastianischen  Hause, 
in  dem  sie  bis  zu  Fanny  Sebastiani's  Verheirathung  im  Jahre 
1824  blieb,  geben  ihre  vielen,  an  die  Mendelssohn'sche  Familie 
gerichteten  Briefe  Auskunft. 

„Glänzendes  Elend"  kann  man  das  Leben  nennen,  welches 
sie  führte.    Fanny  Sebastiani  war  eine  reiche  Erbin,    scheint 


*)  a.  a.  0.  Th.  IV.  S.  137. 


64  Henriette  Mendelssohn. 

aucli  ein  gut  geartetes,  williges,  aber  im  Grunde  wenig  bean- 
lagtes  Kind  gewesen  zu  sein;  doch  mit  welcher  Aufopferung 
widmete  sich  Henriette  dem  undankbaren  Geschäft,  diesem 
magern  französischen  Boden  duixh  deutschen  Fleiss  einiger- 
massen  lohnende  Früchte  abzugewinnen.  Der  Anfang  freilich 
lautet  ganz  erfreulich  in  einem  Brief  an  ihre  Schwägerin  Lea : 
„Herr  R.  wird  Euch  gesagt  liaben,  dass  er  mich  in  einem  der 
prächtigsten  Hotels  von  Paris  besucht  hat  und  aus  einer  der 
schönsten  Equipagen  hat  steigen  sehn.  Dies  und  noch  weit 
melir  ist  Alles  sehr  wahr  und  ich  versichere  Euch,  liebe 
Schwestern,  es  ist  garnicht  dumm,  so  die  Dame  zu  spielen, 
nur  fällt  mir  auf  eine  sehr  unbequeme  Weise  immer  ein  ge- 
wisses Lied  meiner  Grossmutter  ein:  „Wenn's  immer  so  wäre!" 
—  Unterdess  geniesse  ich  dankbar,  bis  es  anders  wird.  Das 
Beste,  was  ich  jetzt  besitze,  das  ganz  wunderbare,  unendlich 
liebliche  Kind,  und  das  unumschränkte  Zutrauen  ihres  Vaters^ 
dessen  er  mich  unausgesetzt  noch  in  seinen  Briefen  versichert^ 
kann  mir  nur  der  Tod  rauben,  und  vor  dem  müssen  wir  uns 
freilich  beugen.  —  Erinnern  Sie  sich  der  Champs  Elysees  und 
der  schönen  Hotels  im  Faubourg  St.  Honore,  die  ihi-e  Gärten 
nach  diesen  Champs  Elysees  haben?  Nun,  ein  solches  bewohne 
ich,  und  zwar  Wand  an  Wand  mit  dem  Kaiser,  der  im  Elysee 
wohnt.  Du,  lieber  Abraham,*)  wirst  Dich  selbst  des  Hauses 
erinnern,  es  hat  vor  Zeiten  der  Marquis  de  Gallo  darin  ge- 
wohnt. Es  ist  aber  revu  et  corrige^  der  General  hat  es  aufs 
Prächtigste  und  zugleich  Geschmackvollste  meubliren  lassen 
und  eine  schöne  Gemäldesammlung  angeschafft.  In  diesem 
Hotel  nun  bewohne  ich  im  2.  Stock  eine  Suite  von  4  Zimmern, 
die  aUe  die  Aussicht  nach  den  Champs  Elysees  und  unendlichen 
daranstossenden  Gärten  haben.  In  allen  diesen  Zimmern  ist 
beständig  Kaminfeuer,  sehr  komfortable  Fussteppiche  und  alles, 
was  man  zur  Gemüthlichkeit  wünschen  kann.  Zu  meiner  und 
des  Kindes  Bedienung  haben  wir  eine  Köcliin,  die  ich  aus 
meinem  Hause  mitgebracht,  zwei  Kammerfrauen  und  einen 
Bedienten.  Wagen  und  Pferde  auf  des  Generals  ausdrücklichen 


*)  Der  zweite  Sohn  Moses  Mendelssohn's. 


Erzieherin  bei  General  Sebastiani.  65 

Befehl  bloss  zu  meiner  Disposition.  —  Ich  habe  meine  eigene 
Wii-thschaft  (vtIq  Mama  das  Wort  Haushaltung  immer  nennt) 
und  der  Intendant  bezahlt,  was  ich  dafür  ausgebe.  Aus  dem 
Benehmen  selbst  dieses  Intendanten  sehe  ich,  wie  der  General 
mich  behandelt  wissen  will.  Was  ich  nur  wünsche  oder  nöthig 
glaube,  ist  wie  hergezaubert  da.  Kurz,  ich  wiederhole  Euch, 
es  ist  nicht  möglich,  ehrenvoller  und  schmeichelhafter  behandelt 
zu  werden,  als  mir  hier  widerfährt.  Und  ich  bin  ganz  Deiner 
Meinung,  lieber  Joseph,  dass  diese  Behandlung  und  die  Meinung 
des  Vaters  trotz  aUem  übrigen  Guten  doch  das  Beste  ist.  Auch 
die  Mutter  überhäuft  mich  mit  Protestationen  —  kurz,  es  geht 
ganz  gut,  und  wenn  mir  der  AUmächtige  das  Kind  erhält, 
und  mir  gewährt,  es  trotz  der  leichtsinnigen  Umgebung  gut, 
fromm  und  einfach  zu  erziehen,  so  wiU  ich  meine  Bestimmung 
segnen!  —  Gut  ist  es,  dass  ich  mich  von  jeher  zur  Einsamkeit 
gewöhnte,  denn  freilich  verlebe  ich  die  Abende  ganz  allein, 
und  von  dem,  was  man  gewöhnlich  Vergnügen  nennt,  kann 
die  Eede  nicht  sein,  da  ich  sie  nicht  verlasse  und  sie  auch 
nicht  zu  solchen  Dingen  gewöhnen  will.  Aber  diese  Zurück- 
gezogenheit kommt  bloss  den  andern  Leuten  sehr  traurig  vor, 
mich  erschi-eckt  sie  nicht,  ich  weiss  nicht,  was  ich  dieses 
Kindes  wegen  nicht  thäte,  so  unaussprechlich  lieblich  ist  sie! 
Dein  Bild,  lieber  Abraham,  hängt  an  meinem  Bette,  und  da 
habe  ich  ihr  einen  Morgen  erzählt,  dass  Du  auch  eine  Fanny 
habest,  nun  fragt  sie  mich  jedesmal  beim  Aufwachen,  wie  sich 
Deine  Fanny  befindet,  und  sendet  Deinem  Bild  Grüsse  zu.  — 
Ich  habe  nie  em  schöneres,  von  Geist  und  Gemüth  ausge- 
zeichneteres Geschöpf  gesehen,  als  dieses!  Freilich  kann  ich 
mir  auch  das  Zeugniss  geben,  dass  W^enige  dies  Kind  so  ver- 
stehen wie  ich,  obgleich  sie  von  Allen  auf  Händen  getragen 
wird,  aber  bloss  unter  memen  ist  sie  in  den  wenigen  Tagen 
—  aufgeblüht  möchte  ich  sagen.    Gott  erhalte  sie  mir!" 

Jedoch  einige  Jahre  später  schreibt  sie  der  Schwägerin: 
„Fanny  liebt  Sie  und  die  Ihrigen  zärtlichst  und  denkt  in  Liebe 
der  Kinder.  Sie  wird  täglich  schöner,  besser  und  bedeutender, 
wenn  auch  nicht  unterrichteter;  was  hilft  das  aber?  Ich  sehe 
die  sog^annte  grosse.  Welt  mit  ihren  verderblichen  Forderungen 


56  Henriette  Mendelssohn. 

und  Versprecliungen  wie  eine  gewaltige  Schneelawine  näher 
kommen  und  alles  mühsam  Erreichte  und  Gepflanzte  in  einem 
Moment  zerstören."  — 

In  dem  Kampf  mit  allen  möglichen  derartigen  Einflüssen, 
verging  Henriettes  Leben,  und  schliesslich  hatte  sie  doch  mit 
jenen  Worten  einen  leider  nur  zu  prophetischen  Ausspruch 
gethan:  sie  bewahrheiteten  sich  auf  das  Schrecklichste. 

In  einem  andern  Brief  heisst  es:  ^Fanny  hat  auf  ihre  Weise 
an  Fanny  Mendelssohn  geschrieben;  es  ist  nicht  viel  an  dem 
Briefe,  üeberhaupt  ist  die  einzige  Virtuosität  dieses  Mädchens 
das  eigentliche  Sein.  Ihr  Gemüth,  ihre  Manier  sind  liebens- 
würdig; aber  sie  ist  ganz  ohne  Talent  und  Neigung  zum 
Lernen.  Sie  bedürfte  Ihres  Unterrichts,  liebe  Lea,  ich  bin  zu 
ungeduldig  und  regellos.''  —  Es  wurde  immer  stiller  um 
die  Beiden.  „Ich  weiss  nicht,  was  Sie  aus  meinem  Leben  inter- 
essiren  könnte,  ich  habe  den  Winter  über  sehr  einsam  und 
eingezogener  als  je  gelebt,  ich  bin  nicht  zweimal  in  sechs 
Monaten  in  Gesellschaft  und  noch  weniger  im  Theater  ge- 
wesen, und  nun  lebe  ich  hier  (in  Viry,  einem  Dörfchen  nahe 
bei  Paris)  mit  Fanny  unter  Blumen,  Blüthen,  Bäumen  und 
Wasserfällen  ein  sehr  einsames,  aber  doch  vergnügliches  Le- 
ben, von  dem  sich  nur  nicht  viel  sagen  lässt,  denn  es  bleibt 
doch  wahr,  bloss  Menschen  sind  den  Menschen  wichtig ,  in  der 
sinnlichen  Natur  ist  alles  Uebrige  blosse  Zugabe.  **  — 

Eine  Unterbrechung  in  dies  einförmige  Leben  und  das 
fast  ausschliessliche  Zusammensein  mit  einem  unentwickelten, 
trägen  Kinde  —  denn  dass  sie  das  war,  wird  doch  allmälig 
auch  dem  liebenden  Gemüth  ihrer  Erzieherin  klar  —  brachte 
1819  die  Anwesenheit  ihres  geliebtesten  Bruders  Abraham  in 
Paris,  die  sie  in  vollen  Zügen  genoss,  und  namentlich  eiue 
Eeise,  die  dieser  mit  ihr  nach  Havre  machte:  „Ich  habe  meiner 
eigenen  Lust  und  Ihres  Gemahls  ausgezeichnetem  Eeisetalent 
nicht  widerstehen  können,  und  so  ist  aus  einer  Fahrt  von  4 
Stunden,  die  ich  ihm  vorgeschlagen,  während  Fanny  S.  auf 
14  Tage  mit  ihrem  Vater  zu  Leuten  gegangen,  wo  ich  meine 
Gegenwart  nicht  nöthig  hielt,  eine  Eeise  von  8  oder  10  Tagen 
geworden,  die  mir,  da  ich  seit  ebensoviel  Jahren  nicht  weiter 


Besuch  ihres  Bruders  Abraham.  57 

als  etwa  4  lieues  von  Paris  mich  entfernt,  als  das  grösste 
Unternelimen  vorkommt,  das  seit  Columbus  selig  gemacht 
worden  ist!  Wir  sind  nun  wirklich  in  Havre,  haben  das  Meer, 
und  Ebb'  und  Fluth,  und  grosse  und  kleine  Schiffe  von  Innen 
und  Aussen  gesehen,  und  bewundert,  und  wo  uns  nur  irgend 
etwas  gefiel  oder  üi  Erstaunen  setzte,  war  es  Abrahams  und 
mein  stiller  Wunsch,  es  Ihnen  und  den  Kindern  zeigen  zu 
können.  Aber  seien  Sie  ruhig,  liebste  Lea,  mir  ist  dieser  Wunsch 
nicht  über  die  Lippen,  wenn  auch  oft  üi  die  Seele  gekommen,  ich 
begreife  Ihre  Liebe  zur  ungestörten  Ruhe,  und  kann  es  nur  be- 
dauern, dass  Ihnen  darüber  so  mancher  Genuss  entgeht,  und  be- 
sonders, dass  Sie  Abrahams  Reise-Liebenswürdigkeit  so  brach 
liegen  lassen,  es  ist  nicht  möglich,  artiger,  gütiger,  geduldiger, 
und  gleicherer  Laune  zu  seiii,  ich  setze  nämlich  voraus,  dass  er 
Ihre  Briefe  pünktlich  erhält,  denn  entfernt  von  Urnen  scheint 
es,  dass  ihm  diese  Briefe  ein  Lebens-  und  Liebesbedürfniss 
sind.  Bei  unserer  Ankunft  gestern  hat  er  einen  vorgefunden, 
und  nun  bleibt  er  nui-  deshalb  noch  den  morgenden  Tag  hier, 
um  sicher  zu  sein,  Ihren  nächsten  Brief  nicht  zu  verfehlen, 
denn  es  geht  übermorgen  zurück  nach  Paris,  wo  ich  denn  in 
Viry  an  Allem  was  ich  jetzt  sehe,  mich  noch  lange  erfreuen 
will.  Haben  Sie  schon  ein  grosses  Schiff  gesehen?  Ja,  ich 
erinnere  mich,  dass  Sie  in  Hamburg  waren,  also  können  Sie 
mich  verstehn,  im  Fall  Sie  auch  nicht  meiner  Meinung  sind, 
wenn  ich  Ihnen  sage,  dass  ich  bei  aller  Bewunderung,  die  ich 
dem  menschlichen  Geist  nicht  versagen  kann,  wenn  ich  sehe 
wie  er  dieses  furchtbare  Element  betrügt,  bekämpft  und  re- 
giert, doch  eigentlich  wenig  dabei  fühle;  das  kletuste  Gedicht 
von  Göthe  rülirt  mich  mehr,  und  macht  mich  stolzer  auf  die 
Menschheit.  —  Das  wirklich  Erhabene  ist  das  Meer  und  seine 
Wogen,  dieser  Ernst  und  diese  Kraft,  wenn  die  WeUen  sich 
am  Ufer  mit  Getöse  brechen,  sind  erschütternd,  und  ziehen 
mich  mehr  an,  als  das  schmutzige  und  störende  Gewimmel  und 
Getümmel  auf  den  Schiffen.  Es  neigt  sich  mein  Gemüth  immer 
mehr  und  mehr  zur  Stille,  —  es  will  Abend  werden."  — 

Vom  Jahr    1820   ab  war  es    nicht    mehr  so    einsam  im 
Haus,  aber  leider  verlor  Henriette  eher  bei  der  Veränderung, 


5S  Henriette  Mendelssohn. 

als  dass  sie  grewajin.  „Ich  sitze  hier  mit  dem  lang^weilig-sten 
stupidesten  Menschen  von  allen,  die  auf  diese  Weise  das  Leben 
diuvhziehn,  ganz  allein  an  einem  langen  Winterabend;  wie 
ich  aber  nach  einem  so  verlebten  Abend,  wo  nicht  einmal 
Fanny  zu  Haus  ist,  Geist  und  Leben  zu  einem  Brief  an  Sie, 
liebste  Lea,  hernehmen  soll,  das  weiss  ich  selbst  noch 
nicht:  ich  ^viU  auch  gai'nicht  überlegen  fa7d  pü  pour  vousf 
Sie  werden  mich  denn  doch  leicht  los,  es  ist  nur  ein  Brief,  und 
man  kann  ihn  bei  Seite  schieben,  er  geht  doch  nicht  den  ganzen 
Abend  im  Zimmer  auf  und  ab,  speit  nicht,  schnarcht  nicht 
beim  Athemholen  wie  mein  Xebenmensch,  mein  täglicher 
Gesellschafter  seit  2  Monaten  und  vielleicht  auf  5  Jahre,  denn 
es  ist  ein  Deputii'ter!  —  Sie  sehn,  ich  leide  für  die  gute 
Sache!  —  Wenn  es  aber  unter  den  3  konstituirten  Gewalten, 
aus  denen  die  repräsentative  Monarchie  besteht,  viele  solcher 
Käuze  giebt,  so  ists  warlich  schlimm,  und  ich  für  mein  Theil 
zöge  dann  die  Türkei  oder  jeden  andern  Despotismus  vor." 
Und  in  einem  andern  Brief  heisst  es:  „Hir  in  Eurer  paradie- 
sischen Künstlerwelt  lebt  so  vergnüglich,  während  die  innere 
und  äussere  Politik  hier  mit  der  bekannten  fi-anzösischen  Leb- 
haftigkeit, und  mit  dem  grössten  Lärm  als  das  einzig  wichtige 
behandelt  wii-d.  Freilich,  wenn  ich  hier  sage,  so  gilt  das 
bloss  dem  Cii'kel,  oder  bestimmter  zu  reden  dem  Hause,  dem 
Zimmer,  in  dem  ich  lebe.  Wir  hören  von  nichts  anderem,  als 
sogenannter  Politik,  und  sehn  bloss  eine  gewisse  Anzahl  De- 
putirter,  recht  eigentliche  Repräsentanten  der  Langeweile.  Es 
wird  viel  hin  und  her  gesprochen,  wobei  ich  mich  nicht  ent- 
halten kann  Fanny  zu  bedauern,  dass  ihr  Knospenalter  unter 
diesen  Gesprächen  vergeht,  und  für  mich  selbst  die  Achseln 
zu  zucken,  wenn  alles  doch  darauf  hinausläuft,  dass  die  Her- 
ren im  Spiegel  der  Zeiten  immer  nur  ihr  eigenes  Bild  sehn. 
Und  diese  sind  noch  die  Besseren,  denn  der  Eigennutz  ist 
noch  ein  schlechteres  Motiv  als  die  Eitelkeit."  —  Dai-an  schliesst 
sich  ein  allerliebstes  weibernes  Glaubensbekenntniss :  „Ich  sehe 
ans  Ihien  ernsthaften  Ermahnungen  und  Auseinandersetzungen, 
dass  Sie  meine  Neckereien,  die  eigentlich  Mendelssohn  allein 
betrafen,  missverstanden,  und.  mich  wenigstens  tur  eine  Jako- 


Sommeraufentbalt  bei  Paris.  69 

binerin  haltend,  die  jedem  Fürsten  und  Grafen  den  Hals  um- 
drehen möchte,  sich  mit  den  besten  Gründen  gegen  meinen 
Liberalismus  vertheidigen.  Wie  sehr  bedaure  ich,  dass  ich 
Ihren  Brief  nicht  allen  denen  hier  verständlich  machen  kann, 
die  meinen  vermeintlichen  Hang  zu  den  Ultra's  tadeln.  Eigent- 
lich sind  aber  beide  Beschuldigungen  gewissermassen  begründet, 
denn  ich  mache  es  wie  Praxiteles  mit  seiner  Venus,  ich  nehme 
von  jeder  Parthei  was  mir  gefällt,  und  bilde  mir  daraus  so 
eins  Politik  fürs  Haus,  zum  eigenen  Gebrauch;  zu  dieser  ge- 
hört es  aber  auf  keine  Weise,  persönlichen  Werth  in  höheren 
Ständen  nicht  gelten  zu  lassen.  Gute,  gebildete,  geistreiche  Men- 
schen sind  selten,  aber  gewiss  haben  bis  jetzt  die  höheren 
Klassen,  schon  durch  ihre  Sicherheit  im  Leben  einen  Schritt 
vor  uns  anderen  voraus;  freilich  geschieht  es  auch  wohl,  dass 
sie  eben  auf  diesem  Punkt  stehen  bleiben,  und  gamicht  umher 
sehn,  wer  an  ihnen  vorübereilt,  sondern  sich  noch  immer  die 
Ersten  dünken."  — 

Nach  diesen  langweiligen  Wintern  war  es  denn  freilich 
eine  Erholung,  wenn  sie  in  den  Sommern  wieder  aufs  Land, 
in  die  Einsamkeit  gingen,  und  Henriette  geniesst  es  mit  echt 
deutschem  Sinn:  „Ich  bin,"  schreibt  sie  1821,  „seit  3  Wochen 
mit  Fanny  auf  dem  Lande,  zwar  in  der  völligsten  Abgeschie- 
denheit, aber  auch  im  ungestörtesten  Genuss  des  poetischesten 
Frühlings,  den  wir  noch  erlebt!  Alles,  was  man  in  spanischen 
Eomanzen  von  Blumen,  Vogelgesang,  blinkendem  Thau  und 
funkelnden  Sternen  liest,  das  haben  und  gemessen  wir  in  ganzer 
Fülle!  —  Wir  bewohnen  ein  kleines  freundliches  Landhaus 
von  duftenden  Gewächsen  und  schattigen  Bäumen  umgeben, 
es  liegt  nah  genug  an  der  Seine,  dass  wir  bald  die  reizenden 
Ufer  zu  unserm  Spaziergang  wählen,  bald  auf  dem  Fluss  selbst 
den  Sonnenuntergang  erwarten.  Eechnen  Sie  nun  dazu,  Liebe, 
dass  ich  in  diesem  Augenblick  vielen  sehr  unangenehmen 
Familienscenen  in  Paris  entgehe,  dass  Fanny  sich  in  dieser 
Einsamkeit  nicht  missfällt,  und  Sie  werden  es  gerne  glauben, 
dass  ich  kaum  einen  andern  Wunsch  noch  habe,  als  mit  Urnen 
und  Euch  aUen,  die  Ihr  mir  so  Heb  seid,  mein  Vergnügen 
theilen  zu   können.     Ich  breche   keine  Blume,  ohne  an  meoi 


60  Henriette  Mendelssohn. 

Beckchen*)  zu  denken,  das  Klavier  erinnert  micli  an  den 
herrlichen  Genuss,  den  die  Kinder  verschaffen  würden,  nnd 
der  Mangel  an  vernünftiger,  geistreicher  Unterhaltung  lässt 
mich  die  Eltern  doppelt  vermissen.  —  Fanny  hat  eine  gute 
Stimme,  aber  Gott  weiss,  sie  singt  im  Schweisse  meines  An- 
gesichts, denn  sie  ist  von  Grund  aus  unmusikalisch,  und  zu- 
gleich so  träge  und  ungeduldig,  dass  es  einem  recht  guten 
italienischen  Singlehrer,  den  ich  ihr  gegeben,  nicht  gelingen 
würde,  etwas  aus  ihr  zu  bilden,  wenn  ich  nicht  durch  ewig 
wiederholtes  Bemühen  nachhülfe."  — 

War  jene  Havrereise  mit  ihrem  Bruder  eine  wirkliche 
Erfrischung  gewesen,  so  kann  man  dies  weniger  sagen  von 
einer  im  Jahre  1823  mit  General  Sebastiani  und  Fanny  unter- 
nommenen nach  der  Provence: 

„Freunde  und  Badegäste  bedauerten  uns,  eben  in  der 
heissesten  Jahreszeit  eine  Reise  nach  dem  brennenden  Süden 
zu  unternehmen,  und  diejenigen,  welche  das  Land  und  meine 
Neigung  für  schattige  Spaziergänge,  stille  Ruheplätze,  und 
reine,  milde  Luft  kannten,  machten  mich  ganz  bange  durch 
Beschreibungen,  die  jenen  Thümm eischen  sehr  unähnlich  waren; 
desto  ähnlicher  waren  sie  aber  der  Provence,  die  ich  nun, 
freilich  zur  ungünstigsten  Zeit  gesehen.  Noch  hat  mir  von  den 
Ländern,  die  ich  kennen  gelernt,  keines  so  missfallen  als  diese 
Provence  mit  ihren  traurigen  Olivenwäldern,  entlaubten  Maul- 
beerbäumen, die  einem  die  nackten  Zweige  entgegenstrecken, 
seinen  kahlen  Felsen,  und  dem  verdorrten  Boden,  auf  welchen 
die  Granathecken  wie  zur  Strafe  hingebannt  scheinen.  Während 
Sie  nun  auf  diesem  staubigen  Boden  fortrollen  und  das  un- 
erfrischte  Auge  vor  der  brennenden  Sonne  verschliessen,  wird 
Ihr  Ohr  unaufhörlich  durch  das  betäubende  Geschrei  riesenhafter 
Heuschi^ecken  beleidigt,  die  auf  beiden  Seiten  der  Heerstrasse 
ihr  Wesen  treiben,  und  mich,  als  wäre  es  eine  vermehrte 
Auflage  der  pharaonischen  Plage  recht  eigentlich  zur  Ver- 
zweiflung brachten.  So  ging  es  bis  zum  Pont  du  Gard  vor 
Nimes.    Hier  meine  Liebe  bin  ich  geneigt,   den  St.  Preux  zu 


*)  Eebeeka,  die  zweite  Tochter  Abraham  Mendelssohn's. 


Keise  in  die  Provence.  61 

parodiren,  sein  Anruf  an  den  Schöpfer  ^^javaü  une  äme  pour 
la  doideury  donne%  m'en  une  pour  la  felicite''''  kommt  mir  in  den 
Sinn.  Ich  habe  wohl  Ausdrücke  finden  können,  Ihnen  mein 
MissfaUen  an  dem  französischen  Afrika  zn  schildern,  aher  es 
ist  mir  ganz  unmöglich,  Urnen  von  diesem  der  Ewigkeit 
trotzenden  Monumente  und  der  von  der  Natur  so  reich  ausge- 
statteten Wildniss  in  welcher  es  die  Römer  hingezaubert  etwas 
anders  zu  sagen  als  —  es  ist  unbeschreiblich,  und  von  einem 
Eindruck,  der  sich  mit  nichts  vergleichen  lässt.  Dieses  Monu- 
ment allein  ist  die  Reise  schon  werth,  obgleich  auch  das 
Amphitheater  in  Nimes  sowie  die  übrigen  dort  befindlichen 
Alterthümer  die  Seele  mit  staunender  Bewunderung  für  jenes 
Riesenvolk  erfüllen  —  aber  freilich  —  tritt  man  heraus,  aus 
jenen  ernsten  erhabenen  Steinmassen,  so  wird  man  peinlich 
gestört,  sowohl  durch  den  Anblick  der  schlechten  dürftigen 
Wohnungen  des  jetzigen  Geschlechts,  als  durch  die  wilden 
brutalen  Züge  des  Volks  selbst,  unter  welchem  die,  in  unsem 
verhängnissvoUen  Zeiten  so  berüchtigten  Mörder  ganz  ruhig, 
obschon  bekannt,  leben,  und  die  jedem  Hasse,  jeder  politischen 
Meinung,  die  ihnen  Gold  bietet,  zu  Gebote  stehn.  —  Wie  ganz 
anders  ist  es  beim  Pont  de  Gard!  Da  rauscht  der  Bergstrom 
noch  wie  vor  2000  Jahren,  da  ranken  Feigen-  und  Granatbäume 
am  Felsen  hinan,  und  schlingen  sich  zwischen  den  Arkaden 
und  Säulen  hindurch  wie  die  unermüdliche  Natur  es  ihnen  nach 
2000  Jahren  noch  gebieten  wird. 

Aber,  Liebe,  zu  meinem  Schrecken  werde  ich  gewahr,  dass 
auch  ich  noch  2000  Jahr  dauern  müsste,  um  diesen  Brief  zu 
endigen,  da  ich  auf  der  fünften  Seite  erst  in  Nimes  bin!  Seien 
Sie  aber  unbesorgt,  ich  wiQ  Ihnen  nur  geschwind  noch  zwei 
Erfahrungen  mittheüen,  die  ich  von  dieser  Reise  mitgebracht, 
dass  nemUch  das  Klima,  in  welchem  wir  geboren,  möge  man 
es  auch  noch  so  früh  mit  einem  andern  vertauschen,  unsere 
Sinnesart  modifictrt  und  unbesiegbare  Rechte  auf  uns  erhält, 
zweitens,  dass  die  ächte,  wahre,  rein  moralische,  religiöse  und 
philosophische  Büdung,  die  aUein  doch  nur  den  Namen  der 
Civüisation  verdient,  bloss  im  Norden  zu  Haus  ist  —  und  nun 
führe  ich  Sie  schnell  über  Marseille,  wo  ^^'il'  8  Tage  verweüten, 


62  Henriette  Mendelssohn. 

und  Avignon,  wo  wir  die  Fontaine  de  Vaucluse  —  nicht  ge- 
sehen, nach  Paris  zurück,  wo  wir  nun  leider!  den  Eest  des 
Sommers  ausharren  müssen."  — 

Nun  aber  nahte  eine  wii'klich  tragische  Epoche  für  die 
Arme:  Fanny  Sebastian!,  eine  sehr  reiche  Erbin,  kam  in  das 
heii-athsfähige  Alter,  und  ilire  treue  Erzieherin,  die  Jahre  und 
Jahi-e  mit  liebender  Sorgfalt  Mutterstelle  an  ihr  vertreten, 
sollte  erkennen,  dass  es  schliesslich  doch  nur  eine  Rolle  ge- 
wesen, die  sie  dort  hatte  spielen  müssen.  Jene  Worte:  „Ich 
sehe  die  grosse  Welt  mit  iliren  verderblichen  Forderungen  und 
Versprechungen  wie  eine  gewaltige  Schneelawine  näher  kommen, 
und  Alles  mühsam  erreichte  und  gepflanzte  in  einem  Moment 
zerstören"  —  sie  fingen  an,  walir  zu  werden;  ihre  letzte,  schreck- 
liche und  buchstäbliche  Erfüllung  hat  sie  glücklicher  Weise 
nicht  melir  erlebt. 

Am  11.  Mai  1824  schreibt  sie  an  ihren  Bruder  Abraham: 
„Erinnerst  Du  Dich  wohl  lieber  Bruder  des  Tages  bei  Deinem 
letzten  Aufenthalte  in  Paris  —  wo  Du  mir  Dein  Manneswort 
gabst,  dass,  sobald  ich  die  Aufforderung  an  Dich  ergehen  lassen 
würde,  Du  mir  mit  Rath  und  That  beistehen,  ja  selbst  kommen 
wüi'dest,  wenn  es  Noth  thäte?  Ich  fordere  Dich  noch  nicht 
auf.  Dein  Wort  zu  erfüllen,  obgleich  eine  sehr  grosse  Verän- 
derung meiner  Lage  mir  sehr  nahe  war,  aber  meine  Freude, 
Euch  alle  hier  zu  sehn,  wäre  um  so  reiner  und  grösser.  — 
Was  ich  mit  allem  diesen  sagen  will,  ist  folgendes:  Unter 
zehn  Freiern,  die  sich  seit  der  Rückkunft  des  Generals  aus 
Corsica  (vor  etwa  zwei  Monaten)  um  Fanny's  Hand  bewarben, 
war  es  nahe,  sehr  nahe  daran,  dass  der  Vater  den  glänzendsten 
und  —  schlechtesten  gewählt  hätte.  Wie  aber  hier  in  grossen 
Familien  eine  solche  Unterhandlung  betrieben  ^vird,  vor  dieser 
Erfahrung  hat  Euch  Gott  behütet.  Es  war  eine  sehr  schlimme 
Zeit,  bei  der  mir  die  Gegenwart  unsres  Bruders*)  ein  wahrer 
Trost  war!  Von  dieser  Heirath  ist  nun  die  Rede  nicht  mehr, 
aber  in  wenigen  Monaten  soll  hoffentlich  eine  andere  zu  Stande 
kommen,   von  welcher  für  meine  arme  Fanny  so  viel  Gutes 

*)  Joseph. 


"Verlobung  von  Fanny  Sebastian!.  63 

zn  erwarten  ist,  —  als  es  die  gefährliclie  Lage  einer  reichen 
Erbin  erlaubt.  Wie  sebr  mich  alles  dies,  nebst  den  erregenden 
Bestandtheilen  von  Intriguen,  Klatschereien,  Eitelkeit,  Leicht- 
sinn und  dergleichen  erschüttert,  beschäftigt  und  betrübt  hatte, 
werden  Sie*)  bei  aller  Mutterliebe  doch  nur  halb  begreifen, 
denn  bei  Ihnen  und  Mendelssohn  fehlen  ja  eben  diese  schlechten 
Elemente!  Fanny  selbst  hat  sich  recht  brav  und  einfach  gut 
gezeigt.  Wir  gehen  nun  in  wenigen  Tagen  aufs  Land,  — 
wo  sie  ihre  gewohnte  Lebensweise  hoffentlich  ruhig  fortsetzen 
soll,  bis  ihre  Stunde  schlägt.  Was  ich  dann  vorzunehmen  ge- 
denke, darüber  bin  ich  selbst  noch  ungewiss,  wahrscheinlich 
werde  ich  noch  einige  Monate  nach  der  Verheirathung  im  Hause 
—  wenigstens  wohnen,  —  und  dann  mit  Gottes  Hülfe  wieder 
in  Eurer  Nähe  leben." 

Am  10.  Juni  1824  heisst  es  dann  weiter:  „Um  Euch  zu 
erklären,  wie  es  mir  möglich  gewesen,  Fanny's  nun  entschie- 
dene, und  ziemlich  nahe  Verbindung  mit  dem  Sohne  des  Herzogs 
von  Praslin  nicht  schon  früher  angekündigt  zu  haben,  dazu 
möchte  ich  das  Wundertalent  unseres  Felix  besitzen,  um  Euch 
in  leidenschaftlichem  Gesang  den  Constrasto  d'affetti  zu  schildern, 
der  mir  seit  diesen  letzten  drei  Monaten  das  Herz  zerreisst  — 
mit  Worten  würde  ich  es  vergeblich  versuchen!  Vor  einigen 
Monaten,  als  man  im  Begriff  war,  eine  traurige  Wahl  zu  treffen, 
war  ich  um  Fanny  in  der  höchsten  Besorgniss,  und  grämte 
mich  tief  über  das  traurige  Loos,  das  ihr  bevorstand.  Nun 
aber  mit  Gottes  Hülfe  eine  andere  Verbindung  zu  Stande  ge- 
kommen ist,  von  der  sich,  auch  wenn  die  schönen  Hochzeit- 
kleider vertragen  sein  werden,  manches  Gute  erwarten  lässt, 
und  Fanny  so  überselig  ist,  bin  ich  selbst  meine  Qual,  —  und 
die  Frage  von  sogenannten  theilnehmenden  Freunden:  „W^as 
denken  Sie  zu  thun?"  —  ist  mir  ein  schneidendes  Schwerdt. 
Dass  die  Treue  und  Liebe,  die  ich  dem  Kinde  und  dem  Mädchen 
in  dieser  Reihe  von  Jahren  bewiesen,  eigentlich  nur  eine  Rolle 
war,  dass  der  Vorhang  nun  fällt  und  Fanny  morgen  in  einem 
neuen  Stück  erscheint,  in  welchem  keine  Rolle  für  mich  ist, 


*)  Hier  wird  Abraham's  Frau,  Lea  angeredet. 


64  Heuriette  Mendelssohn. 

das  hätte  ich  mir  allerdings  immer  sagen  sollen,  —  vielleicht 
habe  ich  mir  es  auch  zuweilen  gesagt,  —  aher  wie  ganz  anders 
di'ingt  die  Wirklichkeit  ein!  —  danken  Sie  Gott,  liebe  Schwester, 
dass  Sie  dies  nie  empfinden  werden,  dass  die  Versorgung  Ihrer 
Fanny  eine  für  Sie  neue,  ungetrübte  Freude  sein  wird. 

Fanny's  Bräutigam  ist  der  Sohn  des  Herzogs  von  Choiseul- 
Praslin  —  ein  junger  Mensch  von  19  Jahren,  der  noch  vor 
etwa  drei  Monaten  auf  keine  Weise  an  irgend  eine  Heirath 
dachte,  sondern  sich  zur  ^cole  polytechnique  vorbereitete,  wo  er 
eben  eintreten  sollte.  Die  Furcht  vor  der  Heirath  mit  dem 
Sohn  des  Herzogs  von  Fitz-James,  ein  verdorbener,  ausschwei- 
fender, junger  Mensch,  und  die  Schwierigkeiten,  die  sich  den 
Wünschen  anderer  Bewerber  entgegenstellten,  brachten  einige 
Freunde  des  Hauses,  die  zugleich  den  Herzog  kannten,  darauf, 
diesem  den  Vorschlag  zu  thun,  Fanny  für  seinen  Sohn  zu 
fordern.  Er  war  es  sogleich  zufrieden,  —  der  junge  Mensch, 
der  Fanny  wohl  schon  gesehen  hatte,  auch  —  und  so  kam 
denn  die  Verbindung  zu  Stande.  Im  September  wird  die  Heirath 
vollzogen,  und  an  demselben  Tage  reisen  die  jungen  Eheleute 
auf  ein  Gut  ihrer  Aeltern,  das  Sie,  liebe  Schwester,  sehr  gut 
aus  den  Briefen  der  Sevigne  kennen.  Es  ist  dasselbe  Schloss, 
das  der  Surintendant  Fouquet  mit  so  ungeheurem  Aufwände 
bauen  liess,  und  wo  er  selbst  bei  einem  Fest,  das  er  Ludwig  XIV. 
gab,  verhaftet  wurde.  Durch  die  Genealogie  der  Frauen  ist 
dies  ungeheure,  halbverwüstete,  mir  sehr  widrige  Schloss  jetzt 
in  der  Familie  Praslin.  Noch  sind  die  Zimmerverzierungen 
dieselben,  man  sieht  überall  an  den  Wänden  Eichhörnchen 
(Fouquets  Wappen)  gemalt,  die  von  zischenden  Schlangen  ver- 
folgt werden.  Diese  waren  bekanntlich  in  Colberts  Wappen. 
Die  Bettvorhänge  des  Herzogs  von  PrasLLn  sind  dieselben,  unter 
denen  Ludwig  XIV.  schlief,  wenn  er  eine  Nacht  in  Vaux  zu- 
brachte. —  Aber  trotz  aUen  diesen  Alterthümlichkeiten  ist  das 
Schloss  verwüstet,  und  erfordert  jährlich  mehr  als  20,000  Francs, 
um  nur  nicht  ganz  zu  verfallen.  Ich  kenne  nichts  unfreund- 
licheres, als  ein  so  grosses  Gebäude  im  altfranzösischen  Styl, 
mit  seinen  Terrassen,  Vorhöfen,  Gittern  und  Brücken,  wenn 
es  nicht  durch  zahlreiche  Bewohner  und  Dienerschaft  belebt 


(^^^t^  "^^'^-  c^-  ^'^-Z^- 


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Der  Bräutigam  Herzog  v.  Praslin.  65 

wird,  und  dies  ist  eben  nicht  der  Fall  hier.  Fanny's  neue 
Tamilie  ist  für  mehr  als  haushälterisch,  nachlässig  und  schmutzig 
ekannt.  TJebrigens  aber  sehr  würdige  Personen,  die  ihre  Kinder 
lach  den  besten  Grundsätzen,  und  was  mir  höher  gilt,  durch 
e  '.s  beste  Beispiel  erziehn,  da  sie  sehr  einig  leben.  Dies  sind 
dtnn  auch  allerdings  die  Gründe,  welche  die  Verbindung  wör- 
scbenswerth  machen.  Denn  der  junge  Mensch  ist  weder  reich, 
noch  eben  angenehm  oder  geistreich,  aber  da  es  nun  einmal, 
um  die  Aeltem  zu  befriedigen,  ein  altadliger  Herzog  und  Pair 
des  Reichs,  oder  doch  wenigstens  der  älteste  Sohn  eines  solchen 
sein  musste,  so  war  die  Wahl  beschränkt.  Von  allem,  was  ich 
übrigens  anders  wünschen  könnte,  sieht  Fanny  nichts ;  sie  war 
ganz  bereit,  ii'gend  einen  andern,  den  man  für  sie  gewählt 
haben  wüi'de,  zu  heirathen,  nun  ist  sie  aber  auf  das  wünschens- 
wertheste  in  ihren  Bräutigam  verliebt.  Sie  bringt  den  ganzen 
Tag  mit  ihm  bei  ihrer  Grossmutter  zu,  die  an  den  Folgen  einer 
Brandwunde  das  Bett  hütet,  und  findet  sich  sehr  glücklich. 
Unterdess  erfülle  ich  meine  letzte  Pflicht,  und  besorge  ihre 
Aussteuer.  Wie  oft  habe  ich  dabei  an  Sie  gedacht,  Liebe !  — 
Wie  viel  schöne  Stücke  Leinewand  Sie  wohl  schon  genäht  und 
ungenäht  für  Fanny  bereit  halten.  Hier  hat  man  bloss  die 
Mühe  der  Wahl  oder  der  Bestellungen  —  aber  welche  Ver- 
sehwendung auch!  —  man  ersparte  die  Hälfte,  die  man  den 
Lingeren  opfert ;  durch  diesen  Gedanken  wird  mir  das  Geschäft 
eigentlich  sehi*  unangenehm.  Zudem  ist  es  eine  Verantwort- 
lichkeit, denn  so  hoch  auch  das  Budget  ist  —  es  sind  20,000 
Francs  dazu  bestimmt  —  wissen  einen  die  mädchenhaften 
V^ünsche  und  die  Künste  der  Lingeren  immer  darüber  hinaus 
zu  treiben.  — 

Gott,  wieviel  habe  ich  Euch  über  einen  und  denselben 
Gegenstand  vorgeschwatzt,  —  ich  könnte  noch  Bogenlang 
schreiben,  und  Hir  misstet  doch  nicht,  wie  traurig  ich  biu."  — 

Ueberden  19jähi'igenEhemann  schreibt  sie  noch:  „Uebrigens 
hat  man  dem  jungen  Mann  alle  Lehrer  gegeben,  die  er  früher 
hätte  haben  sollen,  und  er  studirt  auf  einmal  und  zu  gleicher 
Zeit:  Geschichte  —  Griechisch  —  Latein  —  Deutsch  —  und 
die  Rechte!   —  Konunt  Dir  dies  nicht  sonderbar  vor?    Und 

Die  Familie  Menäelssoka.  L  ö 


66  Henriette  Mendelssohn. 

doch  hat  der  General  Recht,  das  Versäumte  soviel  als  möglich 
nachzuholen.  Ich  meine  aber,  wenn  Du  etwa  solche  Kenntnisse 
in  Deinem  künftigen  Schwiegersohne  suchtest,  würdest  Du 
wünschen,  dass  er  sie  zur  Mitgabe  brächte." 

Das  Ende  war  dieses  Anfangs  würdig:  das  alte  wüste 
Schloss,  die  an  Brandwunden  damiederUegende  Grossmutter, 
—  es  ist  ein  trüber  Prolog,  und  er  bekommt  eine  noch  trübere 
Färbung,  wenn  man  weiss,  was  ilim  folgte:  der  Herzog  von 
Praslin  ermordete  seine  Frau,  die  arme  Fanny,  im  Jahr  1847 
und  entzog  sich  der  Verurtheilung  zum  Tode  durch  Selbstmord. 
Der  Prozess  machte  seiner  Zeit  ungeheures  Aufsehn  und  trug 
nicht  wenig  dazu  bei,  die  Regierung  Louis  Philipp's  des  letzten 
Restes  von  Popularität  zu  berauben,  da  der  Herzog  Persona  grata 
bei  Hof  gewesen  war,  und  man  die  Regierung  beschuldigte, 
dem  Selbstmord  Vorschub  geleistet  zu  haben. 

Bis  jetzt  sind  diejenigen  Stellen  aus  den  Briefen  Henriettens 
ins  Auge  gefasst  worden,  welche  ihre  persönlichen  Verhältnisse  be- 
handeln. Aber  auch  in  anderen  Beziehungen  vmnmeln  die  Briefe 
von  interessanten  Einzelheiten;  ihr  reger  Geist  zeigt  sich  in  an- 
schaulichen Schilderungen  von  Personen  und  Ereignissen.  Leider 
war  es  damals  sehr  gefährlich,  sich  brieflich  offen  auszusprechen, 
namentlich  für  eine  in  Paris  lebende  Deutsche,  und  ganz  be- 
sonders für  die  Erzieherin  der  Tochter  eines  napoleonischen 
Generals.  So  findet  sich  denn  aus  der  Zeit  bis  1815  fast  kein 
einziges  auf  die  Weltereignisse  bezügliches  Wort;  aber  als 
die  Kanonen  der  Verbündeten  vom  Montmartre  niederdonnerten, 
da  fühlte  Henriette,  dass  die  Fesseln  im  Begriff  waren,  zu 
fallen,  und  sie  giebt  ihrer  Schwägerin  die  folgende  anschau- 
liche Schilderung  des  Zustandes  in  Paris  während  der  Schlacht: 
„Der  Kanonendonner  hat  die  schwarzen,  schweren  Gewitter- 
wolken getheilt,  und  ich  will  den  hellen  Augenblick  benutzen, 
ehe  sie  sich  wieder  sammeln.  —  Ich  habe  am  10.  Juli  Ihren 
Brief  vom  26.  April  erhalten,  aus  einem  andern  Jahrhundert 
also,  denn  die  Welt  und  alle  Begebenheiten  kreisen  jetzt  in 
so  unglaublicher  Schnelle,  dass  zwei  Monate  wohl  dafür  gelten 
können,  —  Europa  ist  also  wieder  in  Frankreich!  die  Sache 
ist  kurz  und  gut  abgethan  worden,  bleibt  aber  ein  Frcankreich 


Eroberime:  von  Paris  1815.  67 


'O 


in  Europa,    so  möchte   dieser   g-lorreiche  Feldzug  wohl  keine 
andere  dauernde  Folgen  haben,   als    das   unsäglichste  Elend; 
indessen  dies  ist  die  Sache    des   sich   neu  anknüpfenden  Kon- 
gresses.  Uebrigens  scheint  es,  dass  meine  deutschen  Bekannten 
mich  mit   in   den  Bann   gethan,    ich   sehe  Niemand   von  den 
vielen  hier  Versammelten,  dafür  habe  ich  aber  die  Annehmlich- 
keit, alle  Klagen  über  vos  Prussiens  anhören  zu  müssen,  die 
sich  denn  auch  wirklich  als  Eächer  bezeigen,  sie  rauben,  sen- 
gen, brennen  und  morden,    als   hätten   sie's   aus  irgend  einer 
Legende  des  Mittelalters  gelernt,   was  aber   am  Meisten  hier 
verdriesst,    scheint   der  Mangel   an  Höüichkeit  zu   sein.    Ich 
habe  schon  verschiedene   Male   sagen  hören:     „Les  soldats  des 
auires  nations  pren7tent,  7nais  poliment^   ce  n'est  pas   comme   ces 
Prussiens!'^  —  Unterdessen  habe  ich  mir  das  Vergnügen  ge- 
macht, mich  m.it  Soldaten  von  einem  Eegiment  brauner  Husaren, 
das  vor  unserm  Garten   während   acht  Tagen   kampirte,    zu 
unterhalten,  und  mich  des  gesunden  graden  Sinnes,    und   der 
EechtUchkeit,  die  ich  bei  manchen  von  ihnen  gefunden,  gefreut. 
Ich  habe  ihnen  Vorwürfe  gemacht,  dass  sie  es  den  Franzosen 
so  in  ihren  Räubereien  nachahmen,    während   die   englischen 
Truppen  sich  so  gesittet  und  edel  bezeigen,  da  antwortete  mir 
einer,  der  das   eiserne  Kreuz  hatte:     „Wir   sind   nun  einmal 
gehasst  in  Frankreich,   es  ist  alles   eins."  —  Wundern  kann 
es  Dich,   lieber  Abraham,    so   wenig  als  mich,    wenn  ich  Dir 
erzähle,  wie  in  der  Gegend  von  Paris  gehaust  wird,  aber  be- 
trüben wird  es  Dich  doch,   wie   diese  schöne  Sünderin  so 
traurig   endet.      St.  Denis,    Montmorency,    St.  Cloud,    Sevres, 
Sceaux,  Malmaison  sind  auf  Jahre  hinaus  verheert,   und  Paris 
ist  zum  zweiten  Mal,    wie   durch    ein  Wunder  verschont   ge- 
blieben, wähi-end   man    sich    so    ganz   in  der   Nähe   mit   der 
grössten  Erbitterung  schlug.   Welche  angstvolle  Tage  ich  ver- 
lebt habe,  kannst  Du  Dir  leider  denken,  da  Ilir  ähnliche  kennt, 
aber  dennoch  hatten  die  letzten  Zeiten    einen  fürchterlicheren 
Charakter,  als  alle,    die  Ihr   in  Deutsclüand  erlebt,    denn  Ihr 
wart  einig,   und    hier   war  der  Ausbruch  des  schrecklichsten 
Bürgerkrieges    täglich    zu   erwarten,    während    die    fremden 
Armeen  vor  den  Thoren  waren,  die  sich  nur  öffneten,  um  die 

5* 


68  Henriette  Mendels  söhn 

grosse  Zahl  der  Verwundeten  einzulassen,  die  stündlich  die 
andringende  Gefahi'  hekannt  machten.  Viele  Nächte  liindurch 
zog  der  Pöbel  der  Vorstädte  unter  dem  Namen  der  Federes 
mit  wüthendem  GehrüU  dui'cli  die  Strassen,  und  ohne  die  wahr- 
haft heroische  Anstrengung  und  das  edle  Benehmen  der 
Garde  nationale  waren  wir  gewiss  verloren.  Wie  nun  aber 
auch  das  Ungeheure  in  Paris  eine  leichtsinnige  Gestalt  an- 
nimmt, geschah  es,  dass  während  jener  Jammeitage  Theater 
und  Spaziergänge,  sowie  alle  öffentlichen  Plätze  mehr  als  je 
besucht  wui'den;  geputzte  Damen  fuhi-en  in  Kaleschen  dem 
feindlichen  Lager  so  nahe  als  möglich,  und  es  fehlte  nicht 
viel,  so  hätte  die  Reihe  der  Stühle  auf  den  Boulevards,  auf 
welchen  Herren  und  Damen  sich  gemächlich  streckten,  sich 
bis  ins  englische  Lager  bei  Neuilly  hingezogen.  Sie  hielten 
diese  stupide  Sorglosigkeit  für  die  beste  Weise,  ihi'em  Könige 
Anhänglichkeit  zu  beweisen.  —  üebrigens  ist  es  mir  selbst 
widerfahren,  obgleich  der  leichte  Sinn  mir  eben  nicht  zu  Theil 
geworden,  dass  ich  eines  Abends  mit  der  Kleinen  ruhig  in  den 
Tuilerien  sass,  und  mit  Mme.  Brochay  plauderte,  während  ganz 
Paris  in  der  fürchterlichsten  Bewegung  war,  ich  ward  es  aber 
nur  gewahr,  als  ich  schon  zu  Haus  gelangt  war,  und  nun 
einen  schrecklichen  Tumult  und  Flintenschüsse  auf  den  Strassen 
und  in  den  Champs  Elysees  hörte.  Tags  darauf  las  ich  in  der 
Zeitung,  dass  am  vorigen  Abend  eine  Verschwörung  entdeckt 
und  vereitelt  worden  sei,  deren  Absicht  war,  Paris  in  die 
Luft  zu  sprengen.  Diesem  Salto  mortale  wären  wii*  also 
innerhalb  15  Monaten  zum  zweiten  Mal  entgangen!*)  — 


*)  Zur  Rechtfertigung  der  Preussen  gegenüber  den  Engländern 
—  wenn  überhaupt  eine  Verschiedenheit  im  Verhalten  beider  Ar- 
meen stattgefunden  —  Hesse  sich  wohl  anführen,  dass  die  Eng- 
länder nicht  wie  wir  den  Feind  im  Laude  gehabt  hatten:  die  Er- 
bitterung eines  Menschen,  der  sein  Gut  verwüstet,  sein  Vieh  fort- 
getrieben, seinen  Hof  niedergebrannt,  seine  Frau  oder  Tochter 
gemisshandelt  weiss,  ist  natürlich  grösser,  wenn  er  sich  in  der 
Lage  sieht,  Wiedervergeltung  üben  zu  können,  als  die  eines  andern, 
der  Alles  dies  nur  vom  Hörensagen  kennt. 


Marschall  Davonst.  69 

Auf  dem  Lande  lebte  Eenriette  einige  Jalire  als  nahe 
Nachbarin  von  Davoust,  und  sie  sclu*eibt  über  diesen  folgender- 
massen:  „Als  eine  merkwürdige  Thatsache  muss  ich  Ihnen 
doch  erzählen,  dass  dieser  fürchterliche  Davoust,  der  Schrecken 
des  Nordens,  der  Urheber  so  unsäglicher  Leiden,  in  seinem 
Hause  ganz  ohne  Willen  ist.  Er  hat  nicht  den  Muth,  dem 
geringsten  Diener  etwas  zu  befehlen,  ohne  die  Einwilligung 
seiner  Marschallin,  die  das  Hauskommando  ebenso  unerbittlich 
streng  übt,  als  er  die  eroberten  Länder  regierte."  —  Und  in 
«inem  zweiten  Brief:  „Marschall  Davoust,  seine  Frau,  die 
eigentlich  das  Hausregiment  führt,  und  seine  Kinder  sind  unsre 
tägliche  Gesellschaft.  Als  er  das  erstemal  meinen  Namen 
hörte,  frug  er  den  General  S.,  der  eben  mit  uns  war,  ob  ich 
Verwandte  in  Hamburg  habe,  er  hätte  dort  sehr  ehrenvolle 
und  geehrte  Personen  dieses  Namens  gekannt.  —  Beinahe  alle 
seine  Bediente  sind  Deutsche,  seine  Töchter  lernen  Deutsch 
recht  ernsthaft,  und  er  bittet  mich  jedesmal  inständig,  ihm  zu 
sagen,  ob  sie  etwas  deutsch  wüssten.  Das  politische  Leben 
dieses  Mannes  ist  mir  unerklärlich,  wenn  ich  ihn  im  Hause 
und  unter  seinen  Kindern  betrachte;  er  ist  ein  Vater,  wie 
Abraham  nur  sein  kann,  mischt  sich  in  alle  ihre  Spiele  mit 
wahrer  Herzlichkeit,  und  seine  älteste  Tochter,  ein  Mädchen 
von  14  Jahren,  die  ihm  ganz  ähnlich  sieht,  ist  das  sanf- 
teste Geschöpf,  das  ich  kenne.  Bloss  auf  eine  Weise  sind  mir 
die  Gräuel,  die  unter  seiner  Herrschaft  in  Hamburg  verübt 
worden,  erklärlich:  Er  scheint  mir  sehr  einfältig,  schwerfällig 
und  unwissend  zu  sein.  In  seinem  Hause  ist  er  ohne  Einfluss, 
und  so  war  es  gewiss  während  seines  Kommandos;  irgend  ein 
Elender  hat  an  seiner  Stelle  gehandelt!  Das  ist  aber  freilich 
den  armen  Bedrückten  ganz  einerlei,  und  er  ist  vielleicht  noch 
strafbarer,  dass  er  so  Ungeheures  geschehen  Hess."  — 

Henriette  war,  wie  oben  angeführt,  zur  katholischen 
Religion  übergetreten;  bei  Do.Tothea  haben  wir  gesehen, 
dass  sie  sogar  zweimal  die  Religion  w^echselte  und  auch 
schliesslich  zum  Katholicismus  gelangte.  Die  Strömimg  der  Zeit 
begünstigte  derartige  Seelenzustände  und  Wandlungen.    Auch 


70  Henriette  Mendelssohn. 

die  eine  Scliwester  Wilhelm  Hensels*),  die  erst  kürzHch  ver- 
storbene als  Dichterin  geistlicher  Lieder  bekannt  gewordene 
Luise  Hensel  war,  obgleich  Tochter  eines  protestantischen  Pre- 
digers, katholisch  geworden.  Ebenso,  mn  nur  bei  dem  Kreis 
der  näher  mit  der  Mendelssohn'schen  Familie  Verbundenen  zu 
bleiben,  Marianne  Saaling,  die  später  noch  erwälint  wer- 
den wird. 

Henriette  nahm  es.  wie  gewöhnlich  Pi'oselyten,  mit  der  neu 
angenommenen  Religion  sehr  ernst. 

Von  der  schönen  gegenseitigen  Toleranz,  mit  der  solche 
Sachen  in  der  Familie  behandelt  wurden,  zeugt  ihr  Testament, 
dessen  Eingang  also  lautet: 

„Da  ich  in  diesen  Worten  zum  letzten  Mal  mit  meinen  lieben 
Verwandten  rede,  sage  ich  ihnen  hiermit  Dank,  sowohl  für 
alle  Hülfe  und  Freundschaft,  die  sie  mir  im  Leben  bewiesen, 
als  auch  dafür,  dass  sie  mich  auf  keine  W^eise  in  der  Ausübung 
meiner  Eeligion  gehindert,  und  keine  Gehässigkeiten  gegen 
dieselbe  an  den  Tag  gelegt  haben,  so  dass  ich  es  mii*  selbst 
zuschreiben  muss,  wenn  Gott  der  Herr  mich  nicht  der  Gnade 
gewürdigt  hat,  meine  Geschwister  zur  katholischen,  wirklich 
seligmachenden  Kirche  hinüberzuziehen.  Möge  der  Herr  Jesus 
Christus  mein  Gebet  erhören,  und  sie  alle  mit  dem  Lichte  sei- 
ner Gnade  erleuchten!  Amen!"  —  Nun  folgen  die  Dispositionen 
über  ihr  kleines  Vermögen  und  viele  Andenken,  und  der  Schluss 
heisst:  „Ich  ersuche  meine  Brüder,  oder  diejenigen  Verwandten, 
welche  dies  Testament  eröffnen  werden,  mir  die  Todtenfeier 
der  katholischen  Kirche  zu  gewäliren,  übrigens  aber  mich  in 
aller  Frühe  so  still  als  möglich,  und  ganz  einfach  bestatten 
zu  lassen.  Die  Namen  Maria  Henriette  Mendelssohn  möchte 
ich  auf  dem  Leichenstein,  und  auf  dem  Kreuze,  das  ich  an 
dem  Grabe  zu  setzen  bitte,  die  Worte:  Redemisti  me,  Dens, 
Dens  veritatis!"  Der  Herr  stehe  mir  bei  in  meiner  letzten 
Stunde,  und  gebe  allen  meinen  geliebten  Verwandten  seinen 
Segen,  im  Leben  wie  im  Tode."  — 


")  Siehe  Pag.  111. 


Heiiriettens  Testament  und  Tod.  71 

Heni'iette  ging  nach  der  Verheirathimg  von  Fanny  Se- 
bastian! nach  Berlin  zurück  und  lehte  in  innigem  Verkehr  mit 
der  Familie  ihres  Bruders,  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy, 
der  sie  zusammen  mit  seinem  ältesten  Sohne  Felix  von  Paris 
abholte.  Sie  starb  am  9.  November  1831,  wie  ihre  Nichte, 
Fanny  Hensel,  in  ihrem  Tagebuche  schreibt,  „mit  einer 
Fassung,  einem  so  klaren  Bewusstsein  und  solcher  Sorge  für 
Andre  bis  zum  letzten  Augenblick,  dass  sie  ihrem  schönen 
Leben  die  Krone  aufgesetzt  hat." 


Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 


Abraham  Mendelssohn*),  dem  zweiten  Sohne  von  Moses, 
war  es  vorbehalten,  dem  Namen  wieder  einen  neuen  xmd 
^össeren  Glanz  zu  verleihen,  und  zwar  in  seinem  Sohn 
Felix.  Daher  das  bescheiden-humoristische  Wort,  was  er  ge- 
sprochen: „Früher  war  ich  der  Solin  meines  Vaters,  jetzt 
bin  ich  der  Vater  meines  Sohnes."  Dieser  Ausspruch  ist 
charakteristisch  für  ihn:  er  bildet  aUerdings  ein  Mittel-  und 
Verbindungsglied  zwischen  dem  festen  Judcnthum  Moses'  und 
dem  innigen  Christenthum  Felix'  und  Fanny's,  zwischen  der 
philosophischen  Weltanschauung  des  Vaters  und  der  künst- 
lerischen der  Kinder;  aber  er  war  selbst  eine  harmonische,  in 
sich  ausgebildete,  markige  Natur;  es  war  nichts  Epigonen- 
haftes in  ihm. 

Ueber  seine  Jugend  bis  zum  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
fehlt  es  an  Nachrichten;  im  Jahr  1803  finden  wir  ihn  im 
Fould'schen  Comptoir  in  Paris  als  Kassirer.  Er  wird  hier 
häufig  mit  seiner  Schwester  Henriette  in  ihrem  traulichen 
Gartenhaus  in  der  Rue  Eicher  über  seine  Zukunft  und  seine 
Lebenspläne  gesprochen  haben,  und  es  ist  höchst  wahrschein- 
lich, dass  es  Henriette  war,  die  seine  Gedanken  auf  Lea  oder 
Lilla  Salomon**),  ihre  intime  Freundin,  lenkte.  Diese  lebte  in 
Berlin  in  angenehmen  Verhältnissen  und  ausgebreiteter  Ge- 
selligkeit.  G.  Merkel,  der  genau  mit  der  Salomon'schen  Familie 

*)  geboren  den  11.  December  1776. 
**)  geboren  den  26.  März  1777. 


Lea  Salomon.  73 

befreundet  war  und  mit  Lea  in  lebhaftem  Briefwechsel  stand, 
hat  nach  ilirem  Tode  (1842)  einige  dieser  Briefe  der  Familie 
zurückgegeben,  zugleich  mit  folgender  Jugendschilderung  der 
Schreiberin: 

„Lea  Salomon.  Das  war  ihr  Jungfrauenname.  Bartholdy 
nannte  sich  ihr  älterer  Bruder  nach  dem  ehemaligen  oder  viel- 
leicht angeblichen  Eigenthümer  des  Gartens,  den  die  Familie 
besass.*)  Lea  war  nicht  schön,  aber  reizend  durch  ihr  sprechen- 
des, schwarzes  Auge,  durch  ihren  Sylphidenwuchs,  durch  ihr 
zartes,  bescheidenes  Benehmen  und  ihre  geistvolle  Unterhaltung 
voll  heller  VerstandsbHtze  und  treffendem,  aber  immer  schonend 
geäussertem  Witz.  Sie  hatte  sich  jede  Gattung  modischer 
Bildung  angeeignet;  sie  spielte  und  sang  mit  Ausdruck  und 
Anmuth,  aber  selten  und  nur  für  Freunde;  sie  zeichnete  treif- 
lich;  sie  sprach  und  las  Französisch,  Englisch,  Italienisch  und 
—  heimlich  —  Homer  im  Original.  Heimlich!  wie  hätten 
Andere  mit  diesem  Können  geprunkt !  —  Dir  Geschmack,  durch 
klassische  Schriftsteller  so  vieler  Sprachen  gebildet,  war  richtig 
und  feinsinnig,  aber  es  hielt  schwer,  ihr  ein  Urtheil  zu  ent- 
locken. Der  am  meisten  sagende  Zug  ihres  Charakters  war: 
sie  hatte  durch  das  Vermächtniss  eines  Verwandten  ein  be- 
deutendes Vermögen,  aber  ihr  Putz  war  immer  nur  zierlich 
und  einfach ;  ihrer  Mutter  aber,  die  viel  weniger  besass,  zahlte 
sie  ein  reichliches  Kostgeld  iiud  führte  zugleich  mit  sorgfältiger 
Häuslichkeit  die  einfache  Wirthschaft  derselben.  Die  nach- 
folgenden Briefe  vollenden  durch  ihre  schöne  Einfachheit  das 
Bild,  das  nach  fast  vierzigjähriger  Unterbrechung  aller  Be- 
ziehungen zwischen  ihr  und  mir  vor  meinem  Geiste  steht." 

Berlin,  2.  Juli  1799. 

„ Nach  einem  4wöchentlichen  Krankenlager  starb  mein 

guter  Grossvater.  Ich  brauche  Ihrem  gefühlvollen  Herzen  nicht 
weitläuftig  zu  erklären,  weshalb   ich  Ihnen  damals  nicht   zu 


*)  Derselbe  lag  in  der  Köpenicker-Strasse  an  der  Spree,  ging 
später  in  den  Besitz  von  Abraham  Mendelssohn  über  und  wird 
noch  öfter  unter  dem  Namen  der  „Meierei''  erwähnt  werden. 

Anm.  d.  H. 


74  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

antworten  vermochte.  Immerwährende  Unruhe  und  Bangigkeit, 
heftige  Spannung  und  Gemüthsbewegung  bei  seinen  letzten  un- 
glücklichen Lebenstagen;  der  schreckenvolle  Eindruck,  den  die 
langsam  verlöschende  Kraft  und  endlich  das  fürchterliche  Bild 
des  Todes  auf  meine  Seele  machten,  die  innige  Betrübniss  Aller, 
meine  herzliche  Theihialime  bei  den  allgemeinen  Klagen  und  die 
Bekümmerniss  um  meine  gute  Mutter,  die  diesen  harten  Schlag  am 
tiefsten  fühlte,  brachten  in  mir  eine  Stimmung  hervor,  die  nicht 
zur  Mittheilung  geschickt  war.  Ich  vmsste  überdies,  dass  Sie  die 
holde  Wehmuth  nicht  eben  sonderlich  lieben,  ich  bedachte,  dass 
nur  meine  genauesten  und  nachsichtsvoUsten  Freunde  mich  in 
einer  trüben  Laune  ertragen  könnten,  Ihr  lebhafter  Ausruf  vive 
la  joie!  tönte  mir  deutlich  und  als  unharmonisches  Echo  meiner 
schwermütlngen  Rühnmg  entgegen,  —  und  so  ist's  ganz  be- 
greiflich und  natürlich,  was  Ihnen  und  mir  sonst  unerklärlich 
und  sonderbar  scheinen  würde. 

Jetzt  bewegt  die  Zeit  nur  noch  sanft  mein  Gemüth  mit 
stillem,  liebevollem  Andenken.  Die  milde  Jahreszeit,  der  Genuss 
heiterer,  freier  Luft,  ein  herrliches  Leben  in  dem  reizendsten 
Garten,  gesellige  Freuden,  das  wichtige  Amt  einer  Haus- 
hälterin, die  ernste  Würde  der  Honneurs  unsers  gemeinschaft- 
lichen kleinen  Zirkels,  angenehme  Beschäftigungen,  der  liebliche, 
ungestörte  Anblick  der  schönen  Natur  geben  meinem  Herzen 
das  reinste  Vergnügen,  die  wohlthätigste  Stimmung.  Ich  hoffe, 
Sie  führen  noch  Ihren  Plan  aus,  uns  im  Herbste  hier  in  meinem 
kleinen  Paradiese  zu  besuchen.  Erwarten  Sie  nach  diesem 
vielversprechenden  Ausdrucke  aber  keine  Wunderdinge.  Bran- 
denburgs flaches  Land,  sein  magerer  Boden,  sein  gänzlicher 
Mangel  an  Allem,  was  zu  einer  romantischen  Anlage  gehört, 
sagen  Ihnen,  dass  bloss  die  Kunst  hier  das  Reiche,  VoUe,  Grosse 
einer  trefflichen  Natur  ersetzen  muss.  Doch  war  man  einsichts- 
voll genug,  nicht  kleinliche  Nachahmung  von  englischen  Parks, 
Modegrotten,  Lilliputfelsen  und  neuangelegten  Ruinen  (wie  in 
Ihrem  beliebten  Monbijou  etwa)  hier  hervorbringen  -zu  wollen. 
Denken  Sie  sich  die  dichtesten,  kühlsten  Schatten  ehrwürdiger 
Kastanienbäume,  Liuden  und  Platanen;  hohe,  gewölbte  Lauben- 
gänge ;  ü'eundüche  runde  Plätze  und  niedliche  Lusthänser ;  eine 


Lea  Salomon.  75 

Fülle  von  Florens  und  Pomonens  Scliätzen,  wie  von  Küchen- 
gewächsen  und  Treibhäusern,  deren  Anblick  als  Bild  des  Fleisses 
und  der  Betriebsamkeit  gewiss  wohl  interessant  ist,  und  Sie 
haben  eine  richtige  Idee  unsers  Sonuneraufenthalts.  Eechnea 
Sie  dazu  ein  kleines,  bequemes,  ländliches  Wohnhaus,  an  dem 
sich  Weinstöcke,  Maulbeeren  und  Pfirsichbäume  hinaufranken, 
und  in  dem  ich  ein  nettes,  aber  höchst  einfaches  Zimmerchen 
besitze:  mein  Klavier,  Bücherschrank  und  Schreibpult  die  einzigen 
Meubles,  das  Bild  meiner  Jette  und  frische  Blumen  der  einzige 
Schmuck  darin,  Raum  und  Einrichtung  nicht  für  einen  glän- 
zenden Zirkel,  sondern  bloss  für  den  engen  Ki'eis  weniger 
Freunde  —  das  Ganze  still,  freundlich  und  einsam. 

Verzeihen  Sie,  wenn  mein  Geschwätz  über  diese  unbedeu- 
tenden leblosen  Gegenstände  so  weitläufig  geworden.  Unendlich 
viel  theure  Erinnerungen  umgeben  mich  in  diesem  geliebten 
Garten:  Unter  diesen  Bäumen,  die  mein  guter  Grossvater  pflanzte 
und  an  denen  er  mit  wahrer  Liebe  hing,  habe  ich  die  rosen- 
farbenen  Träume  der  Kindheit  durchschwärmt;  jeder  Gang, 
jedes  Plätzchen  ist  mir  duixh  süsse  Andenken  der  Vergangen- 
heit heilig  und  merkwürdig;  hier  entwickelte  sich  mein  Ge- 
fühl, hier  entfaltete  sich  zuerst  der  jugendliche  Sinn  und 
klar  ward  mir  in  dieser  lieblichen  Einsamkeit,  was  leise 
unbewQSst  in  der  Seele  schlummerte:  mit  erhöhterer  Empfindung 
las  ich  hier  meine  Dichter;  Schriftsteller  der  Freiheit,  des  Rechts, 
der  edlen  Wahrheit  wurden  mir  begi-eifiicher,  werther  und  näher; 
selbst  die  schwachen  Töne,  die  meine  ungel\bten  Finger  hervor- 
locken, wähne  ich  hier  melodischer  und  reiner.  So  umgiebt 
meine  Einbildungskraft  dies  Alles  mit  höherem  Glanz,  und  Sie 
müssen  schon  dem  närrischen  Mädchen  einige  Schwärmereien 
zu  Gute  halten.  Sie  selbst  haben  ja  in  Sans-souci  lebhaft  ge- 
fühlt, dass  dasjenige,  was  man  in  den  betrachteten  Gegenst^^nd 
hineindenkt  und  durch  eigene  Empfindung  verschönert,  ge- 
meiniglich mehr  werth  ist  und  höheren  Genuss  giebt,  als  was 
man  von  dem  kalten  Anschauen  ge^vinnen  kann. 

Ihrer  beliebten  Weise  gemäss  haben  Sie  Freund  Itzig  auch 
diesmal  nicht  Wort  gehalten.  Ich  habe  ziemlich  fleissig  Briefe 
von  ihm,  und  er  hat  schon  längst  die  Hoffnung  aufgegeben,  Sie 


76  Abraham  Mendelssohn  Eartholdy. 

in  Wittenberg  bei  sich  zu  sehen.  Er  lebt,  seinem  schönen 
Vorsatze  getreu,  einsam  in  anhaltendem  Studium:  Spazieren- 
gehn,  Dichten,  das  Lesen  angenehmer  Bücher  und  Unterhaltung 
mit  vielen  in  seinem  Wirthshause  ankommenden  interes- 
santen Fremden  sind  seine  einzigen  Erholungen.  Ich  freue 
mich  ungemein,  durch  sein  selbstständiges  consequentes  Betragen 
ihn  so  früh  zum  achtungswerthen  Manne  heranreifen  zu  sehn. 
Eecht  glücklich  schätze  ich  mich  in  der  That,  so  ächte,  be- 
ständige Freunde  zu  haben,  und  zu  fühlen,  dass  manche  früh  ge- 
schlossene Verbindung  sich  mit  den  Jahren  immer  fester  und 
unauflöslicher  knüpft. 

Sein  Jugendfreund,  mein  ältester  Bruder  lebt  noch  immer 
in  Mainz ;  das  Treiben  und  Thun  der  Franzosen  und  die  nähere 
Beleuchtung  ihrer  dortigen  Verfassung  hat  viel  Anziehendes 
für  ihn:  mitunter  schv^eift  er  in  den  göttlichen  Gegenden  um- 
her, nnd  hat  erst  kürzlich  in  Gesellschaft  des  Professors  Eiese- 
wetter,  den  er  unvermutheter  Weise  in  Mainz  antraf,  eine  sehi* 
schöne  Fahrt  den  Rhein  hinab  bis  Bonn  und  Coblenz  gemacht. 
Letzterer  ist  vor  einigen  Tagen  hier  angekommen  und  gab  uns 
recht  beruhigende  Nachi'ichten  über  die  Lebensweise  und  den 
dortigen  Umgang  meines  Bruders. 

Vor  wenigen  Wochen  habe  ich  einen  Ihrer  Landsleute 
kennen  gelernt,  und  gleich  im  ersten  Gespräch  die  erfreuliche 
Entdeckung  gemacht,  dass  er  einer  Ihrer  Schulfreunde  gewesen. 
Er  heisst  Pölchau,  und  ist  schon  wieder  nach  dem  Ort  seines 
gewöhnlichen  Aufenthalts,  Eambui'g,  zurückgekehrt.  Ein  sanfter, 
liebenswürdiger  Mensch !  Seine  einnehmende  Physiognomie  hat 
den  Ausdruck  einer  Herzensgüte,  die  ihm  AUer  Zutrauen  und 
Wohlwollen  erwarb.  Man  hatte  mir  gesagt,  dass  sein  Anstrich 
stiller  Melancholie  einer  unglücklichen  Leidenschaft  zuzuschreiben 
sei;  nun  können  Sie  sich  vorstellen,  wie  diese  Idee  meine  Phantasie 
in  Bewegung  setzte,  welch  innigen  Antheü  sie  ihm  gewann,  wie 
ich  ihn  tausendmal  interessanter  fand,  da  ich  um  aus  Ueber- 
mass  der  Zärtlichkeit  und  Treue  leidend  glaubte!  Er  liebt 
Musik  über  alles,  und  hat  die  schönste,  angenehmste  Stimme, 
die  ich  seit  langer  Zeit  gehört.  Die  Wahl  seiner  Lieblings- 
lieder scheint  mir  ganz  seinem  Charakter  zu  entsprechen:   die 


Lea  Salomon.  77 

französische  tändelnde  Manier  und  das  Verzierte,  Bunte  der 
Italiener  widerstrebt  seiner  einfachen  Empfindung;  aber  mit 
welcher  seelenvollen  Begeisterung,  mit  welchem  unnachahmlichen 
Ausdruck  sang  er  eines  Reinhardts  und  Zelters  herzliche  Me- 
lodien zu  Göthens  himmlischen  Versen,  eines  Grauns  süsse,  be- 
zaubernde Komposition!  Es  war  ein  Genuss,  einen  so  reinen, 
ungeheuchelten  Enthusiasmus  für  Gegenstände  der  ächten,  höhern 
Kunst,  so  lauter,  wahr  und  kindlich  gefühlt,  bei  ihm  anzu- 
treS'en. 

Weil  ich  der  hohem  Kunst  erwähne,  will  ich  Sie  doch 
geschwind  um  Ihr  Urtheil  über  Wallensteins  Tod  befragen. 
Ich  hoffe,  er  hat  Sie  ganz  mit  den  Piccolomini  versöhnt  mit 
denen  Sie,  dünkt  mich,  unzufrieden  gewesen.  Meiner  geringen 
Meinung  zufolge  ist's  ein  Meisterstük.  Diese  Gedankenfülle, 
dieser  Reiz  des  Ausdrucks,  diese  hohe  Siniachheit  und  dichterische 
Schönheit  mit  dem  interessantesten  Stoffe  verwebt  werden  lange 
unnachahmlich  und  unerreichbar  bleiben.  Doch  wenn  sie  auch 
AUes  tadeln  wollten,  so  w^eiss  ich  doch  wenigstens,  dass  Ihr 
kiitisches  Auge  der  Thekla  ^^Trd  Gerechtigkeit  widerfahi^en 
lassen.  Dieser  erhabene,  himmlische  Charakter  hat  sich  Ihnen 
in  der  freundlichsten,  Ihrem  Herzen  werthesten  Gestalt  gezeigt. 
(Sie  haben  den  Wallenstein  doch  in  Weimar  aufführen  sehn?) 
Diesem  Engel  des  Lichts  und  der  menschlichsten  Grösse  wider- 
standen Sie  nicht!  —  Ich  freue  mich  erstaunlich,  es  auf  dem 
Theater  zu  sehn;  ich  las  es  mit  grosser  Aufmerksamkeit,  und 
bin  auf  die  Wirkung  begierig,  die  das  täuschende  Anschauen 
der  lebenden,  göttlichen  Wesen  und  der  Zauber  der  wirklichen 
Darstellung  auf  mich  machen  werden. 

Um  auf  einen  Im^er  LiebUnge  zu  kommen!  was  sagt  man 
denn  in  Weimar,  diesem  Sitz  der  Musen,  des  Genies  und  der 
Iü"itik,  von  den  Brückmannschen  Elegien?  Ohne  freundschaft- 
liche Partheilichkeit  kommen  sie  mir  recht  schön  vor,  besonders 
die  an  Klopstock,  die  sich  durch  einen  feui'igeren,  kühneren 
Schwung  von  dem  klagenden  sanften  Ton  der  übrigen  aus- 
zeichnet. Sagen  Sie  mir  doch  Ihre  Meinung;  ich  ahne  zwar, 
wie  sie  ausfallen  wird,  indessen  wünschte  ich  doch  so  sehr  vor 
Einseitigkeit   bewahrt    zu    sein,    dass    mir   Ihr    ürtheil    voll 


78  Abraham  Mendelssohn    Baitboldy. 

Strenge,  Witz  und  Scharfsinn  neben  meinem  freundlichen  Wohl- 
wollen recht  nützlich  wäre. 

Sehen  Sie  Kotzebue,  und  wie  gefällt  er  Ihnen?  Mir  ist 
er  als  guter  Bekannter  meiner  Freundin  Henriette  wohl  inter- 
essant, und  ich  möchte  gern  etwas  von  dem  Menschen  wissen, 
obgleich  der  Schriftsteller  in  ihm  mir  sehr  gleichgültig  ist. 
Wie  lebt  denn  überhaupt  die  ganze  Heerde  —  Scbaar  wollte 
ich  sagen  —  der  Autoren  in  Weimar?  Friedlich  oder  kriegerisch  ? 
denn  das  müssen  Sie  ehrlich  eingestehen,  dass  Sie  alle,  Herren 
Gelehi'ten !  ein  gar  unverträgliches,  wunderliches  Völkchen  sind ! 
—  Bitte  meine  Freimüthigkeit  zu  entschuldigen.  —  Welcher 
Gegenstand  beschäftigt  denn  Dire  Feder  jetzt?  Tiefe  Politik, 
ernste  Geschichte,  tändelnde  Liebe?  Huldigen  Sie  der  feier- 
licheren Muse  oder  den  lächelnden  Grazien  und  Liebesgötterchen? 
Und  haben  Sie  den  entsetzlichen  Plan  aufgegeben,  über  die 
Juden  zu  schi'eiben?  Sagen  Sie  mir  nur,  welch  ein  Gott  oder 
welche  Göttin  könnte  bei  diesem  Sujet  präsidiren?  Meiner 
kleinen  Kenntniss  der  Mythologie  und  der  Bewohner  des  Parnass, 
Heükon  und  Pindus  nach,  giebts  keinen  einzigen.  Sie  glauben 
wohl,  alle  Ihre  bisherigen  Werke  ohne  den  Einfluss  solcher 
höheren  Mächte  verfertigt  zu  haben?  doch  trauen  sie  dem  Wort 
einer  Uneingeweihten!  Unsichtbar  und  unbemerkt  hat  Sie  bis- 
her der  herrliche  Gott  der  Begeisterung  imischwebt,  hüten  Sie 
sich,  Ihren  stillen  Schutzgeist  zu  verscheuchen!  — 

Nun  darf  ich  wirklich  Hu'e  Geduld  nicht  länger  ermüden ! 
Also  geschwind  nur  noch  viel  herzliche  Giüsse  von  allen  den 
Meinigen  (die  Aristokraten  ausgeschlossen,  beruhigen  Sie  sich!) 
und  die  demüthige  vielleicht  zu  gewagte  Bitte  um  grossmüthige. 
baldige  Antwort.  Lea  SaloBion. 

Berlin,  26.  August  1799. 
—  —  Wie  gut  war  es,  dass  mein  Brief  Sie  in  so  schöner 
Gesellschaft  und  an  einem  so  reizenden  Aufenthalte  traf!  Er 
störte  Sie  nicht  im  Genuss  des  angenehmen  Gesprächs  und 
der  lieblichen  Natur ;  einige  der  wohlthätigen  Eindrücke  folgten 
ihm  nur,  als  Sie  ihn  später  in  der  Einsamkeit  lasen,  und  ver- 
schafften ihm  eine  günstige  Aufnalime.   Warum  kann  ich  diesem 


Lea  Salomon.  79 

Blatte  nicht  ein  gleiches  Schicksal  sichern?  Hätte  ich  den 
liebenswüi'digen  Beschützern  der  Haine,  Fluren  und  Quellen 
zu  gei)ieten,  so  müssten  Sie  trotz  irgend  einem  Feenprinzen 
oder  Idyllenhirten  von  allen  ersinnlichen  Lustwäldchen,  rieseln- 
den Bächen  und  Blumengefilden  umgeben  sein,  und  wenn  Sie 
„im  Grase  nach  Schmetterlingen  haschen"  ein  leichter  Zephyr 
oder,  für  Sie  noch  besser,  eine  schöne  Nymphe  Ihnen  mein 
Brieflein  überreichen!  doch  alsdann  wäre  gar  zu  viel  Zer- 
streuung zu  fürchten,  und  so  lassen  wii-'s  immer  bei  dem  alten, 
gewöhnlichen  Alltagsgange. 

Die  einfache  Beschreibung  meines  geliebten  Gartens  war 
gewiss  nicht  gemacht,  einen  Vergleich  mit  Ihi-em  Tibur  aus- 
zuhalten, imd  ich  habe  Ihnen  ja  gesagt,  warum  seine  ehr- 
würdigen Laubengänge  gerade  meinem  Herzen  theuer  und 
meiner  Erinnerung  lieb  sind.  Auch  mache  ich  mich  darauf  ge- 
fasst,  dass  Sie  ilrn  recht  unerträglich  finden  werden,  imd  sehe  Sie 
schon  im  voraus  der  antigenialischen  Symme4irie  spotten  wo 

„grove  nods  to  grove,  each  alley  has  its  brother". 
Doch  Sie  sollen  ihn  mir  nicht  verleiden,  so  herzlich  ich  auch 
über  Ihre  witzigen  Anmerkungen  zu  lachen  bereit  bin,  denn 
eine  recht  w^alire,  dankbare  Empfindung  und  das  Andenken 
mancher  Scene  der  Jugend  machen  mir  ihn  interessant.  Ich 
erkenne  auch  wohl,  dass  Ihnen,  die  Sie  glücklichere  Gegenden 
gesehen,  unsere  langweilige  Einförmigkeit  nicht  gefallen  kann ; 
doch  zu  diesem  traurigen  vaterländischen  Boden  habe  ich  einen 
stillen  Sinn  der  Genügsamkeit  bekommen,  der  wohl  etwas 
Höheres  ahnet,  aber  demohngeachtet  mit  ächter  Freude  an 
den  einfachen  Gegenständen  der  mich  umgebenden  Natur  hängt. 
Auch  hier  glänzen  Blumen,  winken  Bäume  mit  malerischen 
Aesten,  und  lachende  grüne  Ufer  spiegeln  sich  in  klarer  Flut; 
ich  träume  mir  mein  Arkadien  und  bin  in  meiner  beschränkten 
Mttelmässigkeit  sehr  glückUch.  Glauben  Sie  aber  nicht,  dass 
ich  gegen  eine  reichere,  edlere  Natur  unempfindlich  bin :  schon 
die  Beschreibung  eines  milderen  Himmelsstriches  erfüllt  mich 
mit  Entzücken,  und  das  Ideal  aller  Wünsche  ist  mir  eine 
Reise  in  solche  herrliche  Gegenden.  Wäre  ich  in  Italien,  der 
Schweiz  oder  dem  südlichen  Frankreich  geboren,  so  wette  ich 


80  Abraham  Meudelssohn  Bartholdy. 

fast,  ich  müsste  eine  Dichterin  geworden  sein,  und  das  in  einer 
etwas  langweiligen,  nämlich  der  beschreibenden  Gattung:  mich 
dünkt  wii'klich,  der  Frühling  würde  mich  dort  begeistert  haben, 
und  die  armen  Echo's  hätten  auch  meine  Klagen  oder  Freuden- 
gesänge wiederholen  müssen. 

Itzig  hat  seine  Studien  in  Wittenberg  geendet  und  ist 
seit  einigen  Wochen  hier.  Was  werden  Sie  aber  sagen,  wenn 
ich  Sie  mit  seinem  Uebergang  zur  christlichen  Eeligion  be- 
kannt mache?  Luthers  Geburtsort  und  die  heilige  Stätte 
seiner  Lehren  hat  auf  ihn  gewii'kt,  er  konnte  der  Begierde, 
unter  dem  Bilde  dieses  grossen  Mannes  getauft  und  gleichsam 
dadurch  von  ihm  beschützt  zu  werden,  nicht  widerstehen,  und 
hat  vermittelst  dieses  Schrittes  zum  Seelenheil  dann  nebenher 
den  weltlichen  Vortheil  erlangt,  nächstens  in  seinem  Fache 
angestellt  zu  werden.  Leider  erhält  er  aber  wahrscheinlich 
eine  Stelle  in  Polen  und  ich  zweifle  beinah,  ob  eine  be- 
schwerliche Amtsführung  in  diesem  Lande  ihm  Beharrlichkeit 
und  Geduld  genug  lassen  wii'd,  dem  erwählten  Stande  treu  zu 
bleiben.  Wie  sehr  ich  dies  wünsche,  kann  ich  Ihnen  nicht 
beschi-eibea:  die  meisten  Abtrünnigen  haben  bisher  durch 
schlechtes,  oder  doch  inconsequentes  Betragen  eine  Art  von 
Verächtlichkeit  auf  diesen  Schritt  geworfen,  der  auch  die 
Besseren  brandmarkt.  Träte  Jemand  auf,  der  diu'ch  untadel- 
haften  Charakter,  durch  Ausdauer  in  seinen  Vorsätzen  und 
Weltklugheit  im  Benehmen  (nach  welcher  die  meisten  Urtheüe 
ja,  traurig  genug,  gefällt  werden)  ein  achtungswerthes  Muster 
darstellte,  so  wüi'de  ein  grosser  Theil  dieser  nur  zu  gegrün- 
deten Behauptung  verschwinden.  Erfreulich  wär's,  wenn  man 
dieser  Heuchelei  entbehren  könnte;  aber  der  Drang  nach 
höherem  Wirken,  als  dem  eines  Kaufmanns,  oder  tausend  zarte 
Verhältnisse,  in  denen  der  nahe  Umgang  mit  andern  Eeligions- 
verwandten  junge  Gemüther  verwickeln  kann,  lassen  doch  in 
der  That  keinen  andern  Ausweg.  —  Mich  dünkt  ich  habe  nie 
Dire  Meinung  über  diesen  Schritt  gehört,  und  sie  ist  mir  sehr 
interessant  und  wichtig;  sprechen  Sie  mir  darüber  sowohl,  als 
über  die  Ai't,  mit  der  Sie  diese  Materie  in  Ihrem  Buche  zu 
behandeln  denken. 


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Lea  Salomon.  81 

Ueberhanpt  wäre  mir's  viel  lieber  gewesen,  statt  Ihrer 
acht  französischen  galanten  Pointe  eine  redliche  deutsche 
Auskunft  über  Ihr  zu  schreibendes  Buch  zu  erhalten.  Sachen 
sind  mir  mehr  werth  als  Phrasen,  und  wenn  es  Ihnen  denn 
eüimal  um  Schmeichelei  zu  thun  ist,  so  will  ich  Ihnen  gut- 
müthig  mein  Genre  sagen ;  Es  ist  die  Sprache  der  mittheilenden 
Herzlichkeit,  der  vertraulichen  Güte,  jener  herablassenden 
Belehrung,  mit  der  eiu  denkender  Kopf  geringfügige  Sterbliche 
mit  seinen  Plänen  und  Ideen  bekannt  zu  machen  würdigt,  — 
ce  rCest  pas  le  ton  des  aimdbles  riensj  des  fleurettes  spirituelles, 
des  tournures  ingenieuses.  Ich  habe  Urnen  das  so  französisch 
sagen  müssen,  weil  ich's  dem  angemessener  finde,  und  weil 
mir  immer  parisisch  zu  Muthe  wird,  wenn  ich  an  übertriebene 
Komplimente  denke. 

Da  ich  einmal  im  Zanken  bin,  so  will  ich  Ihnen  geschwind 
einen  Vorwurf  über  Ihren  geheimnissvollen  Argwohn  machen. 
Ich  bin  eben  recht  begierig  etwas  Näheres  über  Kotzebue  zu 
lesen,  —  da  ziehen  Sie  das  angefangene  Wort  schnell  zurück, 
mit  dem  bösen  Zusätze  „halt,  Sie  haben  mir  metue  Bitte  wegen 
der  Nichtmittheilung  meiner  Briefe  nicht  beantwortet."  —  So 
wissen  Sie  denn,  mein  gar  ängstlicher  Herr !  dass  ich  von  vielen 
Dingen  nicht  spreche,  weil  sie  sich  von  selbst  verstehen.  Kluge 
Leute  errathen  das  Meiste;  und  wenn  aUes  trügt,  so  täuscht 
doch  wenigstens  der  Charakter  der  Frauenzimmer  darin  nicht, 
dass  ihnen  der  Schein  der  Indiscretion  und  Plaudersucht  so 
ganz  obenauf  sch-svimmt,  und  diese  Gabe  sich  am  wenigsten 
verbirgt.  Wie  es  Ihnen  also  entging,  dass  ich  die  Ver- 
schwiegenheit selbst  bin,  begreife  ich  nicht,  und  beinah  möchte 
ich's  für  eine  Ihrer  Bosheiten  halten,  mich  nur  zu  einem 
Geständnisse  zu  zwingen,  bei  dem  meine  liebenswürdige,  hold 
erröthende  Bescheidenheit  so  sehr  ins  Gedränge  kommt.  Glauben 
Sie  übrigens  nicht,  dass  ich  in  Ihr  Geheinmiss  dringen  wül: 
ich  habe  nie  um  Ihr  Verhältniss  zu  Kotzebue,  sondern  um 
Ihr  Urtheil  über  ihn  gefragt,  und  dies  ist  bei  meiner 
Offenheit  immer  so  freimüthig,  dass  ich  ohne  Unbescheidenheit 
mir  Ihre  Meinung  erbitten  zu  können  glaubte. 

Der    arme  Pölchau!      Vom    Vavez   hien    arrange!   —   doch 

Die  Familie  Mendelssolia.  L  Ö 


82  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

ist  wirklich  ein  kleiner  Irrthum  mit  seiner  romantischen  Liebe 
vorgegangen  und  ich  habe  später  erfahren,  dass  seine  Schwer- 
muth  zum  Theil  von  dem  unglücklichen  Ende  seines  Bruders 
herrülu't.  Dafür  muss  ich  üin  aber  desto  mehr  lieben,  denn 
wenn  die  Kraft  zu  einer  Leidenschaft  interessant  ist,  so  hat 
die  stille,  sehnende  Brudertreue  gar  etwas  Eührendes  und  An- 
ziehendes. Sie  fragen  nach  der  Beständigkeit  des 
Schmachtens  eines  Mannes.  Das  ist  nun  wunderlich 
genug  zu  beantworten,  zumal  für  mich,  die  so  gar  keine 
Eoutine  in  Zärtlichkeitsangelegenheiten  hat.  Der  heftige  aber 
veränderliche  Charakter  der  Männer  giebt  auch  wenig  Gelegen- 
heit, erbauliche  und  trostreiche  Betrachtungen  über  diesen 
Gegenstand  anzustellen,  und  wenn  es  einen  Werther  und 
einen  Pölchau  giebt,  so  laufen  dafür  hunderttausend  Flatter- 
hafte umher,  die  ihre  Aufwallungen  zu  Leidenschaften 
adeln,  und  von  dem  immer  schwächeren  Abglanz  jenes  heiligen, 
ewig  glühenden  Feuers  zuletzt  nichts  als  den  Namen  eines 
Gefühls  übrig  behalten,  dessen  wahre  Bedeutung  ihnen  auf 
immer  ein  Geheimniss  bleibt. 

Führen  Sie  mir  doch  kein  Publikum  zur  Autorität  gegen 
den  Wallenstein  an,  wenn  ich  bitten  darf.  Das  Aechte  der 
höheren  Kunst  wird  gewiss  nur  von  wenigen  feineren  Seelen 
gefühlt  und  verstanden,  und  wenn  eine  bürgerliche,  tragi- 
komische Familienzwistigkeit  von  Ifflands  gar  natürlich  scliil- 
dernder  Feder  mehi'  für  den  Gesichtskreis  der  Menge  ist,  als 
Schillers  erhabene  Heldengestalten,  so  beweist  dies  doch  wohl  nicht 
Ifflands  grösseres  Genie  ?  Das  kann  bei  Birem  schönen  Kunst- 
sinn doch  keine  Schlussfolge  sein?  Freilich  darf  ich  über  den 
theatralischen  Effekt  nicht  sprechen,  da  ich  Wallenstein  nur 
gelesen,  doch  scheint  es  dem  Stücke  an  Lebendigkeit  der 
Handlung  nicht  zu  fehlen,  und  wenn  der  Held  gegen  sein 
Schicksal  nichts  vennag,  so  ist  dies  wohl  auf  seinen  Aber- 
glauben gegründet,  der  ihn  seinen  Untergang  erst  spät  ahnen 
lässt.  Flecks  treffliches,  geistvolles  Spiel  wird  Sie  vielleicht 
eher  mit  dem  unglücklichen  Helden  aussöhnen,  als  alles,  was 
ich  Ihnen  für  ihn  sagen  könnte,  darum  sehen  Sie  ihn  erst  hier, 
und  erholen  Sie  sich  von  Ihi-er  Erstarrung  bei  der  Thekla  an 


Lea  Salomon.  83 

■der  lieblichen  Mde.  Fleck,  die  in  dieser  Rolle  ganz  zartes  Gefühl 
und  weibliche,  treue  Liebe  sein  soll. 

Welche  Zeilen   im  Allwill  Sie  zweihundert  Mal    gelesen, 
kann  ich  wirklich  nicht  errathen,   und  Sie  wären  recht  gütig, 
wenn  Sie  meinem  Mangel  an  Scharfsinn  zu  Hülfe  kämen.    Ich 
beneide  Sie  recht  eigentlich  um  das  Glück,  Wielanden  so  nahe 
zu  sein.    Als  ich  kürzlich  seinen  prächtigen  Agathodämon  las, 
ist  mir's  von  Neuem  recht  fühlbar  geworden.     Welch  ein  be- 
neidenswerthes    Vorrecht,    nach   einem    so    ruhmvollen   Leben 
diese  Thätigkeit  und  Geistesstärke  im  Alter  übrig  zu  behalten, 
und  sich   auch  in   den   spätesten   Werken   gleich  trefflich  zu 
erhalten!     Ich  habe  mich  ungemein   gefreut,    als   ich  neulich 
erfuhr,    dass    er   mit  dieser  ewigblühenden  Jugendlichkeit  der 
Phantasie  auch  die  beseligende  Wärme  des  Herzens  und  das 
innige  Gefühl  für's  Schöne  noch  vereinige.  Er  hat  der  liebens- 
würdigen Sophie  Brentano    ein   ebenso    feines   als  seelenvolles 
und  lieblich  ausgedrücktes  Kompliment  gemacht.  —  Sie  müssen 
diesen  Engel  aber  nothwendig  kennen,  und  würden  mich  durch 
Nachrichten  von  ihr  überaus  glücklich  machen.     Ich  habe  sie 
nie  gesehen,   und   liebe  sie  doch  bis  zur  Anbetung.     Aus  Be- 
schreibungen  ihrer   und   meiner  Freundin  Henriette    und  aus 
Briefen  kenne  ich  sie.    Man  pflegt  das  Talent  des  Briefschreibens 
aUen  Frauenzimmern  beizulegen:  aber  wenn  Leichtigkeit  den 
Meisten   diesen  Lobspruch  zugezogen  hat,  so  giebt's  noch  gar 
viele  Abstufungen  und  schönere  Eigenthümlichkeiten,  die  Sophie 
im   höchsten   Grade   besitzt.     Diese   himmlische  Zartheit   der 
Empfindung,  dieser  feingebildete  Geist,  dies  liebevolle  Hingeben 
und  die  unnachahmliche  Grazie   des  Ausdrucks   habe  ich  noch 
nie  so  vollkommen  vereinigt  gesehn:  sie  ist  einzig  und  unüber- 
trefflich.    Ebenso  hinreissend  und  bezaubernd  soll  sie  im  Ge- 
spräch und  Umgang  sein;  Seele,  Witz,  Gefühl,  Liebenswürdig- 
keit, Bildung  und  Reiz,  nichts  hat  die  gütige  Natur  bei  dem 
seltenen   Geschöpf  vergessen.     Wie  ich   nach   ihrem  Anblick 
sehnlichst  verlange,  wie  mich  das  nähere  Anschauen  so  vieler 
göttlicher  Eigenschaften  entzücken  würde,   das  kann  ich  nicht 
beschreiben.   Sollte  sie  noch  in  Weimar  sein,  so  rufen  sie  mich 
ihr  ins  Gedächtniss    zurück   und    vermögen  Sie  sie  hierherzu- 

6* 


84  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

kommen.  Die  Eeise  ist  ja  so  klein,  und  ihre  Grossmutter 
würde  wenigstens  einen  Gegenstand  ihres  Interesses  hier  finden 
—  die  Gräfin  Genlis,  von  der  sie  unglaublich  eingenommen 
ist.  Die  Genlis  wohnt  nah  an  unserm  Garten,  wir  sehen  sie 
täglich,  und  es  gäbe  schon  einen  hübschen  Vereinigungspunkt ! 
Welchen  Enthusiasmus  für  Sophie  hat  mir  meine  liebe  Henriette 
eingeflösst!  Sie  war  vor  Bewunderung,  Freude  und  Eührung 
ausser  sich,  wenn  sie  von  ihr  erzählte,  und  gewiss  war  diese 
Liebe  keine  blinde,  mädchenhafte  Zuneigung,  sondern  die 
klarste  Ueberzeugung  einer  schönen  Natur,  eines  herrlichen 
Charakters  und  veredelten  Verstandes.  Sie  müssen  mir  recht, 
recht  viel  von  ihr  erzählen,  ich  bitte,  ich  beschwöre  Sie  darum. 
Ich  kann  Ihnen  das  Interesse  für  sie  nicht  lebhaft  genug 
schildern,  und  wenn  Sie  sie  kennen,  theilen  Sie  gewiss  meine 
anbetungsvolle  Schwärmerei. 

Arland  hat  mir  geschi'ieben,  und  viel  Grüsse  für  Sie  auf- 
getragen. Er  lebt  jetzt  in  Freienwalde,  gebraucht  dort  die 
Bäder  und  scheint  jetzt  im  Genuss  der  schönen  Natur  sich 
recht  sehr  zu  erholen.  Sein  Leben,  so  ganz  voll  Entbelirungen, 
eine  Kette  von  kindlichen  Pflichten  und  immerv/ährei^den 
Opfern  ist  wahrlich  ehrwüi^dig  und  musterhaft.  Eine  Auf- 
wallung von  Stärke  und  Grossmuth  flammt  wohl  einmal  in 
jeder  Brust :  aber  Ausdauer,  fortgesetzte  Anstrengung,  die  der 
Enthusiasmus  erzeugt  und  feste  Beharrlichkeit  ausführt,  ist 
selten  und  gross.  Ach  wie  gerne  gäbe  ich  ihm  jetzt  die  Mittel, 
ein  schöneres  Leben  nach  eigenem  Sinn  zu  begiunen!"  — 

Dieses  Mädchen  scheint  Abraham  Mendelssohn  auf  einer 
Reise  von  Paris  in  Berlin  kennen  und  lieben  gelernt  zu 
haben.  Er  stellte  zuerst  die  Bedingung,  dass  sie  mit  ihm 
in  Paris  leben  soUte,  da  er  Berlin  nicht  leiden  konnte,  während 
die  Mutter  des  Mädchens  ihre  Tochter  nicht  einem  „Commis" 
geben  wollte.  Henriette  schreibt  darüber  an  ihi-en  Bruder: 
^Wie  gern  ich  Deine  Hoffnung  eines  glücklichen  Erfolgs  theilen 
möchte,  sage  ich  Dir  nicht,  aber  gestehen  muss  ich  Dir,  dass 
es  mir  fast  unmöglich  scheint,  dass  es  Dir  unter  Deiner  Be- 
dingung gelinge.    Und  doch  Lieber!  wäre  diese  Heirath  ein  so 


Yerheiratlmng.  85 

seltenes,  in  jeder  Hinsicht  so  ausgezeichnetes  Glück  für  Dich, 
dass  ich  nicht  genug  bitten  kann,  nicht  übereilt  zu  sein,  Deiner 
Lage,  die  freilich  in  diesem  Augenblick  nicht  unangenehm  ist, 
aber  die  es  vielleicht  werden  könnte,  nicht  zuviel  aufzuopfern. 

Mir  ist,  als  wäre  ich  20  Jahr  älter  als  Du,  und  als  könnte 
ich  Dir  aus  Erfahrung  sagen,  dass  man  gewöhnlich  in  Deinem 
Alter  sehr  leichtsinnig  das  Glück  verkennt,  wenn  man  es  aucli 
wirklich  auf  seinem  Wege  findet;  man  hofft  dann  immer,  dass 
Alles  sich  noch  besser  nach  unsern  Wünschen  eignen  soU  — 
das  Glück  ist  aber  unterdessen  schon  fern  und  unerreichbar !  — 
Ich  hoffe  in  Deinem  nächsten  Briefe  zu  lesen,  dass  Du  Lilla 
schon  gesprochen  hast,  und  je  öfter  Du  sie  sprichst,  je  mehr 
willst  Du  gesehen  haben,  dass  Du  selten,  vielleicht  nie  wieder 
eine  Frau  wie  diese  findest;  ich  billige  es  darum  nicht,  dass 
die  Lebensweise  in  Berlin,  die  Dir  missfällt,  einen  solchen  Ein- 
fluss  auf  den  wichtigsten  Entschluss  haben  soll.  Ich  habe  mich 
nicht  enthalten  können,  Dich  einer  jugendlichen  Uebereilung 
zu  beschuldigen,  wie  ich  die  Stelle  in  Deinem  Briefe  gelesen 
habe:  „-T^  pre'fererais  manger  du  pain  sec  ä  Paris l^''  —  Du  pain 
sec  ist  freilich  nicht  zu  verachten,  besonders  hier,  wo  es  so  weiss 
ist,  ich  fürchte  aber  immer,  es  könnte  auf  die  Länge,  wenn 
Du  so  für  Andre  bloss  arbeitest,  ohne  Mittel,  Dich  weiter  zu 
bringen,  bei  allen  Deinen  Talenten  immer  von  der  Laune  und 
dem  Eigensinn,  den  wir  kennen,  abhängend  — du pain  amer 
werden,  und  Gott  behüte  Dich,  dass  Du  es  je  bereuen  mögest, 
wenn  Du  jetzt  refusirst." 

Solche  Gründe,  lebhaft  unterstützt  durch  die  Stimme  des 
eignen  Herzens,  verfelüten  ilire  W^ii^kung  nicht.  Abraham  gab 
seine  Stellung  in  Paris  auf,  assocürte  sich  mit  seinem  Bruder 
Joseph,  heirathete  Lea  Salomon,  und  wir  finden  das  junge  Ehe- 
paar in  Hamburg,  von  wo  ein  Brief  der  jungen  Frau  aus  den 
ersten  Tagen  der  Ehe  'den  Zustand  sehr  lebendig  schildert: 
„Du  willst  wissen,  beste  Schwester,  wie  es  in  meiner  Wohnung 
und  mit  meinen  häuslichen  Einiichtungen  aussieht?  Rasend 
liederlich  a  dire  le  vrai,  wie  bei  dem  tollsten  Studenten;  denn 
an  kein  Kämmerlein,  an  keine  Wirthschaft  und  Berliner  Be- 
quemlichkeit ist  liier  zu  denken,  und  wenn  ich  mein  remue  manage 


86  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

betrachte,  habe  ich  Mühe  zu  glauben,  dass  ich  wirklich  ver- 
heirathet  bin,  welche  Standesänderung  einen  gewöhnlich  in 
Besitz  einer  Welt  von  Töpfen,  Schüsseln,  Lustres,  Spiegeln  und 
Mahagonis  zaubert,  deren  reizenden  Anblick  ich  in  meinem  chez 
moi  bis  jetzt  entbehren  muss.  Doch  lass  ich  mir,  wenn  Mama's 
und  Deine  Ordnungsliebe  es  verzeihen  kann,  kern  graues  Haar 
darum  wachsen,  und  beruhige  mich  mit  der  Aussicht,  dass  der 
geschäftigen  l^Iartha  das  melodische  Schlüsselklappern  mit  der 
Zeit  nicht  entgehen  soll.  Morgen  wird  der  erste  grosse  Ver- 
such angestellt  in  unseren  vier  Mäuerchen  zu  diniren  und 
zwar  vom  französischen  Eestaurateur.  Weder  Meubles  noch 
Wirthschaftssachen  kann  ich  bis  jetzt  anschaffen,  weil  mir 
nicht  der  geringste  Raum  bleibt;  auch  wird  das  Chaos  erst 
geordnet,  wenn  wir  das  Land  beziehen,  wozu  uns  schon  ein 
hübsches,  an  der  Elbe  dicht  bei  Neumühlen  gelegenes  und  mit 
eüiem  Balconü!  verziertes  Landhaus  vorgeschlagen  worden, 
das  wir  nächstens  sehn  wollen.  —  Den  Abend  meüier  Ankunft 
habe  ich  mir  noch  den  Spass  gemacht,  mein  Pariser  Kistchen 
nicht  allein  zu  öffnen,  sondern  die  beiden  Prachtgewänder  an- 
zuziehn.  Himmlisch !  Aber  nur  zur  Cour  bei  Kaiser  Napoleon 
zu  gebrauchen.  Das  herrlichste,  reichste,  glänzendste,  seiden- 
weichste, Chamois  pekinartige  Atlaskleid,  und  das  zarteste, 
mit  Weiss  vermischte  fagonnirte  Eosa,  göttlich  garnirt  und 
gemacht!  Mendelssohn  war  im  höchsten  Enthusiasmus;  ich  be- 
haupte aber,  solche  gehauchte  zauberische  Farben  passen  nur 
für  Miss  Hebe.  —  Zur  Beruhigung  unsrer  Damen  übrigens 
verkünde,  dass  die  „Medicis"  nichts  Andres  sei,  als  eine  ver- 
edelte „Stuart",  und  dass  sie  mit  dem  Kragen  der  schottischen 
Königin  grade  so  modern  als  mit  dem  der  französischen  ein- 
herstolziren  können."  — 

Bis  zum  Jahr  1811  lebten  Abraham  und  Lea  Mendelssohn 
in  Hamburg,  wo  ümen  drei  Kinder  geboren  wurden,  Fanny, 
die  älteste,  1805  am  14.  November;  (in  dem  Anzeigebrief 
des  Vaters  an  die  Schwiegermutter  Salomon  fügt  er  hinzu; 
^Lea  findet,  das  Kind  habe  Bach' sehe  Fugenfinger'';  eine  Prophe- 
zeiung, die  sich  allerdings  bewährt  hat;)  Felixam S.Februar  1809, 
und  Rebecka  am  1 1 .  April  1811.  Jenes  Landhaus  mit  dem  Balcon, 


Uebersiedelung  nach  Berlin.  87 

über  dessen  in  Aussicht  gestellten  Besitz  die  Neuvermählte  so 
erfreut  war,  wurde  erstanden;  hier  verlebte  das  junge  Paar 
die  ersten,  glücklichen  Jahre  eines  im  Ganzen  und  Grossen 
ausserordentlich  glücklichen  Lebens,  und  als  lange,  lange  Jahre 
später  —  1833  —  Abraham  auf  dem  Düsseldorfer  Musikfest 
seinen  Sohn  Felix  als  den  gefeierten,  auf  Händen  getragenen 
Künstler  mit  kräftiger  Hand  die  grossen  Tonmassen  lenken 
sah,  und  doch  in  ihm  nur  den  liebenden,  zum  Vater  ehrfurchts- 
voll emporblickenden  Sohn  fand,  da  schrieb  er  an  seine  Frau 
—  und  man  kann  sich  denken,  aus  welch  dankbarem  Herzen 
die  Worte  kamen:  „Liebe  Frau,  wir  erleben  einige  Freude  an 
diesem  jungen  Mann,  und  ich  denke  manchmal  Martens  Mühle 
soll  leben."  —  So  hiess  jenes  Hamburger  Landhaus,  imd  vor 
den  Augen  des  Vaters  standen  die  seligen  Jugendzeiten,  als 
ihm  sein  erster  Knabe  geboren  wurde,  der  ihm  jetzt  die  schönste 
Erfüllung  seiner  stolzesten  Hoffnungen  bereitete. 

Wie  die  Familie  während  der  französischen  Herrschaft 
Hamburg  flüchtend  verlassen  musste  und  nach  Berlin  über- 
siedelte, ist  schon  oben  erwähnt.  Die  äusseren  Verhältnisse 
waren  trübe.  In  Hamburg  hatten  sie  die  Zeit  der  Davoust'schen 
Bedrückungen  mitgemacht,  in  den  ersten  Jahren  des  berliner  Auf- 
enthaltes ging  es  dieser  Stadt  nicht  viel  besser.  Dann  kam  die  Er- 
hebung 1813.  Abraham,  unbeirrt  durch  seine  Vorliebe  für  Frank- 
reich, stand  ganz  und  voll  auf  Seite  derDeutschen  und  rüstete  selbst 
auf  eigene  Kosten  mehrere  Freiwillige  aus.  —  Sein  gemeinnütziger 
Sinn  wurde  in  Berlin  durch  seine  Wahl  zumStadtrath  anerkannt. — 

Im  Jahre  1813  am  30.  October  ward  Paul  als  letztes  Kind 
geboren. 

Schon  in  frühester  Jugend  zeigte  sich  bei  Fanny  und  Felix 
entschiedenes  musikalisches  Talent.  Zuerst  leitete  ihre  Mutter 
den  musikalischen  Unterricht,  dann  L.  Berger,  zuletzt  Zelter, 
der  auch  gerngesehener  Hausfreund  war  und  von  dessen  Origi- 
ginalität  und  urwüchsiger  Grobheit  die  ergötzlichsten  Traditio- 
nen m  der  Familie  sich  fortgepflanzt  haben.  So  wurde  ihm 
einstmals  eine  junge  sehr  schüchterne  Dame  behufs  Prüfung 
ihres  Gesanges  vorgestellt:  „Singen  Sie  nur  ganz  ruhig,"  er- 
munterte er  die  Zitternde,  „was  Einer  aushalten  kann,  kann 


68  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

ich  auch  aushalten."  So  ermuthigt  begann  sie,  wurde  aber 
sofort  von  Zelter  mit  den  Worten  unterbrochen:  „Eeissen  Sie 
das  Maul  nicht  so  auf."  —Natürlich  war  es  nun  mit  der  Fas- 
sung vorbei  und  die  arme  wirklich  „Schwergeprüfte"  brach  in 
Thränen  aus.  Das  that  Zelter  leid  und  er  tröstete  sie:  „Na 
weinen  Sie  doch  nicht,  liebes  Kind,  ich  habe  es  nicht  so  schlimm 
gemeint;  aber  wirklich,  wenn  man  so  aussieht  wie  Sie,  muss 
man  den  Mund  nicht  so  weit  aufmachen."  —  Bei  einem  Ge- 
spräch über  Genie  und  seine  Grenzen  verstieg  sich  Zelter  zur 
Dlustrirung  seiner  Behauptung,  dass  dem  Genie  nichts  un- 
möglich sei,  zu  dem  Kraftausspruch:  „Ach  was,  ein  Genie  fri- 
sirt  ein  Schwein  und  macht  ihm  Locken."  —  Bei  Tische  war 
sein  stehender  Ausspruch:  „Wenn  ich  Wasser  habe,  lasse  ich 
Bier  stehen  und  trinke  Wein."  — 

Die  Erziehungsweise   Abraham's  war  streng,  es  herrschte 
noch  etwas  jüdischer  Despotismus  darin.     „Treu  und  gehorsam 
bis  in  den  Tod,"  das  war  die  Forderung,  welche  Abraham  an 
seine  Fanny  bei  ihrer  Einsegnung  stellte.     „Bei  ihrer  Einseg- 
nung" —  hierüber  muss  ich  mich  näher  aussprechen.    Von  den 
Kindern  Moses',  traten  wie  oben  berichtet  wurde,  Dorothea  und 
Henriette  zum  Katholicismus  über;    die  Söhne  blieben  vorerst 
Juden;  jedoch  Abraham  sah  auch  ein,  dass  diess  eben  nur  eine 
Frage  der  Zeit  sein  könne,   und  entschloss  sich,  seine  Kinder 
Christen  und  zwar  Protestanten  werden  zu  lassen.     Er  muss 
wohl  mit  dem  Bruder   seiner  Frau,  der  Christ   geworden  war 
und   den  Namen  Bartholdy  angenommen  hatte,   darüber  Eath 
gepflogen   haben,    denn   dieser   schreibt   in   einem,  leider  nur 
fragmentarisch  vorhandenen  Brief:  „Du  sagst.  Du  seiest  es 
dem   Andenken  Deines  Vaters    schuldig  —   glaubst 
Du  denn  etwas  TJebles  gethan  zu  haben.  Deinen  Kindern  die- 
jenige Eeligion  zu  geben,  die  Du  für  sie  für  die  bessere  hältst? 
Es  ist  geradezu  eine  Huldigung,  die  Du  und  wir  Alle  den  Be- 
mühungen Deines  Vaters  um  die  wahre  Aufklärung  im  Allgemeinen 
zollen  und  er  hätte  wie  Du  für  Deine  Kinder,  vielleicht  wie  ich  für 
meine  Person  gehandelt.  Man  kann  einer  gedrückten,  verfolgten 
Eeligion  getreu  bleiben;  man  kann  sie  seinen  Kindern  als  eine  An- 
wartschaft auf  ein  sich  das  Leben  hindurch  verlängerndes  Märtyr- 


Ursprung:  des  Namens  Mendelssohn  Bartholdy.  89 

thum  aufzwingen  —  solange  man  sie  für  die  Alleinseligmacliende 
hält.  Aber  sowie  man  dies  nicht  mehr  glaubt,  ist  es  eine  Barbarei. 
—  Ich  würde  rathen,  dass  Du  den  Namen  Mendelssohn  Bartholdy 
zur  Unterscheidung  von  den  übrigen  Mendelssohn's  annimmst,  wel- 
ches mir  um  so  angenehmer  sein  wii'd,  da  es  die  Art  ist,  auch 
mein  Andenken  bei  ihnen  zu  erhalten  und  worüber  ich  mich 
herzlich  freue.  So  erreichst  Du  Deinen  Zweck,  ohne  etwas 
Ungewöhnliches  zu  thun  —  denn  in  Frankreich  und  überall 
ist's  Brauch,  den  Namen  der  Verwandten  der  Frau  dem  seini- 
gen als  Unterscheidung  beizufügen.'*  Abraham  folgte  diesem 
Eath  in  allen  Stücken. 

So  wurden  denn  die  Kinder  im  Christenthum  erzogen, 
allerdings  heimlich,  um  die  Gefühle  ilu-er  streng  jüdischen 
Grosseltern,  namentlich  der  alten  Salomon  zu  schonen.  Diese 
war  sehr  orthodox,  und  als  ihr  Sohn,  eben  jener  Bartholdy 
Christ  geworden  war,  hatte  sie  ihm  geflucht  und  ihn  Verstössen. 
Fanny  war  ein  grosser  Liebling  dieser  Grossmutter,  sie  musste 
oft  zu  ihr  gehen  und  ihr  vorspielen.  Einmal,  als  sie  ganz  be- 
sonders schön  gespielt  hatte,  sagte  ihr  die  alte  Frau,  sie  könne 
sich  zur  Belohnung  ausbitten,  was  sie  wolle.  Da  sagte  Fanny: 
„So  vergieb  dem  Onkel  Bartholdy"  —  und  die  Grossmutter, 
gerührt  über  diese  unerwartete  Bitte  des  halben  Kindes,  von  dem 
sie  vielleicht  den  Wunsch  eines  Hutes  oder  Putz  gegenständes 
erwartet  hatte,  versöhnte  sich  wii'klich  mit  dem  Sohn  „um  Fanny's 
willen",  -wie  sie  ihm  schrieb.  Daher  entspann  sich  eine  grosse 
Liebe  zwischen  Onkel  und  Nichte  und  ein  langer  Briefwechsel. 

Er  war  ein  merkwürdiger  Mann,  ein  feiner  Kunstkenner, 
vielseitig  gebildet.  Er  führte  in  seiner  Jugend  ein  bewegtes 
Leben;  wir  haben  aus  dem  Jugendbriefe  seiner  Schwester  ge- 
sehen, dass  er  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Mainz  lebte ; 
später  schloss  er  sich  an  Hardenberg  an.  Varnhagen  begegnete 
ihm  öfter  in  Wien,  in  Paris ;  schliesslich  lebte  er  als  preussischer 
Generalkonsul  in  Rom,  und  legte,  in  einer  Zeit,  wo  die  wenigsten 
Menschen  für  derartige  Dinge  Sinn  hatten,  mit  Aufwand  aller 
seiner  nicht  sehr  bedeutenden  Mittel  schöne  Kunstsammlungen 
an.     Wir  werden  ihm  noch  öfter  begegnen. 

Es  mögen  hier  einige  Briefe  Abraham  Mendelssohn's  aus 


90  A"braham  Mendelssohn  Bartholdy. 

verschiedenen  Zeiten   an   seine  Kinder   folgen,    ans  denen  er- 
sichtlich ist,  ein  wie  ausgezeichneter  Pädagoge  er  gewesen. 

Hamburg,  29.  Oktober  1817. 

„Eure  Briefe,  liehe  Kinder !  haben  mir  sehr  viel  Vergnügen 
gemacht;  ich  würde  Euch  auch  jedem  einen  besondern  Brief 
schreiben,  wenn  ich  nicht  sobald  wieder  zu  Euch  käme,  was 
Euch  denn  doch  wohl  lieber  ist,  als  ein  Brief. 

Du,  liebes  Beckchen,  hast  mir  recht  gut  geschrieben,  und 
ich  lobe  Dich,  dass  Du  Dich  des  Eichhörnchens  erbarmt,  und 
es  in  die  Stube  hast  bringen  lassen.  Wenn  das  Wetter  bei 
Euch  so  abscheulich  ist,  wie  hier,  so  hätte  es  ein  Eich-Ele- 
phantchen  auch  nicht  im  Freien  aushalten  können.  Was  hat 
denn  aber  Mutter  dazu  gesagt?  Führe  Dich  gut,  fleissig  und 
folgsam  auf,  ich  bringe  Dir  etwas  sehr  Schönes  mit,  das  Du 
Dir  aber  auch  verdienen  musst. 

Du,  liebe  Fanny,  hast  Dich  in  Deinem  ersten  Briefe  recht 
schöner  Schrift  befleissigt;  der  zweite  war  schon  eiliger.  Es 
macht  Dir  Ehre,  dass  Dich  B.'s  üble  Spässe  nicht  erfreuen;  ich 
finde  auch  keinen  sonderlichen  Geschmack  daran,  und  es  ist 
ein  sündhaftes  Bestreben,  Lachen  erregen  zu  wollen  auf  Kosten 
des  Guten  und  Schönen.  Leider  beschränkt  sich  hierauf  fast 
allein  die  Unterhaltung  und  das  Leben  in  der  Gesellschaft. 
Daher  ist  es  ein  übles,  unlöbliches  Leben,  und  eine  goldene 
Eegel,  lieber  zu  schweigen,   als  etwas  Unziemliches  zu  sagen. 

Mit  Dir,  lieber  Felix,  ist  die  Mutter  bis  jetzt,  wie  sie  mir 
geschrieben,  zufrieden,  und  das  freut  mich  sehr;  ich  hoffe,  ein 
wahrhaftes  und  erfreuliches  Tagebuch  vorzufinden.  Beherzige 
meinen  Wahlspruch:  „Sei  wahrhaft  und  gehorsam".  Besseres 
kannst  Du  nicht  sein,  und  wenn  Du  es  nicht  bist,  nichts 
Schlechteres.  Deine  Briefe  haben  mir  Vergnügen  gemacht; 
indessen  waren  in  dem  zweiten  melirere  Nachlässigkeiten,  die 
ich  Dir  zu  Hause  zeigen  werde.  Du  must  Dich  bemühen, 
besser  zu  sprechen,  dann  wirst  Du  auch  besser  schreiben. 

Deine  Briefe,  o  Du  dreimal  gerührter  Mohrenkönig,  sonst 
auch  Paul  Herrmann  genannt!  waren  die  besten;  auch  nicht 
ein  einziger  Fehler  war  darin,   und  sie  waren  so  schön  kurz. 


Briefe  an  seine  Kinder.  9X 

Ich  lobe  Dich  aber  im  Ernst,  wegen  Deiner  guten  Aufführung, 
von  der  mir  Mutter,  Beckchen  und  Fanny  schöne  Dinge  er- 
zählen. Wo  werde  ich  nun  aber  Ziegen  für  Dich  herbekommen? 
Ich  freue  mich  sehr  Euch  alle  bald  wieder  zu  sehn,  und 
grüsse  Euch  von  Herzen." 

Amsterdam,  5.  April  1819. 

^Von  Deinen  zwei  Briefen,  liebe  Fanny,  war  der  zweite 
mit  Deinen  tragikomischen  Klagen  über  Mangel  an  Stoff  besser, 
auch  sorgfältiger,  fehlerloser  geschrieben  als  der  erste,  in 
welchem  Du  mir  blos  vom  Theater  sprichst.  Du  bist  nun 
schon  weit  genug,  um  ausser  den  Begebenheiten  auch  in  Dei- 
nen Gedanken  Stoff  genug  zur  Unterhaltung  mit  mir  zu  finden, 
und  es  würde  mir  angenehm  sein,  wenn  Da  diejenigen,  welche 
Deine  Beschäftigungen  in  Dir  erzeugen  müssen,  von  Zeit  zu 
Zeit  mittheiltest.  Namentlich  hat  mir,  solange  ich  zu  Hause 
war,  Mutter  manches  von  Deinen  Stunden  beim  Herrn  Predi- 
ger gesagt.  Thue  Du  das  jetzt,  damit  ich  lese,  da  ich  nicht 
mehr  sehen  kann,  welche  Wirkung  das,  was  Du  lernst,  auf 
Dein  Gemüth  und  Deinen  Verstand  hat.  Lass  es  vor  allem 
die  Wirkung  haben,  dass  Du  stets  eifriger  bemüht  seiest,  der 
nie  genug  zu  liebenden  und  zu  ehrenden  Mutter  zu  Gefallen 
zu  leben,  durch  Gehorsam  zur  Liebe,  durch  Ordnung  zur  Frei- 
heit und  Heiterkeit  zu  gelangen.  Es  ist  das  die  würdigste  Art, 
dem  Schöpfer  zu  danken  und  ihn  zu  ehren.  Unser  aller 
Schöpfer.  Es  giebt  —  die  Religion  sei  welche  sie  wolle  — 
nur  einen  Gott,  nur  eine  Tugend,  nur  eine  Wahrheit,  nur 
ein  Glück.  Du  findest  alle,  wenn  Du  der  Stimme  Deines  Her- 
zens folgst;  lebe  so,  dass  sie  immer  im  Einklänge  mit  der 
Stimme  Deiner  Vernunft  bleibe. 

Wie  es  mir  ergeht,    seht   Ihr   aus  meinen  Briefen  an  die 
Mutter,  ich  gedenke  Eurer  täglich  und  stündlich  in  Liebe." 

Dein  treuer  Vater 

A.  M.  B. 

Paris,  2.  Juli  1819. 
„Ich  kann  mir  das  Vergnügen  m'cht  versagen,  Dir,  Hebe 
Fanny,  in  einem  eigenen  Briefchen  das  herzliche  Wohlgefallen 


92  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

zu  hezeugen,  welches  mir  Deine  letzten  Briefe  gewährt  haben ; 
sie  sind  durchgängig  angenehm,  ordentlich  und  leicht  geschrieben, 
und  Du  hast  endlich  das  Geheinmiss  gefunden,  mir,  recht  wohl 
gedacht  und  gefühlt,  über  Dich  und  die  Unsrigen  zu  schreiben 
—  und  nichts  über's  Theater.  Je  sparsamer  ich  mit  meinem 
Lobe  bin,  desto  gewissenhafter  ertheile  ich  es,  wenn  ich  Ver- 
anlassung dazu  finde,  und  Deine  Briefe  gefallen  mir  zuerst 
deswegen,  weil  sie  sind,  was  sie  sein  können  und  sollen,  natür- 
lich und  liebevoll  für  Deine  Umgebungen.  Gewiss  habe  ich 
Dich  auch  recht  lieb!  Noch  recht  lieb,  schreibst  Du  —  ich 
denke,  es  soll  erst  recht  anfangen. 

Lass  Dich  Deine  Dicke  nicht  anfechten ;  es  ist  eine  Aehn- 
lichkeit  mehr,  die  Du  mit  Mutter  hast  (und  Du  kannst  ihrer 
gar  nicht  genug  haben,  denn  besser  als  sie  wii'd  man  nun 
einmal  nicht),  die  ebenfalls  als  junges  Mädchen  sehr  stark  ge- 
wesen ist,  und  es  hoffentlich  wieder  wird.  Die  Aehnlichkeit 
mit  mir  wül  ich  Dir  just  nicht  anpreisen,  denn  als  Frau  bin 
ich  höchstens  in  den  Tableaux  vivants  reizend  und  an  meiner 
SteUe. 

Paul's  Gesclüchte  seiner  „Leiden  und  Freuden"  hat  uns 
hier  höchlich  divertirt;  leider  habe  ich  bei  Fanny  Sebastiani 
keine  Spur  von  Eifersucht  bemerkt ;  sie  liebt  ihn  sehr  uneigen- 
nützig. 

Gieb  Beckchen,  und  den  Jungen,  wenn  sie  still  halten  wollen, 
einen  Kuss  für  mich.  Ich  wende  mich  noch  an  jeden  von  ihnen 
mit  einigen  "Worten. 

Dein  Vater  und  Freund 
A.  M.  B. 

P.  S.  Du  schreibst:  „M.  versichert  mich,  wenn  Du  hier 
gewesen  wärest,  sei  sie  nach  B.  mitgegangen"  —  das  ist  fehler- 
haft,  es  muss  heissen  „würde  sie  nach  B.  mitgegangen  sein." 

Zuerst  an  Dich,  lieber  Paul!  Mit  Deinen  beiden  letzten 
Briefen  bin  ich  sehr  wohl  zufrieden  gewesen,  und  danke  Dir 
dafür.  Nur  drückst  Du  zu  sehr  auf  —  die  ?  oder  der  ?  Feder. 
Frage  Mutter,  wie  es  heisst!  Lass  Dir  einige  Federn  von 
Herrn  Gross  schneiden,  dann  wird  sie  Dir  Onkel  Joseph  ebenso 
schneiden ;  halte  die  Finger  lose,  und  Dich  grade.  —  Ich  habe 


Briefe  an  seine  Kinder.  9E 

Dir  auf  Deine  Anfragen  wegen  Deiner  Verheirathnng  mit 
Mieke  niclit  gleich  geantwortet,  weil  ich  mir  die  Sache  erst 
überlegen  wollte.  Nun  denke  ich,  wir  lassen  es  anstehn,  bis 
ich  nach  Hause  komme,  damit  ich  Mieke  erst  sehe.  Wenn  sie 
dann  ordentüch  gewaschen  ist,  und  Du  Dich  14  Tage  lang 
artig  aufführst,  so  lässt  sich  von  der  Sache  reden.*) 

Du  lieber  Felix  musst  recht  vernünftig  und  deutlich 
schreiben,  was  Du  für  Notenpapier  haben  willst,  ob  linürtes 
oder  unlinürtes?  Im  ersten  Falle  musst  Du  genau  angeben, 
wie  es  linürt  sein  soll;  denn  da  ich  in  einem  Laden  war,  um 
welches  zu  kaufen,  fand  sich,  dass  ich  garnicht  wusste,  was 
ich  eigentlich  kaufen  sollte,  üeberlies  Deinen  Brief,  ehe  Du 
ihn  abschickst,  und  frage  Dich  selbst,  ob  Du  ihn,  wenn  Du 
ihn  erhieltest,  verstehen  würdest,  und  eine  Commission  danach 
besorgen  könntest. 

Du  Beckchen!  hast  mir  lange  nicht  geschrieben,  und  kannst 
Dir  einen  Brief  von  mir  malen.  Wenn  ich  Dir  einen  Kuss 
und  einen  Nasenstüber  —  schreibe,  so  magst  Du  zufrieden  sein. 
Dein  letzter  Brief  war  übrigens  geschmiert;  vermuthlich  sind 
die  Meiereifedern  daran  schuld. 

Ich  erinnere  Mutter  an  den  Exerciermeister  für  Euch  alle. 
Er  findet  sich  gewiss  aufs  Beste  unter  den  Neufchatellern. 
Felix  soll  fleissig  aber  nur  in  der  Schule  sch\\ammen. 
Das  Verbot  des  Turnens  wird  sich  auf  unsern  unschuldigen 
Platz  wohl  nicht  erstrecken." 

Euer  Vater  und  Freund 
A.  M.  B. 

Im  Jahre  1820  wurde  dann  Fanny  emgesegnet.  Der  Ein- 
segnungsbrief ihres  Vaters  lautet  folgendermassen : 

Paris. 
„Du  hast,   meine   liebe   Tochter,    einen  wichtigen  Schritt 
in's  Leben  gethan,    und   indem   ich   Dir  dazu  und  zu  Deinem 
ferneren   Lebenslauf  mit   väterlichem  Herzen  Glück  wünsche. 


*)  Mieke  war  die  4jährige  Tochter  des  Gärtners.    Paul  war 
damals  6  Jahr  alt.  Aum.  d.  H. 


94  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

fühle  ich  mich  gedrungen,  über  Manches,  was  bis  jetzt  zwi- 
schen uns  nicht  zur  Sprache  gekommen,  ernsthaft  zu  reden: 

Ob  Gott  ist?  Was  Gott  sei?  Ob  ein  Theil  unserer  Selbst 
ewig  sei  und,  nachdem  der  andere  Theil  vergangen,  fortlebe? 
und  wo?  und  wie?  —  Alles  das  weiss  ich  nicht  und  habe  Dich 
deswegen  nie  etwas  darüber  gelehrt.  Allein  ich  weiss,  dass 
es  in  mir  und  in  Dir  und  in  allen  Menschen  einen  ewigen 
Hang  zu  allem  Guten,  Wahren  und  Rechten  und  ein  Gewis- 
sen giebt,  welches  uns  mahnt  und  leitet,  wenn  wir  uns  davon 
entfernen.  Ich  weiss  es,  glaube  daran,  lebe  in  diesem  Glau- 
ben und  er  ist  meine  Religion.  Die  konnte  ich  Dich  nicht 
lehren  und  es  kann  sie  Niemand  erlernen,  es  hat  sie  ein  Je- 
der, der  sie  nicht  absichtlich  und  wissentlich  verläugnet;  und 
dass  Du  das  nicht  würdest,  dafür  bürgte  mir  das  Beispiel  Deiner 
Mutter,  dieser  edelsten,  würdigsten  Mutter,  deren  ganzes  Leben 
Pflichterfüllung,  Liebe,  Wohlthun  ist,  dieser  Religion  in  Menschen- 
gestalt. Du  wuchsest  heran  unter  ihrem  Schutz,  in  stetem  An- 
schauen und  unbewusster  Nachahmung  und  Gewohnheit  dessen,  was 
dem  Menschen  einen  Werth  giebt.  Deine  Mutter  war  und  ist,  und 
mein  Herz  sagt  mir,  sie  wird  noch  lange  bleiben  Deine  und 
Deiner  Geschwister  und  unser  Aller  Vorsehung  und  Leitstern 
auf  unserem  Lebenspfade.  Wenn  Du  sie  betrachtest,  wenn  Du 
das  unermessliche  Gute,  das  sie  Dir,  solange  Du  lebst  mit  ste- 
ter Aufopferung  und  Hingebung  erwiesen,  erwägst  und  dann 
in  Dankbarkeit,  Liebe  und  Ehrfurcht  Dir  das  Herz  auf-  und 
die  Augen  übergehen,  so  fühlst  du  Gott  und  bist  fromm. 

Dies  ist  Alles ,  was  ich  Dir  über  Religion  sagen  kann, 
alles,  was  ich  davon  weiss;  aber  das  wird  wahr  bleiben,  so- 
lange ein  Mensch  in  der  Schöpfung  existirt,  wie  es  wahr  gewe- 
sen, seitdem  der  erste  erschaffen  worden. 

Die  Form,  unter  der  es  Dir  Dein  Religionslehrer  gesagt, 
ist  geschichtlich  und  wie  alle  Menschensatzungen  veränderlich. 
Vor  einigen  tausend  Jahren  war  die  jüdische  Form  die  herr- 
schende, dann  die  heidnische,  jetzt  ist  es  die  christliche.  Wir, 
Deine  Mutter  und  ich,  sind  von  unseren  Eltern  im  Judenthum 
geboren  und  erzogen  worden  und  haben,  ohne  diese  Form 
verändern  zu  müssen,  dem  Gott  in  uns  und  unserem  Gewissea 


Einsegnungsbrief  an  Fanny.  95 

zu  folgen  gewusst.  Wir  haben  Euch,  Dich  und  Deine  Ge- 
schwister, im  Christenthum  erzogen,  weil  es  die  Glaubensform 
der  meisten  gesitteten  Menschen  ist  und  nichts  enthält,  was 
Euch  vom  Guten  ableitet,  vielmehr  Manches,  was  Euch  zur 
Liebe,  zum  Gehorsam,  zur  Duldung  und  zur  Resignation  hin- 
weist, sei  es  auch  nur  das  Beispiel  des  Urhebers,  von  so 
Wenigen  erkannt,  und  noch  Wenigeren  befolgt.  — 

Du  hast  durch  Ablegung  Deines  Glaubensbekenntnisses 
erfüllt,  was  die  Gesellschaft  von  Dir  fordert,  und  heissest 
eine  Christin.  Jetzt  aber  sei,  was  Deine  Menschenpflicht  von 
Dir  fordert,  sei  wahr,  treu,  gut.  Deiner  Mutter,  und  ich  darf 
wohl  auch  fordern.  Deinem  Vater  bis  in  den  Tod  gehorsam 
und  ergeben,  unausgesetzt  aufmerksam  auf  die  Stimme  Deines 
Gewissens,  das  sich  betäuben  aber  nicht  berücken  lässt,  und 
so  wirst  Du  Dir  das  höchste  Glück  erwerben,  das  Dir  auf  Erden 
zu  Theil  werden  kann,  Einigkeit  und  Zufriedenheit  mit  Dir  selbst. 

Hiermit  drücke  ich  Dich  mit  väterlicher  Innigkeit  an  mein 
Herz  und  hoffe  stets  in  Dir  die  würdige  Tochter  Deiner,  unsrer 
Mutter  zu  finden.     Leb  wohl  und  meiner  Worte  eingedenk." 

Derselbe  Ernst,  dieselbe  strenge  Auffassung  der  Pflichten 
der  Kinder  gegen  die  Eltern  —  aber  auch  der  Eltern  gegen 
die  Kinder,  ging  durch  die  ganze  Erziehung.  Dieser  Vater 
glaubte  nicht  genug  gethan  zu  haben,  wenn  er  den  Kindern 
die  besten  Lehrer  gab,  er  erzog  selbst  und  hielt  keins  seiner 
Kinder  bei  seinen  Lebzeiten  seiner  Zucht  —  sogar  seiner  Züch- 
tigung entwachsen,  wenn  es  auch  erwachsen  war. 

Aus  derselben  Zeit,  wie  der  soeben  mitgetheilte  Ein- 
segnungsbrief, ist  folgender: 

Paris,  16.  JuU  20. 

Sonntags.  Unvergleichlich  schönes  Wetter. 
„Du  hast  mir,  liebe  Fanny,  während  meiner  diesmaligen 
Entfernung  viel  lange  und  gute  Briefe  geschrieben,  mit  denen 
ich  sehr  zufrieden  und  Dir  dafür  dankbar  bin.  Ich  bin  da- 
gegen in  Deine  Schuld  gerathen,  und  das  hat  den  Nachtheil 
nicht  allein,  dass  ich  mich  selbst  deswegen  anklagen  muss, 
sondern  dass  es  nun  zu  spät  geworden,  Dir  auf  Vieles  in  Dei- 


96  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

nen  Briefen  zu  antworten  und  ich  mich  an  die  letzten  hal- 
ten  muss. 

Ich  hoffe  zuversichtlich,  dass  Mutter  sich  zur  Reise  entschlos- 
sen haben  wird  und  dass  ich  Tante  Jette  morgen  dazu  werde 
bereden  können.  Beide  können  indessen  ihre  sehr  guten  Gründe 
haben,  nicht  reisen  zu  wollen,  die  wir  dann  ehren  und  auf  ein 
gehofftes  Vergnügen  Verzicht  leisten  müssen.  Wenn  Dir  das 
schwerer  wird  als  mir,  weil  Du  jünger  und  neugieriger  bist 
als  ich,  so  hast  Du  dagegen  noch  soviel  mehr  Zeit  vor  Dir, 
Schönes  zu  erleben  und  zu  sehen,  während  ich  die  wenigen 
Jahre,  die  mir  dazu  noch  bleiben,  schnell  zurückgelegt  haben 
werde.  Wie  schnell  dieses  zugeht,  wenn  einmal  die  Lebens- 
ki'aft  einen  Stoss  erlitten,  davon  sehe  ich  jetzt  zu  meinem 
grossen  Schmerz  ein  Beispiel  täglich  an  der  vortrefflichen  Bi- 
got,  deren  Zustand  sehr  beklagenswerth  ist.  Ihr  werdet  sie 
wohl  nicht  mehr  sehn  uud  würdet  sie  schwerlich  wiedererken- 
nen. Bei  ihr  fällt  mir  stets  die  grobe,  aber  ausdrucksvolle 
Aeusserung  Heine's  über  die  unvergessliche  S.  ein:  „Schade  um 
die  schöne  Seele  in  dem  hundsföttschen  Körper."  — 

Du  forderst  mich  auf,  wegen  Deiner  Gesellschaft  mit  M. 
und  A.  ruhig  zu  sein;  ich  wüsste  nicht,  warum  ich  unruhig 
sein  sollte,  denn  dass  Du  Dich  nicht  lästig  bezeugen  würdest, 
das  habe  ich  von  Deinem  Verstand  und  Deiner  Bescheidenheit 
erwartet.  Ich  meines  Theils  habe  stets  eine  gewisse  Scheu 
gehabt,  zu  zweien,  sich  in  irgend  einem  Verhältniss  nahe  ste- 
henden Personen,  den  Dritten  abzugeben;  dieser  ist  immer  der 
Sündenbock;  der  Vierte,  Fünfte  etc.  verderben  dann  schon 
nichts  mehr  und  begründen  vielmehr  eine  allgemeine  Unterhal- 
tung, während  der  Dritte  nur  die  engere  und  vertrautere  auf- 
hebt. Wer  sich  hütet,  der  Dritte  zu  sein,  ist  fast  gewiss, 
stets  gern,  wenigstens  nie  ungern  gesehen  zu  werden,  und  so 
bildet  sich  Dein  Lebensplan  mit  M.  und  A.  von  selbst. 

Deine  letzten  Lieder  sind  in  Viry,  von  wo  ich  sie  morgen 
zurückbringe  und  dann  Jemand  suchen  werde,  der  sie  mir  leid- 
lich vorsingt.     Felix'  letzte  Fuge*)  hat  mir  Herr  Leo  sehr 


*)  Felix  war  damals  11  Jahr  alt. 


Briefe  an  seine  Kinder.  97 

unvollkommen  vorgespielt,  er  findet  sie  sehr  gut  und  in  achtem 
Styl,  aber  schwer.  Mir  hat  sie  wohl  gefallen;  es  ist  viel  und 
ich  hätte  ihm  kaum  zugetraut,  dass  er  sich  sobald  darin  finden 
würde,  ernsthaft  zu  arbeiten,  denn  zu  einer  solchen  Fuge  ge- 
hört denn  doch  gewiss  Ueberlegung  und  Beharrlichkeit.  Was 
Du  mir  über  Dein  musikalisches  Treiben  im  Verhältniss  zu 
Felix  in  einem  Deiner  früheren  Briefe  geschrieben,  war  eben 
so  wohl  gedacht  als  ausgedrückt.  Die  Musik  wird  für  ihn 
vielleicht  Beruf,  wälirend  sie  für  Dich  stets  nur  Zierde,  niemals 
Grundbass  Deines  Seins  und  Thuns  werden  kann  und  soll;  ihm 
ist  daher  Ehrgeiz,  Begierde,  sich  geltend  zu  machen  in  einer 
Angelegenheit,  die  ihm  selir  wichtig  vorkommt,  weil  er  sich 
dazu  berufen  fühlt,  eher  nachzusehn,  während  es  Dich  nicht 
weniger  ehrt,  dass  Du  von  jeher  Dich  in  diesen  Fällen  gut- 
müthig  und  vernünftig  bezeugt  und  durch  Deine  Freude  an 
dem  Beifall,  den  er  sich  erworben,  bewiesen  hast,  dass  Du  ihn 
Dir  an  seiner  Stelle  auch  würdest  verdienen  können.  Beharre 
in  dieser  Gesinnung  und  diesem  Betragen,  sie  sind  weiblich, 
und  nur  das  Weibliche  ziert  die  Frauen. 

Ich  danke  Beckchen  für  ihren  Brief  und  „Faul"  für  seine 
Nachschrift,  die  leidlich  geschrieben  ist,  jedoch  gerathen  h  und 
k  immer  noch  sehr  schlecht,  letztere  besonders  haben  einen 
Bauch,  der  mich  über  meinen  tröstet. 

Dienstag.  Sie  haben  gestern  in  Viry  Deine  Eomanzen 
durchgenommen,  es  wird  Dich  freuen,  zu  wissen,  dass  Fanny 
Sebastiani  mir  die  „Les  soins  de  mon  troupeau'-^  recht  niedlich 
und  rein  vorgesungen  hat  und  vielen  Geschmack  daran  findet. 
Ich  gestehe  Dir,  dass  dieses  Lied  mir  das  liebste  ist,  soweit 
ich  nämlich  die  anderen,  die  sehr  unvollkommen  vorgetragen 
wurden,  beurtheilen  kann.  Es  ist  heiter,  fliessend,  natürlich, 
Eigenschaften,  die  den  meisten  andern  abgehn,  die  zum  Theil 
zu  weit  sind  für  die  Worte.  Jenes  Lied  gefäUt  mir  so  wohl, 
dass  ich  mir  es  seit  gestern  sehr  oft  vorgesungen,  während 
ich  von  den  andern  nichts  behalten  habe,  und  Fasslichkeit 
scheint  mir  eines  der  wichtigsten  Erfordernisse  eines  Liedes; 
dabei  ist  es  nichts  weniger  als  trivial,  und  die  Wendimg  „si 
fai  trouve  pour  eux  une  fontaine  claire^^    sehr   glücklich  sogar, 

Die  Familie  Mendelssohn.  I.  7 


98  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

nur  scheint  sie  mir  den  Satz,  der  sich  in  den  Versen  an  „s'e?« 
sont  heureux'-''  unmittelbar  anschliesst,  zu  bestimmt  zu  enden. 
Ich  rathe  Dir  sehr,  Dich  möglichst  an  diese  Natürlichkeit  und 
Leichtigkeit  in  Deinen  ferneren  Kompositionen  zu  halten. 

Die  Mutter  schrieb  mir  neulich,  dass  Du  Dich  über  Mangel 
an  Stücken  zur  Uebung  der  vierten  und  fünften  Finger  be- 
klagt und  dass  Felix  Dir  sogleich  darauf  eins  verfertigt  habe. 
Die  Bigot  meint,  es  läge  keineswegs  an  Mangel  an  üebungs- 
stücken,  sondern  an  Mangel  an  ernster  Uebung,  wenn  bei 
Dir,  me  bei  allen  Menschen,  diese  Finger  den  andern  nicht 
nachwollten.  Du  müsstest  jeden  Tag  einen  Theil  Deiner  Uebungs- 
zeit  darauf  verwenden,  ohne  Rücksicht  auf  die  Musik,  Ausdruck 
oder  sonst  etwas,  ganz  mechanisch  bloss  die  Finger  zu  beob- 
achten und  fest  aufzusetzen;  es  gäbe  im  Ki'amer  genug  Stücke, 
die  auf  diese  beiden  Finger  berechnet  wären,  und  es  käme 
darauf  an,  diese  langsam  und  mit  steter  Beobachtung  des 
festen  Aufsetzens  der  beiden  Schwächlinge  anhaltend  duixh- 
zuspielen.  Auf  diese  Weise  und  durch  unermüdete  Geduld  habe 
sie  es  erlangt,  und  sei  es  möglich  zu  erlangen,  dass  alle  Finger 
gleich  stark  werden.    Ich  theile  Dir  dieses  zur  Beherzigung  mit. 

Da  ich  nicht  recht  glaube,  dass  Mutter  nach  Coblenz 
kommen  wird,  so  ist  die  Zeit  unsres  Wiedersehns  etwas  hinaus- 
geschoben, und  manchmal  freilich  ist  aufgeschoben  aufgehoben; 
doch  hoffentlich  in  diesem  Falle  nicht  und  wir  treffen  Alle 
wieder  gesund  und  wohlbehalten  zusanmien. 

Dein  Vater. 
Tante   Jette   lässt   Dich   gelegent- 
lich um  einige  Deiner  deutschen  Lieder 
bitten." 

Zum  23.  Geburtstage  schrieb  Abraham  an  Fanny  folgender- 
massen: 

„Wir  werden  beide  mit  jedem  Jahr  365  Tage  älter;  'wer 
weiss,  wie  lange  ich  Dir  noch  zu  Deinem  Geburtstage  gratuliren 
und  ein  ernstes  Wort  sagen  kann;  wer  weiss,  wie  lange  Du 
letzteres  noch  hören  kannst,  oder  willst. 

So  will  ich  Dir  heute  sagen,  liebe  Fanny,  dass  ich  in  allen 
wesentlichsten  Punkten,  im  Wichtigsten,  mit  Dir  so  zuüiedei 


Briefe  an  seine  Kinder.  99 

bin,  dass  mir  nichts  zu  wünschen  übrig  bliebe.  Du  bist  gut 
in  Sinn  und  Gemüth.  Das  Wort  ist  verdammt  klein,  aber  es 
hat  es  hinter  den  Ohren,  und  ich  sage  es  nicht  von  einem  Jeden. 

Aber  Du  kannst  noch  besser  werden!  Du  musst  Dich 
mehr  zusammennehmen,  mehr  sammeln ;  Du  musst  Dich  ernster 
und  emsiger  zu  Deinem  eigentlichen  Beruf,  zum  einzigen 
Beruf  eines  Mädchens,  zur  Hausfrau,  bilden.  Die  wahre  Spar- 
samkeit ist  die  wahre  Liberalität,  wer  Geld  wegwirft  muss  ein 
Geizhals  oder  ein  Betrüger  werden.  Der  Frauen  Beruf  ist  der 
schwerste;  die  unausgesetzte  Beschäftigimg  mit  dem  Kleinsten, 
das  Auffangen  eines  jeden  Regentropfens,  damit  er  nicht  in  dem 
Sande  verdunste,  sondern  zum  Bache  geleitet,  Wohlstand  und 
Segen  verbreite,  die  stete  unausgesetzte  Beobachtung  des  Ein- 
zelnen, die  Wohlthat  jedes  Augenblicks  und  die  Benutzung 
jedes  Augenblicks  zur  Wohlthat,  das,  und  Alles,  was  Du  Dir 
dazu  denken  wirst,  sind  die  Pflichten,  die  schweren  Pflichten 
der  Frauen. 

Es  fehlt  Dir  wahrlich  nicht  am  Gemüth,  noch  weniger  am 
Verstände,  um  sie  treu  zu  erfüllen;  aber  am  ernsten  Willen, 
an  der  Sammlung,  an  der  rechten  Wahl  und  Würdigung  Deiner 
Beschäftigungen  wirst  Du  noch  Stoff  genug  finden.  Deine  Kraft 
zu  üben.  Thue  es,  so  lange  Du  freiwillig  kannst!  ehe  Du 
es  zu  thun  gezwungen  bist.  Uebe  Dich,  so  lange  es  Dir  noch 
vergönnt  ist,  mit  Deinen  Eltern  zu  leben.  Vieles  besser  zu 
machen,  als  diese.  Gieb  dem  Gebäude  einen  festen  Grund,  der 
Zierden  wird  es  nicht  ermangeln. 

Doch  ich  will  ja  nicht  predigen  und  bin  noch  nicht  alt 

genug,    schwatzhaft   zu  werden.      Nimm   noch   einmal   meine 

väterlichen  Wünsche  für  Dein  Wohl  und  meinen  wohlgemeinten 

Rath  zu  Herzen." 

Dein  Vater. 

Das  war  überhaupt  Fundamentalgrundsatz  dieser  Erziehung, 
dass  jede  erreichte  Stufe  nur  eben  eine  Stufe  sei,  dass,  was  gut 
ist,  noch  besser  werden  könne,  dass  mit  einem  Wort  die  Er- 
ziehung nie  zu  Ende  sei,  und  dass  Vater  und  Mutter,  so  lange 
sie  leben,  nie  aufhören  dürfen,  Berather  und  Leiter  ihrer  Kinder 
zu  sein.    Es  ist  dies  eine  specifisch  jüdische  Anschauungsweise 

7* 


l 

100  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy, 

und  sie  wird  zum  Unheil,  wenn  erwachsene  Söhne  oder  Töchter 
gegen  besseres  Wissen  sich  dem  kindisch  gewordenen  Willen 
eines  Greises  beugen  müssen  und  mit  Gewalt  unmündig  gehalten 
werden,  bis  der  Tod  die  unnatürlichen  Fesseln  bricht.  Wenn 
aber,  wie  es  hier  der  Fall  war,  der  Vater  mit  der  Zeit  zum 
väterlichen  Freund  wird,  der  sich  die  schöne  Stelle  des  Leiters 
durch  die  Vortrefilichkeit  seines  Raths  erhält,  dann  ist  es  das 
würdigste  und  wohlthätigste  Verhältniss,  das  man  sich  denken 
kann.  Am  schönsten  gestaltete  sich  dies  zwischen  Abraham 
nnd  seinem  Sohne  Felix.  Man  kann  dreist  behaupten,  dass 
ohne  diesen  Vater  Felix  Mendelssohn  nie  das  geworden  wäre, 
was  er  war.  Die  Laufbahn  eines  Musikers  war  damals  eine 
noch  nicht  so  oft  betretene  als  jetzt,  und  der  Weg,  namentlich 
in  Deutschland,  ein  dorniger,  der  Abwege  viele.  Ja,  es  gab 
kluge  und  bedeutende  Menschen,  die  den  „Musicus  von  Profession" 
garnicht  als  Lebensberuf  anerkennen  wollten.  So  schrieb  sein 
Schwager  Bartholdy  an  Abraham: 

„Ich  bin  nicht  ganz  einverstanden,  dass  Du  Felix  keine 
positive  Bestimmung  giebst.  Dies  würde  und  könnte  seiner 
Anlage  zur  Musik,  über  die  nur  eine  Stimme  ist,  keinen  Ein- 
trag thun.  —  Ein  Musikus  von  Profession  will  mir  nicht  in 
den  Kopf.  —  Das  ist  keine  Carriere,  kein  Leben,  kein  Ziel; 
man  ist  zu  Anfang  so  weit  als  am  Ende  und  weiss  es;  ja, 
in  der  Regel  besser  daran.  —  Lasse  den  Buben  ordentlich 
Studiren,  dann  auf  der  Universität  die  Rechte  absolviren  und 
dann  in  eine  Staats-Carriere  treten.  Die  Kunst  bleibt  ihm  als 
Freundin  und  Gespielin  zur  Seite.  So  wie  ich  den  Gang  der 
Dinge  erkenne,  bedürfen  wir  der  Leute,  die  ein  Studium  ge- 
macht haben,  bald  mehr  als  je.  Soll  er  aber  ein  Kaufmann 
werden,  so  gieb  ihn  früh  in  ein  Comptoir."  — 

Abraham  liess  sich  durch  diesen  Rath  glücklicher  Weise 
nicht  bestechen.  Felix  lernte  und  studirte  ordentlich,  hörte 
auch  juristische  Collegia,  dann  aber  liess  ihn  der  Vater  die 
Musik  als  wirkliche  „Carriere"  ergreifen,  und  der  Erfolg  hat 
bewiesen,  dass  es  keine  schlechte  war.  Nun  aber  war  auch 
des  Vaters  ganzes  Streben  darauf  gerichtet,  dieser  Carriere 
eiQ  festes,  ernstes  Ziel  zu  geben;   immer  wies  er  seinen  Sohn 


Abraham  und  Felix.  101 

auf  die  alten  Meister,  namentlicli  auf  Bacli  hin;  er  drängte 
ihn  zur  Composition  des  Paulus,  bestand  auf  einer  festen  An- 
stellung. Die  Musik  sollte  ihm  eben  Ernst  sein,  und  nicht 
bloss  eine  Gespielin.  In  Bezug  auf  die  von  ihm  übernommene 
und  bald  wieder  abgegebene  Direktion  des  Düsseldorfer  Stadt- 
theaters schrieb  er.*) 

„Was  die  administrative  Carriere  betrifft,  so  veranlasst 
mich  diese  zu  einer  Reihe  von  Betrachtungen,  die  ich  Dir  ans 
Herz  legen  will:  Jeder,  der  Gelegenheit  und  Lust  hat.  Dich 
näher  und  innerlicher  kennen  zu  lernen,  sowie  alle,  denen  Du 
Lust  und  Gelegenheit  hast,  Dich  deutlicher  zu  machen,  werden 
Dich  liebgewinnen  und  achten.  Das  allein  reicht  aber  wirklich 
nicht  aus,  um  thätig  und  wirksam  ins  Leben  einzugreifen;  es 
wird  vielmehr  bei  vorrückendem  Alter,  wenn  Andern  und  Dir 
jene  Lust  und  Gelegenheit  ausgehen,  zu  Isolirung  und  Miss- 
muth  führen:  Selbst  das,  was  wir  für  Fehler  halten,  will,  wenn 
es  sich  einmal  durchgehends  in  der  Welt  festgesetzt  hat, 
respectirt,  oder  doch  wenigstens  geschont  sein,  und  das  In- 
dividuum verschwindet  in  der  Welt.  Das  Ideal  der  Tugend 
hat  der  am  wenigsten  erreicht,  der  es  am  unerbittlichsten 
von  Andern  fordert.  Das  strengste  Moralprincip  ist  eine 
Citadelle  mit  Aussenwerken,  an  deren  Vertheidigung  man  nicht 
gern  seine  Kräfte  verschwendet,  um  desto  sicherer  in  dem  Kern- 
werke sich  halten  zu  können,  welches  man  freilich  nur  mit 
dem  Leben  aufgeben  soll.  Nun  hast  Du  Dich  unläugbar  bis 
jetzt  noch  nicht  von  einer  gewissen  Schroffheit  und  Heftigkeit, 
von  einem  raschen  Ergreifen  und  ebenso  raschen  Loslassen 
trennen  können  und  Dir  dadurch  selbst  in  praktischer  Hinsicht 
vielfache  Hindernisse  geschaffen.  So  muss  ich  Dir  zum  Bei- 
spiel bekennen,  dass  ich  Dein  Ausscheiden  von  der  aktiven 
Theilnahme  an  der  Detailverwaltung  des  Düsseldorfer  Theaters 
an  und  für  sich  gebilligt  habe,  die  Art  und  Weise  desselben 
aber  um  so  weniger,  als  Du  sie  freiwillig,  und,  wenn  ich  es 
sagen  soll,  etwas  unbedacht  übernommen  hattest.  Du  hattest 
von  Anfang  an,   sehr  richtig.  Dich  nicht  fest  binden,  sondern 


*)  Bereits  in  den  Mendelssohn'schen  Briefen  veröffentlicht. 


102  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

nur  das  Einstudiren  und  Leiten  einzelner  Opern  übernehmen 
wollen,  diesem  Entschluss  gemäss  auch  ganz  konsequent  einen 
Theater  -  Musikdirektor  engagiren  lassen.  Wie  Du  nun  vor 
einiger  Zeit  hierherkamst,  mit  dem  Auftrag  Krethi  und  Plethi 
zu  engagiren,  gefiel  mir  das  Ding  schon  gamicht;  ich  meinte 
aber,  Du  habest,  da  Du  ohnedies  hergekommen  warst,  diese 
Besorgung  als  eine  Gefälligkeit  nicht  verweigern  können.  Nun 
aber,  bei  Deiner  Rückehr  nach  Düsseldorf,  und  nachdem  Du^ 
sehr  vernünftig,  eine  weitere  Reise  zu  Engagements  gleich 
abschlugst,  statt  in  diesem  Sinne  fortzufahren  und  alle  Odiosa 
abzuweisen,  lässt  Du  Dich  damit  überschütten,  und  da  sie  Dir, 
wie  natürlich,  ekelhaft  werden,  lenkst  Du  nicht  etwa  ruhig 
ein  und  schaffst  sie  Dir  nach  und  nach  wieder  vom  Halse^ 
sondern  Du  springst  mit  einem  Male  ab  und  zurück,  giebst 
Dir  dadurch  unläugbar  den  Anschein  von  Unbeständigkeit  und 
UnZuverlässigkeit,  machst  Dir  einen  Mann,  den  Du  auf  jeden 
Fall  politisch  schonen  musstest,  zum  entschiedenen  Gegner  und 
höchst  wahrscheinlich  mehrere  Mitglieder  des  Comite,  unter 
denen  gewiss  ganz  respektable  Leute  sind,  verdriesslich  und 
nicht  zu  bessern  Freunden.  Betrachte  ich  diese  Sache  falsch, 
so  belehre  mich  eines  Bessern."  —  Und  über  die  durch  das 
ganze  Leben  Felix'  gehende  und  nie  befriedigte  Sehnsucht 
nach  einem  guten,  komponirbaren  Operntext  schreibt  sein 
Vater  in  demselben  Brief:  „Sodann  will  ich  auch  auf  den 
Punkt  der  dramatischen  Carriere  noch  einmal  zurückkommen, 
weil  sie  mir  allerdings  für  Dich  sehr  am  Herzen  liegt.  Du 
hast,  meiner  Einsicht  nach,  weder  in  produktiver,  noch  in 
administrativer  Hinsicht  eine  ausreichende  Schule  durchgemacht, 
um  gewiss  wissen  zu  können,  dass  Deine  Abneigung  dagegen 
eine  innere,  in  Deinem  Talent  und  Charakter  gegründete  ist. 
Mir  ist,  ausser  Beethoven,  kein  dramatischer  Komponist  be- 
kannt, der  nicht  eine  ganze  Menge  total  vergessener  Opern 
gemacht  hätte,  ehe  er  den  rechten  Punkt  zur  rechten  Zeit 
gefasst  und  sich  Platz  gemacht.  Du  hast  einen  einzigen 
öffentlichen  Versuch  gemacht,  der  zum  Theil  am  Text  ge- 
scheitert und  eigentlich  weder  gelungen  noch  misslungen  ist. 
Später  hast  Du  an  den  Texten  zuviel  gemäkelt,  —  den  rechten 


Abraham  und  Felix.  103 

Mann  nicht  gefunden,  vielleicht  aber  auch  nicht  recht  gesucht; 
ich  kann  mich  des  Glaubens  nicht  erwehren,  dass  thätigere 
Nachforschungen  und  billigere  Anforderungen  Dich  zum  Ziele 
führen  müssen."  — 

So  waren  die  Rathschläge,  die  Abraham  seinem  Sohn  in 
Bezug  auf  seine  Musiker-Laufbahn  ertheilte.  Aber  darauf  be- 
schränkte sich  der  Beirath  des  einsichtigen  Mannes  nicht:  er 
hatte  ein  so  richtiges  musikalisches  Verständniss,  ein  so  feines 
Ohr,  dass  Felix  ihm  z.  B.  einmal  auf  eine  Kritik  einer  seiner 
Kompositionen  antwortet :  *) 

„Ich  habe  Dir  noch  zu  danken  für  den  letzen  Brief  und 
mein  Ave;  ich  kann  es  oft  garnicht  begreifen  wie  es  möglich 
ist,  über  Musik  ein  so  genaues  Urtheil  zu  haben,  ohne  tech- 
nisch musikalisch  zu  sein,  und  wenn  ich  das,  was  ich  dabei 
empfinde,  so  klar  und  anschaulich  sagen  könnte  wie  Du, 
sobald  Du  darüber  sprichst,  so  wollte  ich  keine  einzige  konfuse 
Rede  mehr  in  meinem  Leben  halten.  Habe  tausend  Dank  da- 
für und  für  Deine  Worte  über  Bach. 

Du  hast  nun  freilich  nach  einmaligem  unvollkommenen 
Hören  meines  Stücks  das  herausgefunden,  was  ich  nach  langer 
Bekanntschaft  erst  jetzt,  und  darüber  sollt'  icli  mich  wohl  ein 
wenig  ärgern;  aber  daixU  ist's  mir  doch  wieder  lieb,  dass  eine 
solche  Deutlichkeit  des  Gefühls  bei  Musik  da  ist  und  dass  Du 
die  grade  hast,  denn  was  am  Ende  und  in  der  Mittelstelle 
verfehlt  ist,  liegt  in  so  kleinen  Fehlern,  die  sich  mit  so  wenig 
Noten  (namentlich  weggestrichenen)  hätten  verbessern  lassen, 
dass  weder  ich  noch  irgend  ein  Musiker  ohne  öfteres  Hören 
darauf  gekommen  wäre,  weil  wir  das  in  der  Regel  viel  tiefer 
suchen.  Es  schadet  der  Einfachheit  des  Klanges,  und  wenn 
ich  auch  meine,  dass  es  bei  vollkommener  Aufführung,  nament- 
lich mit  grossem  Chor,  weniger  auffallen  würde,  so  wird  doch 
immer  etwas  davon  bleiben.  Indessen  will  ich's  ein  andermal 
schon  besser  machen." 

Wenn  Abraham  auch,   wie   wir  sahen,  der  Ansicht  war, 
dass  die  Hausfrau  der  einzige   Beruf  eines  Mädchens  sei,  so 


*)  Mendelssohn'sche  Briefe. 


104  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

kam  ihm  doch  viel  darauf  an,  die  grossen  Talente,  die  in  sei- 
ner Tochter  ruhten,  vollkommen  zu  entwickeln,  und  Lea  war 
darin  ganz  mit  ihm  einverstanden.  So  lernte  auch  Fanny  Ge- 
neralbass,  hatte  Unterricht  in  der  Kompositionslehre  und  war 
im  Klavierspiel  in  vielen  Beziehungen  dem  Bruder  ebenbürtig. 
Von  ihrem  ungewöhnlichen  musikalischen  Gedächtniss  legte  sie 
im  Jahre  1818  als  13  jähriges  Kind  eine  glänzende  Probe  ab, 
indem  sie  zur  Ueberraschung  für  den  Vater  24  Bach'sche  Prä- 
ludien auswendig  lernte.  Charakteristisch  für  diesen  ist,  was 
Henriette  darüber  schreibt:  „Fanny's  Meisterstück,  24  Präludien 
auswendig  zu  lernen,  und  Dire  Beharrlichkeit,  liebste  Lea,  sie 
einstudiren  zu  lassen,  haben  mich  starr  und  stumm  vor  Er- 
staunen gemacht,  und  ich  habe  nur  die  Sprache  wiedergefunden, 
um  allen  Menschen  dies  grosse  Gelingen  mitzutheüen.  Nach- 
dem ich  aber  Ihnen  und  Fanny  meine  ungetheilte  Bewunde- 
rung zuerkannt,  muss  ich  doch  gestehen,  dass  ich  das  Unter- 
nehmen strafbar  finde ;  die  Anstrengung  ist  zu  gross,  sie  hätte 
leicht  schädlich  werden  können,  man  sollte  das  ausserordent- 
liche Talent  Ihrer  Kinder  bloss  leiten,  nicht  treiben.  Papa 
Abraham  ist  aber  ungenügsam,  das  Beste  ist  ihm  eben  gut  genug. 
Mich  dünkt,  ich  sehe  ihn,  während  Fanny  spielte,  in  der  Seele 
vergnügt  und  zufrieden,  und  doch  wenig  äussernd.  Die  Kinder 
werden's  ihm  aber  bald  abmerken,  dass  sie  sein  Stolz  und  seine 
Freude  sind,  und  sich  die  stoischen  Mienen  nicht  sehr  zu  Her- 
zen nehmen."  —  Dies  ausgezeichnete,  musikalische  Gedächtniss 
verüess  Fanny  auch  in  späteren  Jahren  nicht,  und  sie  verfügte 
z.  B.  während  des  Aufenthalts  in  Rom,  wie  wir  sehen  werden, 
über  ein  sehr  reichhaltiges  Repertoir  von  Bach,  Beethoven  und 
fast  allen  klassischen  deutschen  Meistern,  was  ihr  sehr  nützlich 
wurde,  da  Noten  dort  garnicht  zur  Hand  waren. 

Den  Unterricht  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  übernahmen 
anfangs  die  Eltern  selbst;  aber  auch  hierin  sollte  dem  Vater 
—  nach  Henriette's  treifendem  Ausdruck  —  „das  Beste  eben 
gut  genug  sein,"  *)    und  wie  er   in  musikalischer  Beziehung 


*)  Citat  aus  Göthe's  italienischer  Reise,  demnächst  geflügeltes 
Wort  geworden. 


Keise  nach  Paris  1819.  105 

mit  richtigem  Blick  Zelter  als  den  geeigneten  Mann  heraus- 
gefunden hatte,  traf  er  für  die  Hauslehrerstelle  eine  nicht  min- 
der glückliche  Wahl:  es  war  Heyse,  der  spätere  berühmte 
Philologe,  der  Vater  des  Dichters  Paul  Heyse.  Heyse  war 
längere  Jahre  im  Hause  und  ihm  verdankten  die  Kinder  ihre 
gründliche  wissenschaftliche  Bildung.  Felix  wollte  nicht  gern 
allein  Griechisch  lernen,  und  so  nahm  seine  jüngere  Schwester 
Kebecka  an  diesem  Unterricht  Theil  und  erwarb  sich  bei  ih- 
rem grossen  Sprachtalent  eine  so  genaue  Kenntniss  des  Grrie- 
chischen,  dass  sie  noch  in  späteren  Jahren  Homer  und  Plato 
mühelos  las  und  sowohl  ihrem  Neffen,  als  ihren  beiden  eige- 
nen Söhnen  oft  eine  erwünschte  Helferin  bei  den  Schular- 
beiten war. 

Im  Jahr  1819  machte  Abraham  allein  eine  Reise  nach 
Paris,  wohin  ihn  Geschäftsangelegenheiten,  die  Eintreibung  der 
französischen,  an  Preussen  zu  zahlenden  Kriegsentschädigung, 
riefen.  Wie  schwer  ihm  die  Trennung  von  seinem  Familien- 
leben wurde,  kann  man  sich  denken,  das  „pain  seo  ä  Fans^ 
war  nicht  mehr  so  verlockend  als  damals.  Henriette  schreibt 
an  Lea:  „Ich  habe  den  guten,  redlichen,  edlen  Bruder,  Mann 
und  Erzvater  mit  wahrer  Freude  wiedergesehen,  und  er  hat 
mich  auch  schon  hier  auf  dem  Lande  besucht,  wo  wir  Ihrer  und 
der  Kinder  gedachten,  wie  Sie,  und  der  herrliche  Segen,  den 
ihm  Gott  in  seinen  Kindern  gegeben,  sich  an  AUes,  besonders 
Gutes  aber,  das  ihm  widerfährt,  immer  anschliessen.  Wie  es 
aber  der  arme  Mann  anfangen  wird,  um  seinen  Sommer  so 
aUein  in  Paris  zu  verleben,  das  weiss  ich  noch  nicht.  Auch 
die  Opera  buffa  scheint  ihn  nicht  mehr  anzuziehen,  und  mit 
Recht  zieht  er  seine  Hauskapelle  allen  berühmtesten  Vir- 
tuosen vor.  Indessen  scheint  er  mir  ganz  resignirt,  und  ich 
muss  es  sagen,  in  manchem  Andern  noch  sehr  vortheilhaft  ver- 
ändert; er  erkennt,  dass  er  glücklich  ist,  fühlt  es  lebendig  in 
sich,  und  das  hat  ihn  verjüngt;  ich  finde  ihn  garnicht  mehr  so 
heraklitisch,  bloss  ernst,  wie  es  einem  Manne,  und  zuweilen 
gerührt,  wie  es  einem  Gatten  und  Vater  ziemt,  der  von  allem, 
was  er  liebt,  getrennt  ist."  — 

Der   Aufenthalt   zog   sich   länger  hin,    als   man  gedacht 


106  Abraham  Mendelssohn  Barthol dy. 

hatte;  aus  dieser  Zeit  sind  die  früher  mitgetheilten  Briefe  an 
Fanny;  endlich  im  Herbst  1820  kehrte  er  zurück.  In  dem 
Brief,  den  ihm  Henriette  mitgab,  heisst  es: 

„  Liebste  Lea,  da  haben  Sie  ihren  lieben,  edlen  Mann  wie- 
der, lind  zwar  recht  wie  Sie  ihn  wünschen,  mit  einer  Dosis 
übler  Laune  gegen  das  neueste  Frankreich;  ob  Berlin  sehr 
bei  dieser  Veränderung  gewonnen,  weiss  ich  nicht,  aber  er  ver- 
gisst  es  doch  nie,  dass  da  sein  schönstes  Glück  blühte  und  zu 
den  herrlichsten  Früchten  reifte,  dafür  entbehrt  er  schon  gern 
einige  materielle,  die  dort  nicht  reifen,  besonders  wenn  er  Sie, 
wie  jetzt  geschieht,  zu  einer  Weinlese  am  Ehein  bewegen 
kann."  — 

Dass  das  Frankreich  vom  Jahr  1820  auf  den  freisinnigen 
fast  republikanischen  Mann,  namentlich  unter  seinen  persönlich 
unbehaglichen  Verhältnissen,  einen  äusserst  ungünstigen  Ein- 
druck machte,  ist  wohl  sehi*  erklärlich.  Indess  lässt  sich  an- 
nehmen, dass  der  pecuniaire  Erfolg  der  E-eise  ein  selir  guter 
war,  und  so  konnte  schon  ein  nicht  ganz  angenehmes  Jahr  in 
den  Kauf  genommen  werden,  umsomehr  als  das  nun  folgende 
Jahi'zehnt  von  1820 — 1830  sich  zu  einem  ungetrübt  glückli- 
chen gestaltete. 

Im  Herbst  1821  wagte  Felix  den  ersten  Ausflug  aus  dem 
elterlichen  Hause  und  reiste  mit  Zelter,  dem  vertrauten  Freunde, 
nach  Weimar,  wo  er  14  Tage  im  Göthe'schen  Hause  wohnte. 
Kurz  vor  seiner  Abreise  hatte  er  angefangen,  sich  im  Phan- 
tasiren  zu  üben,  und  phantasirte  in  Weimar  in  Gegenwart 
Göthe's,  Hummel's,  vieler  Künstler  und  des  Hofes.  Es  mögen 
einige  Stellen  aus  den  Briefen  folgen,  die  der  damals  11  jähi-ige 
Felix  an  die  Eltern  schrieb: 

Weimar,  den  6.  November  1821. 

„ —  —  Jetzt  hört  Alle,  Alle  zu.  Heut  ist  Dienstag. 
Sonntag  kam  die  Sonne  von  Weimar,  Göthe,  an.  Am  Morgen 
gingen  wir  in  die  Kii^che,  wo  der  100.  Psabn  von  Händel 
halb  gegeben  wurde.  Die  Orgel  ist  gross  und  doch  schwach, 
die  Marien-Orgel  ist,  obwohl  klein,  doch  viel  mächtiger.  Die 
hiesige  hat  50  Register,  44  Stimmen  und  Imal  32  Fuss.  Nach- 
her schrieb  ich  Euch  den  kleinen  Brief  vom  4.  und  ging  nach 


Felix  bei  Göthe.  107 

dem  Eleplianten ,  wo  icli  Lucas  Cranach's  Haus  zeichnete. 
Nach  2  Stunden  kam  Professor  Zelter:  „Göthe  ist  da,  der 
alte  Herr  ist  da!"  —  Gleich  waren  wir  die  Treppe  herunter 
in  Göthe's  Haus.  Er  war  im  Garten  und  kam  eben  um  eine 
Hecke  herum;  ist  das  nicht  sonderbar,  lieber  Vater,  ebenso 
ging  es  auch  Dir.  Er  ist  sehr  freundlich,  doch  alle  Bildnisse 
von  ihm  finde  ich  nicht  ähnlich.  Er  sah  sich  dann  seine 
interessante  Sammlung  von  Versteineningen  an,  welche  der 
Sohn  geordnet  hat,  und  sagte  immer:  „Hm,  hm,  ich  bin  recht 
zufrieden" ;  nachher  ging  ich  noch  eine  halbe  Stunde  im 
Garten  mit  ihm  und  Professor  Zelter.  Dann  zu  Tisch.  Man 
hält  ihn  nicht  für  einen  Dreiundsiebenziger,  sondern  für  einen 
Fünfziger.  Nach  Tische  bat  sich  Fräulein  Ulrike,  die  Schwester 
der  Frau  von  Göthe,  einen  Kuss  aus  und  ich  machte  es  ebenso. 
Jeden  Morgen  erhalte  ich  vom  Autor  des  Faust  und  des 
Werther  einen  Kuss,  und  jeden  Nachmittag  vom  Vater  und 
Freund  Göthe  zwei  Küsse.  Bedenkt!!  Nachmittag  spielte 
ich  Göthe  über  zwei  Stunden  vor,  theils  Fugen  von  Bach, 
theils  phantasirte  ich.  Den  Abend  spielte  man  Whist  und 
Professor  Zelter,  der  zuerst  mitspielte,  sagte:  „Whist  heisst, 
du  sollst  das  Maul  halten."  Ein  Kraftausdruck!  Den  Abend 
assen  wir  Alle  zusammen,  auch  sogar  Göthe,  der  sonst  niemals 
zu  Abend  isst.  Nun  meine  liebe,  hustende  Fanny:  Gestern 
früh  brachte  ich  Deine  Lieder  der  Frau  von  Göthe,  die  eine 
hübsche  Stimme  hat.  Sie  wird  sie  dem  alten  Herrn  vorsingen. 
Ich  sagte  es  ihm  auch  schon,  dass  Du  sie  gemacht  hättest 
und  fragte,  ob  er  sie  wohl  hören  wollte.  Er  sagte:  ja,  ja, 
sehr  gerne.  Der  Frau  von  Göthe  gefallen  sie  besonders. 
Ein  gutes  Omen.     Heute  oder  morgen  soll  er  sie  hören."*) 


*)  Göthe  dichtete  dann  für  Fanny  folgendes  Gedicht,  das  er 
ihr  eigenhändig  aufschrieb  und  Zelter  mit  den  Worten  übergab, 
»bringen  Sie  das  dem  lieben  Kinde." 

Wenn  ich  mir  in  stiller  Seele 
Singe  leise  Lieder  vor, 
Wie  ich  fühle,  dass  sie  fehle, 
Die  ich  einzig  mir  erkor. 

Möcht'  ich  hoffen,  dass  sie  sänge. 
Was  ich  ihr  so  gern  vertraut  — 
Ach!  aus  dieser  Brust  und  Enge 
Drängen  frohe  Lieder  laut 


108  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

Weimar,  den  10.  Novemher. 

„ Montag  war  ich  hei  der  Frau  v.  Henkel  und  auch 

hei  Sr.  Königl.  Hoheit  dem  Erhgrossherzog,  dem  meine  g-moU- 
Sonate  sehr  wohl  gefiel.    Mittwoch  Abend  war  Oberen  von 
Wranitzky,  eine  recht  hübsche  Oper.     Donnerstag  früh  kamen 
die  Grossherzogin  und  die  Grossfürstin  und  der  Erbgrossherzog 
zu  uns,    denen   ich   vorspielen   musste.    Und   nun  spielte  ich 
von  11  Uhr   mit  Unterbrechung   von    2  Stunden   bis   10  Uhr 
des   Abends,    und   die   Phantasie   von   Hummel    machte    den 
Beschluss.    Als   ich   letzt  bei  ihm  war,    spielte  ich  ihm   die 
Sonate  aus  g-moll  vor,    die    ihm  sehr  wohl    gefiel,   wie  auch 
das  Stück  für  Begasse,  und  für  Dich,  liebe  Fanny.    Ich  spiele 
hier  viel   mehr   als  zu  Hause,   unter   4   Stunden  selten,  zu- 
weilen  6,  ja  wohl  gar  8  Stunden.    Alle  Nachmittage  macht 
Göthe  das  Streicher'sche  Instrument  mit  den  Worten  auf:    „Ich 
habe  dich  heute  noch  garnicht  gehört,   mache  mir  ein  wenig 
Lärm  vor"  und  dann  pflegt  er  sich  neben  mich  zu  setzen,  und 
wenn  ich  fertig  bin  (ich  phantasire  gewöhnlich),   so  bitte  ich 
mir  einen  Kuss  aus,   oder  nehme  mir  einen.    Von  seiner  Güte 
und  Freundlichkeit  macht  Ihr  Euch  gar  keinen  Begriff,  ebenso- 
wenig als  von  dem  Heichthum,  den  der  Polarstern  der  Poeten 
an  Mineralien,  Büsten,  Kupferstichen,  kleinen  Statuen,  grossen 
Handzeichnungen  u.  s.  w.  u.  s.  w.  hat.     Dass  seine  Figur  im- 
posant ist,  kann  ich  nicht  finden,  er  ist  eben  nicht  viel  grösser 
als  Vater.    Doch  seine  Haltung,  seine  Sprache,  sein  Name,  die 
sind  imposant.     Einen  ungeheuren  Klang  der  Stimme  hat  er, 
und  schreien  kann  er,  wie  10,000  Streiter.    Sein  Haar  ist  noch 
nicht  weiss,   sein  Gang  ist  fest,   seine  Rede  sanft.    Dienstag 
wollte  Professor  Zelter   mit  uns  nach  Jena,  und  von  da  aus 
gleich  nach  Leipzig.    (Bei  Schoppenhauer's  sind  wir  oft,  Freitag 
hörte  ich  Molke  und  Strohmeier  daselbst,  hier  auf  dem  Theater 
ist  eine  14jährige  Sängerin,  Fanny,  die  letzt  im  Oberon  d  frei 
fasste,   stark  und  rein,    und  f  hat.)     Sonnabend  Abend  war 
Adele  Schoppenhauer  (die  Tochter)  bei  uns,  und  wider  Gewohn- 
heit Göthe  auch  den  ganzen  Abend.    Die  Rede  kam  auf  unsere 
Abreise  und  Adele  beschloss,    dass  vdr  Alle  hingehen  und  uns 
Professor  Zelter  zu  Füssen  werfen  sollten  und  um  ein  Paar 


Felix  bei  Göthe.  109 

Tage  Zugabe  flehen.  Er  wurde  in  die  Stube  geschleppt  und 
nun  brach  Göthe  mit  seiner  Donnerstimme  los,  schalt  Professor 
Zelter,  dass  er  uns  mit  nach  dem  alten  Nest  nehmen  wollte, 
befahl  ihm,  still  zu  schweigen,  ohne  Widerrede  zu 
gehorchen,  uns  hier  zu  lassen,  allein  nach  Jena  zu  gehen 
und  wieder  zu  kommen,  und  schloss  ihn  so  von  allen  Seiten 
ein,  dass  er  Alles  nach  Göthe's  Willen  thun  wird;  nun  wurde 
Göthe  von  allen  Seiten  bestüi-mt,  man  küsste  ihm  Mund  und 
Hand,  und  wer  da  nicht  ankommen  konnte,  der  streichelte  ihn 
und  küsste  ihm  die  Schultern,  und  wäre  er  nicht  zu  Hause 
gewesen,  ich  glaube,  wir  hätten  ihn  zu  Hause  begleitet,  wie 
das  römische  Volk  den  Cicero  nach  der  ersten  Catilinarischen 
Eede.  Uebrigens  war  auch  Fräulein  Ulrike  ihm  um  den  Hals 
gefallen,  und  da  er  ihr  die  Cour  macht  (sie  ist  sehr  hübsch), 
so  that  alles  dies  zusammen  die  gute  Wirkung. 

Montag  um  11  Uhr  war  Concert  bei  Frau  von  Henkel. 
Nicht  wahr,  wenn  Göthe  mir  sagt,  mein  Kleiner,  morgen  ist 
Gesellschaft  um  11,  da  musst  auch  du  uns  was  spielen,  so 
kann  ich  nicht  sagen  „Nein!"  — 

Lea  hatte  die  Briefe  an  Henriette  geschickt,  und  diese 
macht  ihrem  Entzücken  in  folgenden  Worten  Luft: 

^Wie  kann  ich  Hmen,  liebste  Lea,  je  genug  für  die  Freude 
danken,  die  Sie  mir  dui'ch  jene  herrlichen  Briefe  gemacht!  Sie 
sind  eine  glückliche  Mutter!  Ihnen  zu  sagen,  wie  gerührt, 
v/ie  innig  bewegt  und  erfreut  ich  geworden,  ist  unmöglich. 
Ihnen  muss,  was  ich  empfinde,  wenn  ich  an  den  herrlichen, 
feurigen,  reichbegabten,  gefühlvollen,  sanften  und  natürlichen 
Knaben  denke,  wie  Unsinn  vorkommen,  wenn  ich  Worte  finden 
könnte,  es  auszudrücken.  Aber  nein,  Ihr  fülilt  es  wohl,  Sie, 
liebe  Mutter,  fühlen  es  im  Mutterherzen  und  sind  dankbar  gegen 
die  Vorsehung,  die  Ihnen  solche  Eünder  und  diesen  Sohn  ge- 
geben !  Das  ist  ein  Künstler  in  der  vollsinnigsten  Bedeutung, 
selten  hohe  Fähigkeiten  bei  dem  edelsten,  weichsten  Gemüth! 
Wenn  Gott  diesen  Knaben  erhält,  so  werden  nach  langen, 
langen  Jahren  seine  Briefe  einst  Epoche  machen ;  bewahren  Sie 
sie  wie  ein  Heiligthum,  sie  sind  ja  schon  jetzt  durch  den  Aus- 
druck des  kindlichsten,  reinsten  Gemüths  heilig.  —  Wie  muss 


110  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy. 

es  so  schön  gewesen  sein,  den  Knaben  so  offen  und  zuthnlich 
mit  dem  edlen  Greise,  dem  Altvater  Göthe,  zu  sehen.  Was 
wir  in  unsrer  Jugend  so  oft  träumten,  wie  erfreulich  es  sein 
müsste,  in  Göthe's  Nähe  zu  leben,  das  ist  nun  an  Felix  in  Er- 
füllung gegangen,  sowie  auch  die  jugendlichen  und  unaufliör- 
lichen  Bass-Triller  des  Vaters  zum  ausserordentlichen  Talent 
in  dem  Sohne  gereift  sind.  Ich  danke  Gott  dafür,  dass  er  Euch 
das  Glück  gewährt,  es  zu  erleben,  was  unsere  arme  Mutter 
nicht  ahnte,  wenn  sie  ungeduldig  über  Dein  ewiges  Singen, 
lieber  Abraham  —  es  waren  damals  die  Chöre  der  Athalia 
von  Schulz  —  ausrief:    „Wie  mies  ist  mir  vor  tout  Vunivers!^^  — 


Der  weitere  Lebenslauf  Abraham  Mendelssohn  Bartholdy's 
greift  so  in  den  seiner  Kinder  ein,  dass  wir  ihn  von  hier  an 
im  Zusammenhang  mit  diesem  betrachten  wollen. 


Wilhelm  Hensel 


Es  mnss  hier  ein  Ereigniss  erwähnt  werden,  das,  so  fern 
liegend  es  auch  dem  Anschein  nach  ist,  doch  auf  die  Lebens- 
schicksale der  ältesten  Tochter  Fanny  vom  endscheidendsten 
Einfluss  werden  sollte.  Im  Januar  1821  waren  der  Grossfürst 
Thronfolger  Nikolaus  von  Russland  und  seine  Gemahlin  in  Berlin, 
bei  welcher  Gelegenheit  grosse  Hoffestlichkeiten  stattfanden. 
Am  27.  gab  es  lebende  Bilder  und  pantomimische  Darstellun- 
gen, zu  denen  als  Gegenstand  das  damals  neue  und  die  Runde 
durch  Europa  machende  Gedicht  von  Moore,  Lalla  Rookh,  ge- 
wählt war.  Die  dabei  entwickelte  Pracht,  die  Fülle  der  Edel- 
steine und  Perlen,  die  kostbaren  Stoffe  und  Waffen,  die  Ver- 
einigung der  schönsten  und  vornehmsten  Personen  machten  das 
Fest  zu  einem  seltenen,  genussreichen.  Als  die  Vorstellung, 
vorbei  war,  rief  die  Darstellerin  der  Lalla  Rookh  —  die  Gross- 
fürstin selbst  —  seufzend  aus:  „Ist  es  nun  wirklich  vorüber? 
Und  soUen  andere,  sollen  spätere  Zeiten  keine  Erinnerung  an 
diesen  glücklichen  Abend  haben?"  Der  König  hörte  es,  und 
wie  man  sonst  nach  Gemälden  lebende  Bilder  stellt,  so  beschloss 
er,  die  lebenden  Bilder  durch  den  jungen  Künstler,  der  sie  ge- 
stellt, in  einem  Prachtwerk  malen  zu  lassen ;  alle  Mitwirkenden 
Sassen  zu  ihren  Portraits.  Wilhelm  Hensel  stellte  das  vollen- 
dete Werk,  ehe  es  an  seinen  Bestimmungsort  Petersburg  für 
die  Grossfürstin  abging,  einige  Tage  in  seinem  Atelier  aus  und 
lernte  dort  Fanny  Mendelssohn  Bartholdy,  seine  spätere  Gattin 


112  Wilhelm  HenseL 

kennen,  die  mit  iliren  Eltern  sich  eingefunden  hatte,  die  schönen 
Zeichnungen  zu  bewundern. 

Wenn  wir  der  Vorgeschichte  dieses  Künstlers  nachspüren, 
so  ist  es  eine  ganz  andere  Atmosphäre,  die  uns  umweht,  fast  eme 
andere  Welt  als  die  bisher  geschilderte.  Alle  Anschauungen,  Be- 
griffe, Bildungsbedingungen  sind  andere,  ja  die  Menschenrace  ist 
eine  wesentlich  verschiedene.  Hatten  wir  es  bis  jetzt  mit  einer 
Familie  rein  jüdischen  Stammes  zu  thun,  mussten  wir  nach 
Palästina  zurückblicken,  um  die  Wurzeln  des  Geschlechts  zu 
finden,  zeigte  sich  der  kosmopolitische  Charakter  des  Juden- 
thums  in  den  Wanderungen  durch  mancherlei  Städte  und  Länder, 
in  denen  wir  die  Vorfahren  antrafen,  in  Dessau,  Berlin,  Paris, 
Hamburg,  war  die  Gesinnung  zwar  ein  echt  deutsche,  die  Bil- 
dung aber  vielfach  auf  französischem  Boden  wurzelnd,  so  führen 
die  Ursprünge  der  Hensel'schen  Familie  auf  die  Ureinwohner 
der  norddeutschen  Tiefebene  zurück,  der  Typus  ist  entschieden 
„christlich  germanisch".  —  So  waren  die  Existenzbedingungen 
durchaus  andere  und  Wilhelm  Hensel  und  Fanny  M.  B., 
beide  recht  ausgeprägte  Eepräsentanten  ihrer  Eacen,  waren  als 
solche  so  verschieden  wie  möglich;  und  doch  zeigte  es  sich,  dass 
ihre  Naturen  sich  sehr  harmonisch  in  einander  fügten  und  er- 
gänzten und  in  dieser  Ergänzung,  zu  der  jeder  Theil  so  Ur- 
eigenes brachte,  sich  ausserordentlich  glücklich  fühlten. 

Wilhelm  Hensel's  Vater  war  ein  armer  Landprediger,  zu- 
erst in  Trebbin,  wo  Wilhelm  am  6.  Juli  1794  geboren  wurde, 
dann  in  Linum,  beides  kleine  dürftige  Orte  in  der  Nähe  Berlins, 
in  den  öden,  traurigen  Sandsteppen  der  Mark  gelegen,  letzteres 
von  endlosen  Torfmooren  umgeben. 

Bei  einem  spärlichen  Einkommen,  unter  den  Drangsalen 
der  napoleonischen  Bedrückungszeit,  verstand  er  es,  seine  zahl- 
reiche Familie  ehrenvoll  in  der  Welt  zu  erhalten.  Er  starb 
früh,  seine  Frau  aber  lebte  noch  bis  zum  Herbst  1835  und 
hatte  das  Glück,  nach  langen  Jahren  der  Sorge  und  Entbeh- 
ning,  die  sie  während  und  nach  dem  Kriege  in  ihrem  langen 
Wittwenstande  durchlebt,  die  beginnenden  Erfolge  und  die 
Verheirathung  ihres  Sohnes  zu  sehen. 

Dieser  zeigte  von  früh  an  grossen  Hang  zur  Malerei.    AUe 


Wird  Künstler.  113 

freien  Stunden  brachte  er  damit  zu,  theils  zu  malen,  theils  die 
Mittel  dazu,  die  Farben,  aus  Früchten,  Blättern,  Wurzeln  her- 
zustellen; denn  Farbenkasten  gab  es  in  Linum  nicht,  und  die 
Mittel  hätten  auch  wohl  nicht  ausgereicht,  um  sie  in  der  er- 
forderlichen Menge  anzuschaffen. 

Es  erschien  den  Eltern  unmöglich,  Wilhelm  seinen  glü- 
henden Wunsch,  Maler  zu  werden,  zu  erfüllen,  er  sollte  ein 
Brodstudium  ergreifen  und  widmete  sich  mit  schwerem  Herzen 
dem  Bergfach.  Doch  wurde  noch  jede  freie  Minute  auf  die 
Kunst  verwandt,  und  das  Glück  wollte  es,  dass  eines  Tages 
ein  feiner  Kunstkenner  eine  von  Hensels  Zeichnungen  zu  sehen 
bekam ;  er  fand  grosses  Talent  in  dem  Bildchen  und  als  er  er- 
fuhr, dass  der  Autor  reiner  Autodidakt  sei,  redete  er  ihm  dringend 
zu,  die  Bergcarriere  zu  verlassen  und  Künstler  zu  werden. 
Aber  er  Hess  es  dabei  nicht  bewenden,  sondern  verhalf  auch 
zu  den  nöthigen  Unterstützungen  während  der  ersten  Jahre. 

So  war  Hensel  zwar  für  den  Augenblick  am  Ziel  seiner 
Wünsche,  indessen  vorerst  erndtete  er  nur  Sorgen  und  Mühen : 
denn  die  Unterstützung,  die  er  bekam,  war  nur  eine  sehr  ge- 
ringe, und  hätte  kaum  hingereicht,  ihm  selbst  das  Leben  zu 
fristen ;  nun  aber  entstanden  für  den  kaum  den  Kinder  jähren  Ent- 
wachsenen Verpflichtungen  und  Verantwortungen  der  schwersten 
Art.  Sein  Vater  starb  und  er  wurde  das  Haupt  der  Familie; 
die  Wittwe  mit  ihren  Töchtern  war  zu  ernähren,  sie  durften 
nicht  darunter  leiden,  dass  er  sein  Bergstudium  an  den  Nagel 
gehängt  —  so  musste  denn  die  Kunst,  die  erst  erlernt  werden 
sollte,  sofort  Brod  geben.  Er  scheute  vor  keiner  Arbeit  zu- 
rück: er  zeichnete  für  Taschenbücher  und  Kalender  Hlustrationen ; 
er  lernte  radiren,  um  den  Verdienst  von  den  radiiiien  Blättern 
nicht  mit  einem  Andern  theilen  zu  dürfen,  er  musste  dazu  die 
Nächte  und  den  Schein  eines  dünnen  Talglichtes  zu  Hülfe 
nehmen  und  diese  Nachtarbeit  legte  den  Grund  zu  seiner  späteren 
Kurzsichtigkeit.  Zu  seinen  selbstradirten  Blättern  gehören 
namentlich  hübsche  Illustrationen  der  Arndt'schen  Märchen. 

Mitten  in  diese  angestrengte  Thätigkeit  schallte  der  Auf- 
ruf zum  Kriege  1813.  Wilhelm  Hensel  war  keinen  Augen- 
blick zweifelhaft,    was  er  zu  thun  habe,  er  eilte  als  einer  der 

Die  Familie  Mendelssolin.   L  C 


114  Wilhelm  Hensel. 

ersten  Freiwilligen  zu  den  Fahnen,  machte  beide  Feldzüge  eh- 
renvoll mit  und  wurde  mehrere  Male  verwundet. 

Er  zog  beide  Mal  in  Paris  ein  und  nahm  nach  Abschluss  des 
Friedens  seinen  Abschied,  um  noch  einige  Zeit  dem  Studium 
der  Kunstschätze  in  Paris  widmen  zu  können. 

Nach  der  zweiten  Rückkehr  aus  Frankreich  trat  eine 
Periode  des  Schwankens  bei  ihm  ein,  ob  er  nicht,  statt 
Maler  zu  werden,  sich  schriftstellerischen  Arbeiten  zuwen- 
den sollte.  Einige  Freunde,  namentlich  Brentano,  Chamisso, 
Arnim,  auch  Tieck,  suchten  ihn  dazu  zu  bewegen.  Es  waren 
traurige  Zeiten  und  schlechte  Aussichten  für  einen  jungen 
Maler.  Der  Wohlstand  fast  aller  Familien  war  schwer  zer- 
rüttet, die  Meisten  hatten  alle  Elräfte  anzuspannen,  um  das  zum 
Leben  Noth wendigste  zu  erwerben;  die  harte  Noth  der  über- 
standenen  Zeiten  hatte  allen  Sinn  für  das  Eeich  des  Schönen 
und  den  Schmuck  des  Lebens  ertödtet,  es  war  wenig  Aussicht 
auf  die  Beförderung  der  Künste.  Von  Privatleuten  geschah 
fast  Nichts  und  der  Staat,  wenn  er  auch  den  guten  Willen  ge- 
habt hätte,  war  auch  nicht  im  Besitz  der  nöthigen  Mittel.  Das 
poetische  Talent  Hensel's  war  keineswegs  gering  anzuschlagen 
—  indess  die  Liebe  zur  Malerei  behielt  die  Oberhand  und  die 
Dichtkunst  blieb  ihm  nur  „  Freundin  und  Gespielin".  —  Durch 
alle  Hindernisse  hindurch  setzte  er  seinen  W^eg  unverdrossen 
fort.  —  Hier  möchte  der  Platz  sein,  einzuschalten,  was  Bar- 
tholdy  in  dieser  Zeit  in  Eom  that,  um  ganz  ähnlichen  Zustän- 
den, die  auch  dort  sich  fanden,  einigermassen  Abhülfe  zu 
schaffen.  Er  spricht  sich  in  zwei  Briefen  an  seinen  Sshwager 
Abraham  darüber  folgendermassen  aus: 

Rom,  25.  Decbr.  1816. 

Von  Veit  kann  ich  Dir  nichts  als  Gutes  sagen.   Er 

ist  ein  tüchtiger  und  zugreifender  Mensch;  er  arbeitet  jetzt 
am  zweiten  Karton  für  mein  Zimmer,  und  es  ist  ganz  unglaub- 
lich, was  er  seit  den  paar  Monaten,  dass  er  das  erste  Frescobild  ge- 
macht, gelernt  hat.  Ueberhaupt  sind  diese  Malereien  eine  wahre 
Wohlthat  für  unsere  Künstler  gewesen,  nicht  wegen  der  Sum- 
men, die  ich  in  meiner   Armuth   ihnen  bewilligen  konnte  und, 


Casa  Bartholdy  in  Rom.  115 

wie  mir  um's  Herz  ist,  ohne  Eigennutz  gegeben  habe,  sondern 
wegen  der  Entwickelung  ihrer  Kräfte,  zu  der  ich  die  Hand 
geboten  und  nicht  unverständig  sie,  ihnen  selbst  unbewusst, 
gezwungen  habe."  — 

6.  Februar  1817. 

«Du  willst  etwas  Näheres  von  meinen  Fresco-Gemälden 
wissen?  Vorläufig  Folgendes:  Als  ich  hierher  kam,  fand  ich 
viele  deutsche  und  preussische  Künstler  von  entschiedenen  An- 
lagen und  Talenten,  jedoch  ohne  Gelegenheit,  sie  auszuüben; 
keine  Arbeit,  keine  Bestellung,  als  miserable  Buchhändler- 
Zeichnungen  und  hin  und  wieder  ein  Portrait,  oder  bei  denen, 
die  es  drängte,  zu  schaffen,  eine  kleine,  halbvollendete  Kom- 
position, oder  Gemälde  in  Oel.  Hieraus  entstand  nicht  nur  das 
Uebel,  dass  man  jene  Künstler  nicht  kannte,  sondern  auch  das 
vielleicht  grössere,  dass  sie  sich  selbst  nicht  kannten,  welches 
bei  einer  gewissen  Schwärmerei  und  Einbildungskraft  oft  die 
Wirkung  hervorbrachte,  dass  sie  sich  selbst  überschätzten. 
Mich  jammerte  dieser  Zustand,  indem  ich  zugleich  die  Hülflo- 
sigkeit  und  Unbehülflichkeit  dieser  Leute  einsah.  Auf  offiziel- 
lem Wege  war  nichts  zu  thun,  mein  Einfluss,  etwas  der  Art 
zu  bewirken,  unzureichend.  Auch  hätte  ich  nicht  gewusst,  was 
zu  fordern  und  wie  mich  bei  der  Barbarei,  die  für  die  Künste 
zu  Berlm  herrscht,  verständlich  zu  machen.  Also  musste  ich 
mich  selbst  Aufopfemngen  unterziehen  und  auch  wohl  Krän- 
kungen, die  bei  keinem  Unternehmen,  was  mehr  oder  weniger 
ins  Ganze  greift,  zu  vermeiden  sind,  gewärtigen,  —  und  dazu 
habe  ich  mich  denn  mit  Freude  und  Muth  entschlossen,  sowie 
mich  mein  Vaterland  immer  bereit  finden  soll,  wenn  ich  ihm 
nützlich  sein  zu  können  glaube. 

Die  Frescomalerei  war  die  schicklichste,  alle  Zwecke  zu 
vereinen :  1)  Ein  bleibendes  Denkmal  der  Arbeit,  wenn  sie  ge- 
riethe  und  zwar  zu  Rom,  dem  Mittelpimkt  der  Künstlerwelt, 
wo  die  Wahrheit,  ob  etwas  mittelmässig,  trefflich  oder  schlecht, 
sich  bald  entdeckt,  2)  das  Mittel  für  die  Künstler,  sich  selbst 
kennen  zu  lernen,  und  zwar  in  einem  Genre  von  Arbeit,  die 
eine  gewisse  Schnelligkeit  erfordert  und  nicht  ewiges  Retou- 
chiren  und  Denken  und  Grübeln  zulässt,  3)  Grösse  der  Figuren 

8* 


116  Wilhelm  Hensel. 

und  Gemälde,  die  Fehler  und  Schönheiten  aufdeckt,  4)  Zu- 
sammenarheiten  von  mehreren  jungen  Künstlern,  wo  einer  bei 
dem  andern  wenigstens  keine  ganz  palpabeln  Sclinitzer  durch- 
lassen wird  und  die  Emulation  sie  anspornt,  5)  endlich  Brod, 
um  ein  Jahr  lang  ihrem  Fache  zu  leben. 

Das  Lokal  ist  schön,  helle,  heiter,  mit  einer  grossen  Aus- 
sicht über  Eom.  *)  Weder  in  den  Sujets  (Wahl  und  Anord- 
nung), noch  in  irgend  etwas,  was  die  Kunst  betrifft,  habe  ich 
meine  Künstler  genirt,  beim  Vorlegen  der  Skizzen  jedoch  habe 
ich  ihnen  meine  Kritiken  freimüthig  gesagt,  von  denen  die 
meisten  angenommen  worden  sind.  —  Mein  Kontrakt  für  die 
auszumalende  Wohnung  läuft  noch  4  Jahre.  Nachher,  sollten 
auch  meine  Verhältnisse  in  Italien  noch  dieselben  sein,  werden 
die  nicht  billigen  Wirthsleute  mich  vermuthlich  so  steigern, 
dass  ich  nicht  werde  bleiben  können.  Auf  die  Cartons  habe 
ich  renoncirt.  Die  Copien  im  Kleinen  schicke  ich  Sr.  Majestät, 
So  habe  ich  den  Künstlern  und  denen,  die  um  die  Sache  wis- 
sen, gezeigt,  dass  keine  Art  Interesse  mich  leitet.  Der  Eitel- 
keit wird  man  mich  auch  nicht  beschuldigen,  denn  ich  ziehe 
mich  zurück,  so  gut  ich  kann,  und  werde  hierin  der  Undank- 
barkeit nicht  entgehen.  Grott  weiss  es,  dass  diese  Ausgabe 
mich  drückt,  und  dass  ich  bei  so  vielen  andern,  die  meine  Lage 
nothwendig  macht,  und  bei  meiner  Unfähigkeit  zur  Oekonomie 
manche  Nacht  nicht  gut  schlafe,  aus  Sorge  wie  ich  das  viele 
Geld,  was  ich  verbrauche,  zusammenschwindeln  soll;  aber  die 
wahrhaft  reichen  Leute  thun  ja  nichts,  oder  thun  es  unge- 
theüt  und  für  sich."  — 

Henriette  schreibt  an  Lea  Mendelssohn  über  diese  Fres- 
ken: „Veit,  Schadow  und  noch  ein  andrer  deutscher,  ich  glaube 
gar  Berliner  junger  Maler**)  malen  in  diesem  Augenblick  für 
Bartholdy  Zimmer  al  fresco:  Finden  Sie  das  nicht  recht  in  sei- 
nem grossen  Styl?   Er  sollte  nur   Pabst   werden!    Bartholdy 


*)  Es  ist  die  noch  heut  nach  ihm  genannte  Casa  Bartholdy  am 
Monte  Pincio. 

**)  Cornelius,  Overbeck  und  Schnorr  nahmen  ausser  den  Oben- 
genannten an  der  Arbeit  TheU 


Bartholdy.  117 

der  Erste   und   Leo   der   Zehnte,  der   so  wie  Bartholdy  alles 
Grosse  und  Schöne  liebte,  ohne  viel  zu  rechnen!*  — 

Bartholdy  selbst  war,  wenn  auch  nicht  in  den  bildenden 
Künsten,  so  doch  in  der  Litteratnr  thätig:  er  hat  namentlich 
eine  Geschichte  der  Tyroler  Erhebung  gegen  die  Franzosen 
geschrieben,  die  Inunermann  zu  seinem  Trauerspiel  „Andreas 
Hofer"  mit  Nutzen  studirt  zu  haben  bekannte,  und  von  der 
H.  Heine  im  2.  Band  der  Reisebilder  sagt:  Bartholdy's  „Krieg 
der  Tyroler  Landleute  im  Jahre  1809"  ist  ein  geistreich  und 
schön  geschriebenes  Buch  und  wenn  Mängel  darin  sind,  so 
entstanden  sie  nothwendigerweise  dadurch,  weil  der  Verfasser, 
wie  es  edeln  Gemüthern  eigen  ist,  für  die  unterdrückte  Partei 
eine  sichtbare  Vorliebe  hegte,  und  weil  noch  Pulverdampf  die 
Begebenheiten  umhüllte,  als  er  sie  beschrieb. 

Auch  das  Leben  seines  Freundes  und  Gönners  des  Car- 
dinais Consalvi  hat  er  geschrieben.  Die  schönen  Sammlungen, 
die  er  anlegte,  sind  schon  oben  erwähnt. 

Ein  solcher  Freund  und  Beförderer  der  Künste  fehlte  da- 
mals in  Berlin,  und  da  Bartholdy  mit  der  Barbarei,  die  dort 
für  die  Kunst  herrschte,  nur  allzu  Becht  hatte,  so  waren  die 
berliner  Künstler  eben  auf  die  jämmerlichen  Subsistenzmittel 
angewiesen,  denen  sie  Bartholdy  in  Rom,  soweit  an  ihm  lag, 
enthoben  hatte  —  hauptsächlich  auf  „miserable  Buchhändler- 
zeichnungen."  —  So  wie  jetzt  die  Volkskalender,  waren  da- 
mals die  Taschenbücher  an  der  Tagesordnung,  und  seine  Ar- 
beit für  diese  nahm  Hensel  eifrig  wieder  auf  und  lieferte  auch 
litterarische  Beiträge.  Endlich  aber  sollte  sein  Fleiss  belohnt 
werden;  jene  Lalla-Rookh -Zeichnungen  machten  ihn  allgemei- 
ner bekannt,  und  er  erhielt  von  der  preussischen  Regierung 
ein  Stipendium  nach  Rom  und  zugleich  den  Auftrag,  die  Trans- 
figui-ation  von  Raphael  in  der  Grösse  des  Originals  zu  kopiren. 
Diese  Reise  wurde  für  seine  künstlerische  Entwickelung  ein 
entscheidender  Wendepunkt 

Glücklicherweise  war  aber  sein  Deutschthum,  die  ganze 
Richtung  seines  bürgerlichen  Lebens  vorher  unverrückbar  fest- 
gestellt durch  die  Liebe  zu  Fanny.  Eine  förmliche  Verlobung 
gestatteten  die   Eltern  aber  nicht  vor  seiner  Rückkehr.     Sie 


118  Wilhelm  Hensel. 

■wollten  ihr  Kind  vor  möglichen  Enttäuschungen  bewahren; 
man  kann  es  ihnen  nicht  verdenken,  wenn  sie  nach  kurzer 
Bekanntschaft  Hensel's  Charakterstärke  und  die  Tiefe  seiner 
Liebe  nicht  ganz  erkannten.  Namentlich  fürchteten  sie  einen 
Uebertritt  zum  Katholizismus,  und  die  Besorgniss  war  bei 
seiner  poetischen  Natur,  dem  Vorgang  seiner  Schwester  Luisa 
und  dem  Kreise  seiner  oben  erwähnten  nächsten  Freunde,  die 
allesammt  katholisch  waren  oder  mit  dem  Katholizismus  be- 
denklich liebäugelten,  nicht  so  ganz  ungerechtfertigt.  Nur 
Fanny  hatte  hierin,  wie  in  allem  Andern  festes  Vertrauen 
auf  ihn. 

So  musste  er  denn,  ohne  bestimmte  Zusage,  auf  lange 
Jahre  wegziehn ;  aber  grade  diese  Unbestimmtheit,  dies  Unab- 
geschlossene gab  dem  Verhältniss  eine  grosse  Frische  und 
einen  Reiz  mehr.  Vor  der  Heise  zeichnete  er  noch  die  ganze 
Familie  und  den  Kreis  der  Nächststehenden  und  nahm  mit 
diesen  Zeichnungen  gleichsam  geistig  seinen  Platz  in  dem 
Kreise  ein,  dem  er  ganz  anzugehören  wünschte.  Diese  Bilder 
und  die  Briefe  von  Lea  waren  in  der  ganzen  Zeit  seine  einzige 
Verbindung  mit  der  Familie,  denn  auch  emen  Briefwechsel  mit 
Fanny  hatte  die  gestrenge  Mutter  gänzlich  untersagt.  Ueber 
die  Gründe  dieses  Verbots  spricht  sie  sich  in  einem  Brief 
folgendermassen  aus: 

^ Im  Ernst,   lieber  Herr  Hensel,   können  Sie   mir 

wii'kKch  nicht  böse  sein,  weil  ich  keinen  Briefwechsel  zmschen 
Ihnen  und  Fanny  gestatten  will.  Haben  Sie  nur  die  Billigkeit, 
sich  einen  Moment  an  die  Stelle  einer  Mutter  zu  setzen  und 
Hir  Interesse  gegen  das  meine  zu  tauschen,  dann  wird  Ihnen 
meine  Weigerung  natürlich,  billig  und  vernünftig  erscheinen, 
statt  dass  Sie  sie  in  Ihrer  Heftigkeit  mit  den  allerbarbarischsten 
Namen  belegen.  Aus  demselben  Grunde,  der  kein  Versprechen 
zuliess,  erkläre  ich  mich  fest  und  bestimmt  gegen  jede 
Korrespondenz.  Dass  ich  Sie  wahrhaft  schätze,  Ihnen  sogar 
herzlich  gut  bin,  wissen  Sie;  ebenso  dass  ich  gegen  Ihre 
Person  nichts  einwende:  meine  Gründe,  mich  bis  jetzt  nicht 
für  Sie  bestimmen  zu  können,  sind:  die  Ungleichheit  des  Alters 
und  das  Ungewisse  Ihrer  Lage.    Ein  Mann  darf   nicht  daran 


Briefe  von  Lea  Mendelssohn.  119 

denken,  sich  zu  verheirathen,  bis  seine  Verhältnisse  einiger- 
massen  gesichert  sind,  wenigstens  darf  er  die  Eltern  des 
Mädchens  nicht  schelten,  welche,  da  sie  Erfahrung,  Vernunft 
und  kaltes  Blut  haben,  für  ihn  und  sie  zu  überlegen  von  der 
Natur  bestimmt  sind.  Der  isolirte  Künstler  ist  ein  glückliches 
Wesen,  alle  Zirkel  stehn  ihm  offen,  Hofgunst  ermuntert  ihn, 
die  kleinen  Sorgen  des  mühseligen  Lebens  schwinden;  heiter 
und  leicht  übersteigt  er  die  Klippen,  welche  Unterschiede  der 
Stände  in  der  Welt  aufgethürmt  haben;  er  arbeitet,  was  und 
v\deviel  er  will,  sucht  seine  Lieblingsgegenstände  in  der  Kunst 
auf  und  schwärmt,  das  seligste,  heiterste  Wesen  der  Schöpfung, 
poetisch  in  andere  Sphären  versetzt,  einher !  Sobald  Familien- 
und  Brodsorgen  sich  seiner  bemächtigen,  schwindet  all'  der 
magische  Zauber;  er  muss  arbeiten,  um  die  Seinigen  zu  er- 
halten; das  ganze  liebliche  Colorit  ist  farblos  geworden!  — 
Ich  strebte  bei  Erziehung  meiner  Kinder  freilich  dahin,  sie 
einfach  und  prunklos  zu  gewöhnen,  um  sie  nicht  zu  zwingen, 
reich  heirathen  zu  müssen,  aber  eine  gesicherte  Existenz, 
ein  massiges,  doch  festes  Einkommen  sind  in  den  Augen  der 
Eltern  unerlässiiche  Bedingung  zum  sorglosen  Leben,  und 
wenn  mein  Mann  auch  jedem  seiner  Kinder  eine  hübsche  Bei- 
steuer geben  kann,  so  ist  er  nicht  reich  genug,  das  ganze 
Schicksal  eines  Jeden  von  ihnen  festzustellen.  —  Sie  beginnen 
Ihre  Laufbahn  und  zwar  unter  schönen  Aussichten ;  lassen  Sie 
diese  verwirklicht  werden,  benutzen  Sie  Zeit  und  Gunst  mög- 
lichst, und  seien  Sie  versichert,  dass  wir  Ihnen  nicht  entgegen 
sein  werden,  sobald  Sie  uns  nach  beendeten  Studien  über  Ihre 
äussere  Lage  beruhigen  und  sich  genügend  ausweisen  können. 
Schelten  Sie  mich  vorzüglich  nicht  als  eigennützig  und  geizig, 
lieber  gelinder  Wüthikus!  Sonst  muss  ich  Sie  erinnern,  dass 
ich  meinen  Mann  geheirathet  habe,  ehe  er  einen  Pfennig  be- 
sass.  Aber  er  hatte  ein  sicheres,  obwohl  sehr  massiges  Ein- 
kommen bei  Fould  in  Paris  und  ich  vnisste,  dass  er  mein  ihm 
zugebrachtes  Vermögen  würde  geltend  machen  können.  Der 
Ehrgeiz  meiner  Mutter  war  aber  nicht  zufrieden,  dass  ich  die 
Frau  eines  Commis  werden  sollte,  und  Mendelssohn  musste 
desshalb  Associe  seines  Bruders  werden,   von  welcher  Epoche 


120  Wilhelm  Hensel. 

sich  Gottlob!  beider  Prosperität  hersclu'eibt.  —  Fanny  ist 
sehr  jung  und  dem  Himmel  sei  Dank !  bis  jetzt  völlig  harmlos 
und  ohne  Leidenschaft.  Sie  sollen  sie  durchaus  nicht  in  jene 
verzehi^ende  Empfindung  reissen  wollen  und  sie  durch  verliebte 
Briefe  in  eine  Stimmung  schi^auben,  die  ihr  ganz  fremd  ist 
und  die  sie  auf  mehrere  Jahre  sehnsüchtig,  schmachtend,  ver- 
zehrend machen  würde,  indess  sie  jetzt  blühend,  gesund,  heiter 
und  frei  vor  mir  steht." 

Lea  hielt  ihr  Wort  und  schrieb  fleissig;  freilich  ein  un- 
genügender Ersatz  für  das,  was  Hensel  sich  wünschte.  Aber 
er  wusste  sich  zu  helfen;  er  verlieh  seiner  Kunst  Worte,  um 
sich  mit  der  zu  unterhalten,  der  er  nicht  schreiben  durfte. 
Die  reizenden  Zeichnungen  sind  noch  vorhanden,  die  er  nach  Berlin 
schickte;  in  allen  kehren  die  ideaUsirten,  in  poetischem  Licht 
und  Gewand  dargestellten  Figuren  des  Mendelssohn'schen 
Kreises  wieder,  in  allen  spielt  Fanny  die  Hauptrolle.  Solche 
Huldigung  war  wohl  unwiderstehlicher  als  der  beredteste  Brief. 
Aber  auch  zu  dem  Mutterherzen  war  damit  der  richtige  Weg 
gefunden,  wie  zwei  Briefstellea  beweisen  mögen: 

^ Lassen  Sie  mich  zuerst  Dinen  füi'  das  ^\lllkommene 

Geschenk  der  Stammbuchzeichnung  den  längst  schuldigen,  doch 
nicht  minder  herzlichen  Dank  aussprechen.  Ich  kann  Thnen 
nicht  sagen,  wie  sehr  die  ausnehmende  Schönheit  der  ausge- 
führten Zeichnung  und  die  feine  zarte  Idee  derselben  uns  über- 
rascht und  gerühi't  hat.  Eine  vergeistigte,  ä  la  Hensel  ver- 
schönerte Aehnlichkeit  mit  meinen  vier  Kindern  ist  dem  Auge 
der  Eltern  nicht  entgangen.  Indessen  haben  sie  sich  seit  Ihrer 
Abwesenheit  so  verändert  und  vergröbert,  dass  jene  idealistische 
Zartheit  nur  iu  der  Erinnerung  noch  gleichen  kann,  wiewohl 
Schadow's  scharfer,  für  Aehnlichkeit  unübertrefflicher  Blick  das 
Original  des  Orgelspielers  gleich  entdeckte.  Ich  habe  nicht 
allein  von  Ihnen,  sondern  von  Niemandem  etwas  Zierlicheres, 
Sauberes,  Anmuthigeres,  Vollendeteres,  Ausgeführteres  in  dieser 
Gattung  gesehen.  Die  Lieblichkeit  der  Gruppe,  die  dem  Ernst 
vermählte  Grazie,  der  holde  Kindesausdruck  jedes  Kopfes,  dem 
doch  soviel  Denkendes  zugesellt  ist,  die  Anordnung  der  vier 
Engelein,  über  die  eine  wahrhaft  Eaphaelische  Cäciüe  wacht. 


Briefe  Ton  Lea  Mendelssohn.  121 

alles  beweist  zu  meiner  Freude  aufs  Neue,  dass  Sie  sich  den 
ersten,  reinsten  aller  Künstler  zum  Ideal  ausersehen.  — " 

Berlin,  6.  März  1826. 
„Den  besten  Dank  für  das  beste,  reizendste  Bildchen! 
die  Köpfe  der  Muse  und  der  Sphinx  sind  so  ausdrucksvoll,  als 
man  es  in  so  kleinem  Eaume  nicht  ausführbar  glauben  sollte. 
Wir  sind  aber  sämmtlich  zu  dumm,  den  verborgenen  Sinn  des 
Räthsels  zu  entziffern,  obwohl  jede  Person  und  jedes  Attribut 
vollkommen  deutlich  erscheint.  Kolorit,  Gruppi  ng,  Anordnung 
sind  höchst  anmuthig  und  graciös.  Dass  Sie  meinem  Liebling 
Eaphael  stets  nachstreben,  sehe  ich  wieder  daran,  und  be- 
wundere die  Tiefe  der  dunkeln  Augen,  die  sich  trotz  des  sehr 
kleinen  Raumes  offenbart.  Herzlich  wünschte  ich  aber,  dass 
Sie  Ihre  Zeit  nicht  durch  so  viele  kleine  Arbeiten  zersplitterten. 
Doch,  Sie  müssen  am  besten  beurtheilen,  wie  die  Eintheilung 
und  Fortsetzung  des  Angefangenen  am  füglichsten  zu  bewerk- 
stelligen sei  und  welche  Ruhepunkte  der  Künstler  sich  in  den 
Zwischenräumen  zu  gönnen  habe.  — 

Vielen,  vielen  Dank  auch  für  alle  Mühe  beim  Ordnen  der 
Bartholdy'schen  Sammlungen.  *)  Wäre  dies  Chaos  nur  erst 
entwirrt!  der  Bericht  über  das  Ablösen  der  Fresken  ist  sehr 
interessant.  Aus  vielen  Gründen  werden  wir  aber  keinen  Ge- 
brauch davon  machen.  Die  Kosten  wären  für  uns  nicht  allein 
bei  Weitem  zu  bedeutend  für  eine  Liebhaberei,  aber  die  Schwie- 
rigkeit, derart  grosse  Bilder  zu  placiren,  muss  auch  berück- 
sichtigt werden  und,  unter  uns  gesagt,  so  interessant  die 
Fresken  als  Versuche  und  Erstlingsblüthen  sein  mögen,  bleibt 
doch  die  Frage,  ob  sie  den  Aufwand  von  Geld  und  Mühe  ver- 
dienten. Kui'z,  lassen  Sie  uns  nichts  mehr  davon  erwähnen, 
ebensowenig  als  von  Frescobildem  in  unserem  Hause  hier. 
Wenn  ich  auch  Ihre  gütige  Absicht  mit  Dank  erkenne,  so  müs- 
sen Sie  doch  einsehen,  dass  das  Genre  solcher  kostbaren  und 
zeitraubenden  Ausschmückungen  schlechterdings  nicht  für  ein 
Bürgerhaus  passt;  zuerst   müssten   wir  jahrelang  auf  den  Ge- 


*)  ßartholdy  war  kurz  vorher  gestorben. 


122  Wilhelm  Hensel. 

nuss  eines  solchen  Zimmer  verzicliten,  und  wenn  Sie  eine  kleine 
Vorstellung  von  der  Unruhe,  dem  Schmutz,  dem  Fracas  und 
den  ungeheuren  Kosten  hätten,  die  das  leider  viel  zu  grosse 
Haus*)uns  noch  täglich  verursacht  und  bis  spät  in  den  Som- 
mer hinein  machen  wird,  so  würden  Sie  meinen  Schauder  bei 
dem  blossen  Gedanken  an  neues  Abreiben  der  Wände,  an  Kalk, 
Gerüste  u.  s.  w.  begreifen.  Dazu  finde  ich  in  jetzigen  Zeiten, 
wo  alles  Eigenthum  flüchtig  ist  und  höchst  selten  auf  die 
zweite  Generation  gelangt,  sich  etwas  Kostbares  anmauern  und 
dadurch  unbev>^glich  machen  zu  lassen,  einen  wirklich  unver- 
antwortlichen Eingriff  in  die  Rechte  der  Nachkommen.  Was 
meinem  Bruder  als  TJnverheirathetem  und  im  Lande  der  Künste 
Lebendem  wohl  anstand,  wäre  strafwürdig  an  meiner  Stelle, 
die  keines  ihrer  vier  Kinder  versorgt  weiss.  Wir  leben  auf  ei- 
nem so  liberalen  Fusse  und  mein  Mann  hat  eme  so  grosse 
Freude  am  Weggeben,  dass  man  uns  unstreitig  für  viel  rei- 
cher hält,  als  wir  siud. 

So  viel  Verdiaiss  und  Unruhe  mir  nun  auch  der  Besitz 
unseres  so  äusserst  kostspieligen  Grundstücks  verursachte,  so 
ist  es  doch  vielleicht  der  Summe,  die  mein  Mann  hineingesteckt 
hat  und  die  sich  weit  höher  belief  als  wir  geglaubt,  meisten- 
theils  zuzuschreiben,  dass  sein  Verlust  in  der  jetzigen  schreck- 
lichen Zeit  nicht  noch  bedeutender  geworden.  Hier  allein  sind 
18  Häuser  gefallen,  worunter  die  festgegründetsten,  in  Leip- 
zig der  berühmte  Eeichenbach,  in  London  der  auf  viele  Mil- 
lionen geschätzte  Goldschmidt.  Bekannte  von  uns  sitzen  im 
Gefängniss,  andere  haben  sich  das  Leben  genommen;  die  Zer- 
störung, Muthlosigkeit,  der  gegenwärtige  Euin  und  die  trübe 
Aussicht  für  die  Zukunft  sind  nicht  bange  genug  zu  schildern. 
Eothschild's  Wuth  nach  ungeheuren  Geschäften  wird  es  haupt- 
sächlich zugeschrieben,  dass  der  Massstab  in  der  handehiden 
W^elt  sich  riesenmässig  gesteigert  hat  und,  wie  alles  auf  die 

höchste  Spitze  Gestellte,  endlich  sinken  musste." 

Hensel  benutzte  seine  Zeit  in  Italien,  von  der  er  den  über- 
wiegendsten Theil  in  Eom  zubrachte,  vortrefflich.    Vor  allen 
Dingen  war  die  Copie  der  Transfiguration  eine  nicht  hoch  ge- 
nug zu  schätzende  Schule  für  den  Maler.    Die  Arbeit  an  der 
*)  Leipzigerstrasse  3.    S.  weiter  unten  S.  139.  ff. 


Bückkehr  nach  Deutschland.  123 

Copie  nahm  nahezu  4  Jahre  in  Anspruch;  sie  begann  mit  ei- 
ner gründlichen  Eeinigung  des  Originals,  bei  der  eine  Masse 
unter  einer  Kruste  von  jahrhundertaltem  Schmutz  versteckt 
gewesener  Details  zum  Vorschein  kamen.  Das  Bild  hat  im 
Eaphaelsaal  in  Sanssouci  seine  Stelle  gefunden. 

Ausserdem  beschäftigte  ihn  ein  grosses  eigenes  Bild  „Chris- 
tus und  die  Samariterin",  das  in  den  Besitz  des  Königs  von 
Preussen  überging. 

Nach  fünfjälirigem  Aufenthalt  verUess  Hensel  Italien,  das 
ihm  trotz  seiner  Sehnsucht  nach  Deutschland  sehr  lieb  gewor- 
den war,  und  das  er  stets  als  sein  zweites  Vaterland  betrach- 
tete. In  einem  kleinen  zweirädrigen  Wägelchen,  wie  man  es 
in  Italien  zu  schnellen  Reisen  brauchte,  eilte  er,  ohne  Unter- 
brechung Tag  und  Nacht  fahrend,  über  die  Alpen,  dann  auf 
die  schnellste  Weise  nach  Berlin.  Er  wurde  belohnt;  Fanny 
war  noch  frei;  auch  sie  hatte  ereignissreiche,  für  ihre  Ent- 
wickelung  wichtige  Jahre  erlebt. 

Wir  verlassen  hier  den  Lebenslauf  Hensels  dessen  Fort- 
setzung sich  weiterhin  dem  der  Familie  Mendelssohn  Bartholdy 
anschüessen  wird. 


Die  Schweizer  Reise. 


Am  6.  Juli  1822  mitemalim  Abraham  M.  B.  mit  der  gan- 
zen Familie  eine  Reise  nach  der  Schweiz.  Die  Gesellschaft 
bestand  aus  den  Eltern,  den  4  Kindern  im  Alter  von  16,  13, 
11  und  9  Jahren,  dem  Hauslehrer  Heyse,  einem  Dr.  Neuburg, 
nebst  einigen  Dienstboten.  In  Frankfurt  a.  M.  gesellten  sich 
noch  zwei  sehr  geistvolle  muntere  junge  Mädchen  hinzu  Marianne 
und  Julie  Saaling  die  nachherige  Frau  Heyse's.  Eine  solche 
Reise  war  damals  etwas  ganz  Aussergewöhnliches.  Eine  Reüie 
sehr  ausführlicher  Briefe  von  Fanny  an  eine  Freundin  gerich- 
tet, schildert  uns  die  Erlebnisse  auf  das  Anschaulichste.  Gleich 
am  ersten  Reisetage  —  von  Berlin  bis  Brandenbrn^g  —  fiel 
ein  kleines  Reiseabenteuer  vor:  Felix  wurde  in  Potsdam  ver- 
gessen. In  jedem  Wagen  glaubte  man  bei  der  Abfahrt,  er  be- 
finde sich  in  dem  andern  und  erst  auf  der  ersten  Station  hinter 
Potsdam,  Grosskreuz,  3  starke  Meilen  entfernt,  bemerkte  man 
seine  Abwesenheit.  Der  Hauslehrer  fuhr  sogleich  zurück  und 
die  Gesellschaft  hatte  sich  auf  4—5  Stunden  Aufenthalt  gefasst  ge- 
macht, iudess  schon  nach  Verlauf  einer  Stunde  kam  Heyse  mit 
dem  verlorenen  Sohn  wieder  an:  er  war  in  Potsdam  gerade 
gekommen,  als  die  Wagen  abgefahren  waren,  und  lief  sogleich 
nach,  auf  der  Chaussee  lange  zwar  den  Staub  der  Wagen  im 
Auge  behaltend,  aber  nicht  im  Stande,  sie  zu  erreichen.  Indes- 
sen wanderte  er  immer  fort  und  hatte  sich  vorgenommen,  nach 
Brandenburg  zu  folgen.    Ein  Bauernmädchen    gesellte  sich  zu 


Frankfurt  a.  M.  125 

ihm,  sie  brachen  sich  starke  Stücke  ab  und  gingen  getrost  wei- 
ter, bis  Heyse  eine  Meile  von  Grosskrenz  Felix  fand.  Sein  gu- 
tes und  entschlossenes  Benehmen  (vielleicht  auch  die  unerwartet 
frühe  Erlösung  vom  Warten)  ersparte  ihm  den  zugedachten 
Verweis.  Die  zweite  Tagereise  —  sie  war  sehr  ermüdend  — 
ging  bis  Magdeburg. 

Nach  einem  Abstecher  in  den  Harz  reisten  sie  über  Göt- 
tingen, wo  Eebecka  36  Jahr  später  ihr  Leben  beschliessen 
sollte  imd  wo  die  Bekanntschaft  Blumenbach's  gemacht  wurde, 
nach  Kassel,  wo  mit  Spohr  ein  lebhafter  musikalischer  Verkehr 
stattfand.  In  Frankfurt  „war  grosse  Conferenz  von  Vater, 
Dr.  Neuburg  und  H.  Heyse  wegen  des  Weges,  der  zu  nehmen 
sei.  Noch  habe  ich  nichts  erfahren,  aber  sie  behaupten,  nie 
sei  eine  Eeise  so  eingerichtet  worden." 

In  Frankfurt  gab  ihnen  Aloys  Schmitt  eine  Musik,  die 
Fanny  folgendermassen  beschreibt:  „Mit  welcher  Sehnsucht 
dachte  ich  an  Henning,  an  Rietz,  an  Kelch,  Eysold  etc.  Du 
glaubst  nicht,  wie  die  lieben  Leute  uns  die  Ohren  voUgerakelt 
haben.  Da  kam  zuerst  ein  VioUnspieler  aus  Paris,  Femy, 
Schüler  von  Baillot,  der  einen  grossen  Euf  hat.  Aufrichtig 
gesagt,  gefiel  er  mir  nicht  im  geringsten.  AUes  weich,  ver- 
schwommen und  verwischt,  keinen  Strich,  keinen  Ton,  keine 
Kraft.  Felix  war  meiner  Meinung.  Dann  begleiteten  sie  dem 
armen  FeUx  sein  Quartett.  Mein  einziges  Vergnügen  dabei 
war,  Physiognomik  zu  studiren.  Dann  musste  ich  etwas  spie- 
len —  und  nun  heiss  mich  nicht  reden,  heiss  mich  schweigen. 
Das  ganze  Zimmer  voU  wildfremder  Menschen,  Schüler  und 
Freunde  von  Schmitt,  die  Begleitung  sehr  schlecht,  ich  zitternd 
an  jeder  Fiber,  warf  so  komplett  um,  dass  ich  vor  Aerger 
mich  und  die  Andern  hätte  prügehi  mögen.  Mich  vor  zwanzig 
Klavierspielern  so  zu  blamiren!  Ich  gehe  darüber  hinweg, 
sonst  erhitze  ich  mich  wieder.  Dann  spielte  Femy  noch  ein 
Quartett  und  zuletzt  Schmitt's  jüngerer  Bruder  Variationen  von 
seiner  Komposition.  Schmitt  hat  eine  gar  nette  Baumschule 
um  sich:  der  jüngere  Eliot  aus  Strelitz  war  auch  hier  und 
Ferdinand  Hiller,  sein  Lieblingsschüler,  ein  schöner  Knabe  von 
10  Jahren,  mit  freiem  und  offenem  Aeussern." 


126  Die  Schweizer  Reise. 

Von  Frankfurt  zog  nun  die  ganze  lustige  Karavane  dem 
Süden  zu,  über  Darmstadt  und  Stuttgart  nach  Schaifhausen. 
Die  beiden  Saaling'schen  Mädchen,  übersprudelnd  von  Witz  und 
Laune,  trugen  nicht  wenig  zum  Aufrechthalten  des  unumgäng- 
lichen guten  Reisehumors  bei.  „Das  Lachen  nimmt  kein  Ende", 
schreibt  Fanny,  „und  namentlich  des  Abends  beim  Schlaf engehn 
(ich  schlafe  immer  mit  ihnen)  siud  sie  ganz  einzig.  Marianne 
hat  überall  Bekannte  und  wii'd,  wo  sie  hinkommt,  mit  Ent- 
zücken aufgenommen.  —  Eben  sitzen  wir  alle  beisammen  und 
schreiben;  es  kann  im  Bureau  des  Staatskanzlers  nicht  fleissi- 
ger  zugehn.  Du  glaubst  nicht,  wie  es  bei  uns  aussieht:  Kraut 
und  Rüben  sind  ein  Putzzimmer  dagegen.  Wir  amüsiren  uns 
über  alle  Maassen,  und  wenn  ich  es  Dir  so  zerstreut  und  un- 
zusammenhängend schreibe,  so  beschuldige  nicht  mich.  Es  ist 
ein  schrecklicher  Spektakel  hier  im  Zimmer."  — 

Am  Gotthard  wurde  umgekehrt  und  die  stillen  Hoffnungen 
von  Fanny  auf  einen  Blick  nach  Italien  waren  für  diesmal 
gestört.     Sie  schreibt: 

„Ich  habe  einen  Tag  erlebt,  Marianne,*)  einen  Tag,  der  ewig 
unauslöschlich  in  meinem  Innern  steht,  dessen  Andenken  für 
lange  hinaus  auf  mich  wirken  wird.  In  Gottes  grösste  Natur 
bin  ich  getreten,  das  Herz  hat  mir  gebebt  vor  Schauer  und 
Ehrfurcht,  und  als  ich  wieder  beruhigt,  das  menschlich 
Schönste,  das  anmuthig  Lieblichste  erbückte,  als  ich  an  der 
Grenze  von  Italien  stehe,  da  ruft  mein  Schicksal:  bis  da- 
hin und  nicht  weiter.  Nie,  nie  habe  ich  solche  Empfindimg 
gehabt,  inniger  Dank  gegen  Gott,  der  mich  diesen  Tag  hatte 
erleben  lassen,  Sehnsucht  nach  dem,  was  mir  die  Berge  ver- 
hüllten, feste  Vorsätze,  die  ich  in  meinem  Innern  fasste,  aUe 
diese  Gefühle  vereinigt  strömten  aus  in  heissen,  wohlthätigen 
Thränen.  Gestern  Abend  wollte  ich  nicht  an  Dich  schreiben, 
Du  siehst  mich  nicht  gern  allzu  heftig  gestimmt;  ich  war  exal- 
tii-t,  aber  ich  behielt's  für  mich,  ich  wollte  warten,  bis  ich  ru- 
higer wäre,  aber  noch  jetzt,   bei  der  Errinnerung  an  gestern 


*)  Marianne  Mendelssohn,  die  Gattin  von  Alexander  Mendels- 
sohn, dem  Sohn  von  Joseph. 


Gotthard.  127 

und  heute  früh,  wird  mir  das  Herz  weit  und  gross,  verlässt 
mich  alle  Euhe.  —  Ich  will  versuchen,  Dir  in  möglichster 
Ordnung  zu  erzählen,  was  ich  gesehen,  was  ich  erlebt. 

Gestern  früh  um  7  Uhr  fuhren  wir  bei  etwas  bewölktem 
Himmel  von  Altdorf  ab,  dem  klaren  Himmel  zu,  nach  Süden. 
Bürglen  und  das  Schächenthal  links  lassend,  kamen  wir  in's 
Eeussthal,  welches  hier  mit  hohen  Felsen  umschlossen,  aber 
sehr  breit  und  überaus  fruchtbar  ist.  Nussbäume,  andre 
Fruchtbäume  und  Tannen  von  ausserordentlicher  Schönheit. 
Man  fährt  an  einem  Thurm  Gessler's  und  der  alten  Veste 
Zwing  Uri  vorbei.  Links  die  Surenengletscher,  Windgalle, 
Bristenstock  und  andere  Schneeberge  und  Gletscher.  Auf  den 
vorderen  Bergen  herrliche  Alpen  sichtbar.  So,  in  mannig- 
faltiger wechselnder  Umgebung,  gelangt  man  nach  Amstäg, 
3  Stunden  von  Altdorf,  am  Fuss  des  Gotthard.  Hier  be- 
ginnt die  neue  Gotthardstrasse ,  welche  diesseits  2  Stunden 
weit  bis  Wasen  fahrbar  und  auf  der  Tessiner  Seite  fertig  ist. 
Die  Strasse  ist  bald  rechts  bald  links  von  der  Reuss  in  den 
Felsen  gesprengt,  trefflich  gebaut  und  durch  Mauern  gesichert, 
üeber  die  Abgründe  wölben  sich  kühne  Brückenbogen.  Ein 
Riesenwerk  und  ewiges  Denkmal  für  die  Kantone  Uri  und 
Tessin.  Es  ist  erhebend,  zu  sehn,  wie  menschliche  Beharr- 
lichkeit den  Willen  der  Natur  beugen  kann.  Hinter  Wasen 
hört  allmälig  die  Vegetation  auf,  das  Thal  verengt  sich  mehr 
und  mehr,  immer  schroffer  steigen  die  Felsen,  immer  wilder 
braust  die  Reuss.  Bei  Göschenen,  dem  einzigen  Dorf  auf  dem 
ganzen  Wege,  zeigt  sich  zur  Linken  der  Reuss,  der  furchtbare 
Göschener  Alpgletscher;  er  war  der  erste,  dem  wir  so  nahe 
traten.  —  Sobald  man  die  Schöllenen  erreicht,  verschwindet 
die  letzte  Spur  von  Leben  und  Nähe  der  Menschen.  Rings 
umher  siehst  Du  nichts  als  himmelhohe  Felsen,  zwischen 
denen  sich  die  Reuss  ihr  furchtbares  Bette  gebrochen  hat. 
Hier  verliert  sie  ganz  das  Ansehn  eines  Stromes,  sie  bildet 
einen  fortdauernden,  wüthenden  Wassersturz.  So  steigt  das 
Entsetzen  mit  jedem  Schritt,  bis  es  endlich  an  der  Teufels- 
brücke seinen  höchsten  Gipfel  erreicht.  Du  befindest  Dich  in 
einem  vollkommen  geschlossenen  Felskessel,  vor  Dir,  in  mehreren 


128  Die  Schweizer  Reise. 

Absätzen  herunterstürzend,  die  ungeheure  Wassermasse,  hoch 
darüber  wegführend  die  schmale,  aber  sichere  Brücke.  Der 
schneidende  Wind,  der  gegen  Abend  hier  weht  und  Gletscher- 
wind heisst,  die  hier  und  da  hervorblickenden  Schneespitzen, 
die  Dämmerung,  welche  in  diesem  Höllenthal  zu  herrschen 
begann,  jede  Umgebung  trug  bei,  den  Schrecken  zu  mehren. 
Wenig  aufwärts  von  der  Teufelsbrücke  ist  das  Urner  Loch, 
ein  Felsendurchgang  von  etwa  80  Fuss,  und  am  Ausgange 
dieses  Thores  blieb  ich  wie  versteinert  über  das  Wunder, 
welches  ich  erblickte.  Ausgebreitet  vor  meinen  Augen  ein 
liebliches  stilles  Thal  mit  den  üppigsten  Wiesenteppichen,  an 
beiden  Seiten  eingefasst  von  grünen  Hügeln,  einzelne  Hütten 
darüber  hingestreut,  im  Hintergründe  das  anmuthige  Dorf 
Andermatt  und  Ursern,  auf  der  Höhe  eine  Kapelle,  aus  der 
mir  die  stille  Abendglocke  entgegentönte,  rechts  der  Gotthard, 
dessen  Gipfel  sich  klar  in  der  blauen  Luft  zeichnete,  links 
der  St.  Annengletscher,  grünlich  glänzend  mit  einer  Fort- 
setzung von  Schneebergen.  Seitwärts  die  Furka  mit  ihrem 
Gletscher,  der  Gotthardgletscher  und  der  Crispalt,  aus  dem 
der  Ehein  entspringt.  Verschwunden  das  wilde  Tosen  des 
Stroms,  der  hier  schnell  aber  ruhig  über  den  Felsenboden 
gleitet,  verschwunden  jede  Spur  des  Entsetzens,  welches  mich 
noch  eben  umgab.  Rings  um  mich  her  Ruhe,  tiefer  Frieden, 
welcher  nie  aus  diesem  stillen  Thal  zu  weichen  scheint.  Es 
war  ein  unvergesslicher  Eindruck!  — 

Wir  gingen  noch  einige  hundert  Schritt  weit  über  die 
Wiesen,  um  den  Annen gletscher  besser  zu  betrachten,  die 
Kälte  nöthigte  uns  bald  zur  Rückkehr.  Die  einzigen  Kenn- 
zeichen einer  höheren  Luftregion  sind  eben  diese  kalte  Luft, 
die  man  einathmet,  und  der  Mangel  an  Vegetation.  Weniges 
Nadelholz  steht  in  der  Nähe  von  Andermatt,  sonst  ist  der 
Erdboden  nur  mit  üppigen  Wiesen  bedeckt.  Das  was  man 
nicht  sieht,  wirkt  nicht  weniger  heftig  auf  das  Gemüth,  als 
die  sichtbaren  Umgebungen,  —  die  Idee  des  Landes,  welches 
hinter  jenen  Gebirgen  beginnt,  ja  selbst  die  fühlbare  Nähe 
Italiens,  der  kleine  Umstand,  dass  die  Landleute  alle  in 
Italien  waren,  italiänisch   reden   und   den  Wanderer   mit  den 


St.  Gotthard.  129 

süssen  Lauten  der  lieblichen  Sprache  hegrüssen,  rührte  mich 
unendlich.  Wäre  ich  an  diesem  Tage  ein  junger  Bursche 
von  16  Jahren  gewesen,  bei  Gott!  ich  hätte  zu  kämpfen  ge- 
habt, um  keinen  dummen  Streich  zu  begehen.  Und  wenn  mich 
auf  der  einen  Seite  die  heftigste  Sehnsucht  nach  Italien  trieb, 
so  hatte  ich  auf  der  andern  den  grössten  Wunsch,  über  Furka 
und  Grimsel  nach  dem  Hasüthal  zu  gehen,  eine  Eeise,  die  wir 
leicht  hätten  machen  können,  wenn  wir  uns  vorher  darauf 
eingerichtet  hätten.  Den  ganzen  Tag  hatte  ich  die  Möglich- 
keit berechnet,  noch  Abends,  wenn  auch  allein  mit  Dominique*), 
auf  den  Gotthard  zu  steigen,  es  sind  nur  noch  3  Stunden  von 
IJrsernthal,  aber  es  war  nicht  möglich,  ich  musste  mich  be- 
scheiden. —  Abends,  allein  auf  meinem  Zimmer,  verlebte  ich 
eine  Stunde,  die  ich  nie  vergessen  werde.  —  Gestern  früh 
wurde  mir  der  Abschied  sehr  schwer.  Es  wollte  mir  garnicht 
in  den  Sinn,  das  liebliche  schöne  Thal  zu  verlassen,  wieder 
nördlich  zu  reisen,  wieder  in  die  schreckliche  Wildniss  zu  gehen 
und  das  betäubende  Geräusch  des  Stromes  zu  ertragen.  In  der 
Morgenbeleuchtung  war  das  Thal  unendlich  reizend,  die  kleine 
KapeUe  Mariahilf  war  schön  beleuchtet,  die  Matten  glänzten 
im  Thau,  die  Gletscher  waren  mit  grünlichem  Licht  überstrahlt, 
der  Gotthard  erhob  sein  Haupt  in  die  reine  Luft,  nichts  glich 
der  Ruhe  dieser  Morgenfeier,  ich  kann  Dir  nicht  sagen,  wie 
bewegt  ich  war:  und  nun  aU  dieser  holden  Anmuth  den  Rücken 
wendend,  wieder  durch  die  Schauerhöhle,  in  die  wilden  Schluchten. 
Allein  auch  diese  verloren  in  der  Morgenklarheit  von  ihren  Schreck- 
nissen, uns  wenigstens  imponirten  sie  lange  nicht  so,  wie  am 
Abend  vorher. 

Ich  ging  einen  grossen  Theil  des  Weges  ganz  allein,  mir 
still  überdenkend,  was  ich  gesehen  und  was  mir  das  innerste 
Gemüth  so  sehr  bewegt.  —  Von  fernher  vernahm  ich  die  Morgen- 
glocken aus  dem  Dorfe  Göschenen,  ihr  Klang  war  gar  feierlich 
und  schön  und  der  Gletscher  hinter  dem  Dorf  vom  hellsten 
Sonnenlicht  beschienen.  Ich  muss  einige  wunderschöne  Mädchen 
erwähnen,  mit  welchen  wir  uns  In  Wasen  unterhielten.  —  Wir 


*)  Der  Führer. 

Die  Familie  Mendelssolm.  L  9 


130  Die  Schweizer  Reise. 

fuhren  über  Bürglen  zu  Hause,  wo  wir  noch  einmal  Tell's  Ka- 
pelle und  den  alten,  mit  Epheu  bewachsenen  Thurm  besuchten 
und  uns  im  frischen  Schatten  der  Nussbäume  von  der  Hitze 
erholten.  Das  Thal  ist  auch  ungemein  schön  und  romantisch. 
Mit  Marianne,  H.  Heyse  und  Kebecka  ging  ich  dann  einen 
schönen  Fusspfad  nach  Altdorf  zurück."  — 

Ueber  Interlaken,  mit  den  Ausflügen  nach  der  Wengern- 
Alp  in's  Haslithal,  zum  Staubbach  meist  bei  schlechtem  Wetter, 
ging's  an  den  Genfer  See  nach  Vevey.  Hier  blitzte  noch  ein- 
mal die  Hoffnung  einer  Ueberschreitung  der  Alpen,  eines  Blickes 
nach  ItaUen  auf,  und  wieder  jubelt  Fanny  bei  dem  Gedanken 
aus  voUer  Seele: 

„Heut  schreibe  ich  Dir  wieder  in  einer  Art  von  Trunken- 
heit! Es  scheint  mir,  als  habe  ich  noch  nie  etwas  Schöneres 
gesehen,  als  diese  Gegend,  diesen  See.  Dazu  ist  heut  das  gött- 
lichste Wetter,  und  wenn  es  so  bleibt,  fahren  wir  übermorgen 
früh  nach  den  Borromäischen  Inseln.  Denke  Dir!  Nach  den 
Borromäischen  Inseln !  —  Ich  danke  dem  Himmel,  dass  da  die 
Grenze  ist,  denn  gingen  wir  weiter,  ich  glaube,  ich  hielte  es 
nicht  aus.  Zuviel  auf  einmal  für  mein  armes  Menschenherz. 
Wenn  der  Himmel  uns  ferner  gutes  Wetter  giebt,  so  machen 

wir  eine  Keise! Du  brauchst  nur  auf  der  Karte  unsern 

Weg  zu  verfolgen,  um  zu  sehen,  wie  wir  vom  See  ab  in's 
Wallis,  bei  Leuck  vorbei,  über  den  Simplon  nach  dem  Lago 
maggiore  gehen,  und  Du  wirst  begreifen,  dass  mir  zu  Muthe 
ist,  als  sollte  ich  auf  Wolken  in's  Paradies  getragen  werden. 
Ich  weiss  nicht  warum?  aber  ich  glaube  immer,  es  muss  uns 
auf  den  Inseln  irgend  etwas  Ausserordentliches,  Unerwartetes 
begegnen;  ich  bin  in  einer  grossen,  gespannten  Erwartung.  — 
Kaum  habe  ich  in  meiner  jetzigen  Stimmung  Muth  und  Lust, 
Dir  von  unserm  3  tägigen  Stadtaufenthalt  in  Bern  zu  sprechen, 
allein  der  Ordnung  wegen  muss  ich  dazu  zurückkehren,  zu  seiner 
Zeit  war  er  uns  auch  sehr  angenehm."  — 

Man  machte  noch  einen  Abstecher  in's  Chamouny,  dann 
aber  wurde  die  Rückreise  angetreten,  mit  längeren  Aufenthalten 
in  Frankfurt  a.  M.,  um  Schelble's  Bekanntschaft  zu  machen,  der 
den  Cäcilienverein  mit  Meisterschaft  leitete  und  wo  Felix  mit 


Besuch  bei  Göthe.  131 

Beifall  phantasirte,  und  in  Weimar,  um  die  Göthe'sche  Familie 
kennen  zu  lernen,  bei  der  Felix  so  freundliche  Aufnahme  während 
seines  Besuches  mit  Zelter  gefunden  hatte.  Nie  ermüdete  Göthe, 
Felix  zuzuhören,  wenn  er  am  Klavier  sass,  und  mit  dem  Vater 
unterhielt  er  sich  fast  nur  über  Felix.  Diesem  selbst  sagte  er 
eines  Tages,  als  er  sich  über  irgend  etwas  geärgert  hatte:  „Ich 
bin  Saul  und  Du  bist  mein  David,  wenn  ich  traurig  und  trübe 
bin,  so  komm  Du  zu  mir  und  erheitere  mich  durch  Dein  Saiten- 
spiel!" —  Eines  Abends  erbat  er  sich  von  Felix  eine  Fuge  von 
Bach,  welche  die  junge  Frau  v.  Göthe  ihm  bezeichnete.  Felix 
wusste  sie  nicht  auswendig,  nur  das  Thema  war  ihm  bekannt  und 
dies  führte  er  nun  in  einem  langen  fugirtenSatz  durch.  Göthe  war 
entzükt,  ging  zu  der  Mutter,  drückte  ihr  mit  vieler  Wärme  die 
Hände  und  rief  aus:  „Es  ist  ein  himmlischer,  kostbarer  Kjiabe! 
Schicken  Sie  mir  ihn  recht  bald  wieder,  dass  ich  mich  an  ihm  er- 
quicke.*—Felix  seinerseits  fühlte  wohl  den  ganzen Werth  einer  sol- 
chen Anerkennung;  obgleich  die  Damen  in  Weimar  sich  die  grösste 
Mühe  gaben,  ihn  zu  verhätscheln  und  ihm  zu  schmeicheln,  so  hatte 
er  doch  für  nichts  Sinn,  als  für  Göthe's  Liebe  und  Zufriedenheit. 

Solche  Erlebnisse  sind  in  dem  Alter,  in  dem  Fanny  und 
auch  schon  Felix  standen,  ausserordentliche  Bildungs-  und  Ent- 
wickelungsmittel.  „Die  Wirkungen  der  Reise",  schreibt  die 
erstere,  „äusserten  sich  bei  Felix  unverzüglich  nach  unserer 
Zurückknnft.  Er  war  bedeutend  grösser  und  stärker  geworden, 
Züge  und  Ausdruck  des  Gesichtes  hatten  sich  mit  unglaub- 
licher Schnelligkeit  entwickelt  und  die  veränderte  Haartracht 
(man  hatte  üim  seine  schönen  langen  Locken  abgeschnitten) 
trug  nicht  wenig  dazu  bei,  sein  Anselin  zu  entfremden.  Das 
schöne  Kindergesicht  war  verschwunden,  seine  Gestalt  hatte 
etwas  Männliches  gewonnen,  welches  ihn  auch  selir  gut  kleidete. 
Er  war  anders,  aber  nicht  weniger  schön  als  frülier."  — 

Das  grösste  Literesse  erregte  die  Eeise  bei  der  Tante 
Henriette  in  Paris.  Mit  ilirer  leidenschaftlichen  Natur  erfasst 
sie  den  Plan  und  begleitet  die  Reisenden  in  Gedanken  und  als 
gewiegte  Erzieherin  weiss  sie  zugleich  den  Werth  für  die  Ent- 
wickelung   der   Kinder   zu   schätzen.     Der  eine  Brief  ist  zu 

charakteristisch,  um  ilin  zu  übergehen: 

9* 


132  Die  Schweizer  Reise. 

„Liebste  Lea,  liebster  Bruder,  Kinder,  Freunde  —  ich 
möchte  nur  gleich  Eure  Dienerschaft  auch  zu  denen,  die  ich 
hegrüsse,  rechnen,  denn  Euer  Zug  durch  das  so  oft  gepriesene, 
nie  genug  gelobte  Land  macht  mir  eine  so  herzliche  Freude, 
dass  ich  Millionen  umschlingen  möchte.  Sie  aber,  liebste  Schwes- 
ter, liess  ich  mir  bei  dieser  AUerweltsumarmung  'pom^  la  lonne 
houche,  denn  ich  habe  Ihnen  auf  eine  ganz  besondere  Weise  zu 
danken.  Mehrere  Briefe  sind  mir  aus  Berlin  zugeschickt  wor- 
den, Briefe  an  Ihre  Mutter,  an  Tante  Levy,  an  Marianne  und 
diese  verspricht,  die  noch  fehlenden  nachzusenden.  Nicht  nur, 
weil  man  Ihre  Briefe  gleich  könnte  drucken  lassen,  liebe  ich 
sie,  das  wäre  das  Wenigste,  aber  weil  sie  ein  wirkliches  Band 
für  die  zerstreuten  Glieder  der  Familie  sind.  Von  Ihnen  geht 
die  Eegsamkeit  aus,  die  diese  (ich  meine  die  Mr.  Mendelssohn's 
in  der  Familie)  gemssermassen  zwingt,  sich  bei  aller  Liebe 
und  Freundschaft  nicht  ganz  zu  vergessen!  Dabei  sind  diese 
lieben  Briefe  ein  wahres  —  nicht  mehr  Panorama,  sondern  Dio- 
rama, ein  viel  vollkommeneres  Kunstwerk,  das  uns  die  Gegen- 
stände in  der  möglichsten  Wahrheit  mit  allen  Veränderungen 
an  Licht  und  Schatten,  wie  sie  das  wechselnde  Tageslicht  her- 
vorbringt, darstellt.  Wir  besitzen  solches  Kunstwerk  jetzt  in 
Paris:  eins  der  Gemälde  stellt  das  Sarnenthal  vor,  einen  See 
und  Gletscher  in  der  Ferne.  Mir  war's,  liebe  Lea,  als  müsste 
ich  Sie  am  Ufer  des  Sees  und  die  Uebrigen  auf  den  umliegen- 
den Bergen  erblicken.  Denn  wem\  der  wilde  Jäger  mit 
seinem  Heer  von  keiner  Euhe  wissen  wiU,  so  bleiben  Sie 
doch  gewiss  in  irgend  einem  freundlichen  Thale  imd  lassen 
sich's  von  den  liebenden  Kindern  erzählen,  wie  es  auf  jenen  Bergen 
aussieht.  Gehörte  ich  zu  Ihnen,  ich  bliebe  mit  Ihnen,  denn  ich  lobe, 
oder  weiss  vielmehr  nichts  an  den  Bergen  zu  loben,  als  dass  sie 
Thäler  bilden  —  ich  habe  nie  einen  bestiegen.  —  Nicht  wahr^ 
Liebe,  das  hätten  wir  uns  in  unserer  Wiege  beim  hohen  Ofen 
nicht  träumen  lassen,  dass  der  Schnee  auch  etwas  anderes  bil- 
den kann,  als  BaUen,  oder  wenn  es  hoch  kommt,  eine  manns- 
hohe Figur?  Und  wenn  wir  auch  später  Manches  gelesen  ha- 
ben, wie  verschwindet  das  vor  dem  Anblick  solcher  Schweizer- 
Gegend!  —  Wie  ganz   anders  wird  die  Seele  erfüllt,  erheitert 


Brief  von  Henriette.  133 

und  znm  lebendigsten  Dankgefiihl  erhöht  auf  jenem  gesegneten 
Boden,  in  jener  reinen  Luft  und  in  Gegenwart  der  grössten 
und  zugleich  der  lieblichsten  Naturscenen.  Ich  erinnere  mich 
in  diesem  Augenblick  nicht,  in  welcher  Gegend  der  Schweiz 
der  Besitzer  eines  schönen  Eigenthums  an  einer  Stelle,  von 
welcher  man  die  herrlichste  Aussicht  geniesst,  eine  Säule  mit 
der  Inschrift  hat  errichten  lassen:  ^Völker  lobet  den  Herrn!" 
—  Mir  schien  das  vortrefflich.  — 

Ich  liebe  Sie  wahrlich  noch  besser.  Hebe  Lea,  nun  Sie  über 
diese  Eeise  Ihre  Abneigung  vor  dem  Eeisen  abgelegt  haben. 
Es  ist  aber  auch  nicht  möglich,  sich  etwas  Angenehmeres  zu 
denken,  als  Eure  Einrichtung  und  Gesellschaft.  Nicht  wie  Zi- 
geuner, aber  ^^1e  Fürsten,  die  zugleich  Dichter  und  Künstler 
wären,  reist  IluM  —  Wie  werdet  Ihr  das  wohlgeordnete,  reiche 
Berner  Gebiet,  wie  den  dunkelblauen  Genfer  See  mit  seiner 
herrlichen  Umgebung  gefunden  haben?  Ich  hoffe,  Sie  begnügen 
sich,  Uebe  Lea,  den  Mont-Blanc  mit  Bu'er  Lorgnette  aus  ei- 
nem Fenster  des  Secheron  zu  bewnindem.  Möchtet  Ihr  doch 
meiner  Meinung  sein  und  die  deutsche  Schweiz  vorziehen!  Ich 
mag  die  hohe  Einfalt  jener  Gegenden  viel  lieber.  Sie  haben 
doch  wohl  den  Thuner  See  und  Interlaken  gesehen?  — 

Es  war  mir  sehr  angenehm,  in  Ihi^em  Briefe  an  Ihre  Mut- 
ter Manches  über  Beckchen  zu  lesen.  Fanny  Sebastian!  und 
ich,  wii'  wollten  eben  Yorwüi^fe  an  Sie  richten,  dass  Sie  der 
Kleinen  nie  erwähnen. 

Nun,  mein  Felix!  Du  bist  ja  ein  rechter  Held!  Deine  Wan- 
derung von  Potsdam  nach  Grosskreuz  hat  mich  recht  gerührt! 
Indessen  hoffe  ich,  dass  Du  nach  überstandener  Probe  Deines 
selbstständigen  Muthes  und  Deiner  kräftigen  Natur  Dich  dennoch 
an  ii'gend  einem  Eockzipfel  hältst  und  Dich  und  die  Deinigen 
nicht  mehr  beunruliigst.  Ich  empfehle  Dir  ganz  besonders  ei- 
nen gewissen  Kuchenbäcker  in  Bern,  der  hinter  der  Haupt- 
kii'che  wohnt.  Es  ist  kein  Laden,  sondern  ein  Zimmer  im 
untern  Geschoss;  Du  wii'st  mir  für  diese  Empfehlung  danken, 
der  Mann  komponirt  auf  seine  Weise  herrliche  Werke.  Kaufe 
Dir  die  Taschen  voll  und  verzehre  sie  an  einem  hellen  Morgen 
auf  der  Plateform,  wie  sie's  in  Bern  nennen,  im  Angesicht  der 


134  Die  Schweizer  Eeise. 

herrlichen  Schneegebirge  des  Oberlandes  und  freue  Dich,  wie 
wir  alle,  die  Dich  lieben,  Deines  Daseins.  Gott  erhalte  Dich, 
mein  brauner  Felix!  — 

Du,  meine  liebste  Fanny,  solltest  wohl  einen  eigenen  Brief 
haben,  der  Deine  hätte  es  verdient.  Du  hast  aber  Besseres  zu 
thun,  als  mich  zu  lesen.  Wie  musst  Du's  Deiner  lieben  Mut- 
ter danken,  dass  sie  sich  zu  dieser  Reise  entschlossen,  und  wie 
den  Vater  lieben  dafür,  dass  er  sie  veranstaltet.  Sei  doch  nur 
recht  froh  und  glücklich,  und  gelingt  es  Dir  nicht,  eigentlich 
lustig  zu  sein,  so  tröste  Dich  mit  Göthe's  Ausspruch:  „Auch 
das  Leben  bedarf  dunkler  Blätter  im  Kranz."  Geniesse  recht 
froh  und  unbefangen,  ohne  Dich  zu  sehr  zu  quälen,  ob  Du  es 
auch  gehörig  benutzest.  Bei  einem  so  trefflich  vorbereiteten 
Sinn,  wie  der  Deine,  kommt  das  eigentliche  Resultat  einer 
Reise  später,  wie  die  Wirkung  einer  Badekur.  —  Gott  erhalte 
Dich  gesund  und  froh. 

Wie  gern  hätte  ich  Dir  für  diese  Reise  so  ein  lächerliches 
Kleid  geschickt,  wie  man  es  diesen  Sommer  in  Paris  trägt.  Es 
sind  sehr  weite,  faltige  Fuhrmannshemden,  Blouse  genannt,  die 
grade  so  me  jene  oben  am  Halse  und  auf  den  Schultern  mit 
bunten  Stickereien  verziert  sind  und  gar  keine  Form  haben, 
sondern  von  einem  ledernen  Gurt  unter  der  Brust  festgehalten 
werden.  Du  hast  Dich  mir  aber  als  so  korpulent  geschildert, 
dass.  ich  nicht  den  Muth  hatte.  Fanny  Sebastian!  trägt  dieses 
IJmstandes  wegen  auch  kein  solches  Ding,  denn  bloss  Kinder 
oder  Nymphen -Gestalten  sehen  erträglich  darin  aus. 

Habe  ich  doch  über  allem  Schwatzen  keinen  Raum,  Dich, 
mein  dreimal  glücklicher  Altvater,  auch  nur  zu  begrüssen. 
Nun  bist  Du  ja  recht  in  Deinem  Element,  wie  Abraham  der 
Erste  an  der  Spitze  Deiner  zahlreichen  Familie  durch  das  Land 
ziehend!  Und  wenn  ich  nun  denke,  dass  Du  auch  gar  keinen 
Grund  zu  irgend  einer  Beunruhigung  zurückgelassen  hast,  son- 
dern mit  Deinen  Augen  über  Alles  wachen  kannst,  so  bin  ich 
beinahe  so  froh,  wie  Du  es  sein  musst.  Nun,  Gott  behüte 
Dich  und  die  liebe  Caravane."  — 


Leipziger  Strasse  No.  3. 


Nach  der  Eückkehr  trat  Jeder  wieder  in  seine  gewohnten 
Beschäftigungen  ein,  die  fleissige  Arbeit  nahm  ihren  Fortgang. 
In  den  nächsten  Jahren  entwickelte  sich  Felix'  musikalisches 
Talent  mit  raschen  Schlitten  und,  mit  dem  seinigen  zusammen, 
das  seiner  Schwester  Fanny.  Die  innige,  neidlose  Freund- 
schaft der  beiden  Geschwister  —  „sie  sind  wirklich  eins  für 
das  andere  eitel  und  stolz"  —  sagt  ihre  Mutter  einmal,  blieb 
ungetrübt  bis  zu  ihrem  Lebensende.  „Bis  zu  dem  jetzigen 
Zeitpunkt",  schreibt  Fanny  1822,  „besitze  ich  sein  uneinge- 
schränktes Vertrauen.  Ich  habe  sein  Talent  sich  Schritt  vor 
Schritt  entwickeln  sehen  und  selbst  gewissermassen  zu  seiner 
Ausbildung  beigetragen.  Er  hat  keinen  musikalischen  B,ath- 
geber  als  mich,  auch  sendet  er  nie  einen  Gedanken  aufs 
Papier,  ohne  ihn  mir  vorher  zur  Prüfung  vorgelegt  zu  haben. 
So  habe  ich  seine  Opern  z.  B.  auswendig  gewusst,  noch  ehe 
eine  Note  aufgeschrieben  war."  —  Felix'  Thätigkeit  war  — 
und  blieb  sein  ganzes  Leben  hindurch  —  eine  rastlose,  denn 
ausser  der  wissenschaftlichen  Ausbildung  verwandte  er  auch 
aufs  Zeichnen  viel  Zeit  und  Fleiss.  Wenn  auch  seine  Begabung 
hierin  natürlich  seiner  musikalischen  weit  nachstand,  so  brachte 
er  es  doch  für  einen  Dilettanten  recht  weit  und  vervoll- 
kommnete sich  namentlich  in  den  späteren  Lebensjahren  sehr. 
Von  der  letzten  Schweizerreise  im  Jahre  1847  brachte  er 
Aquarellen  mit,    deren   sich   kein  Künstler  hätte  zu  schämen 


136  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

brauclien.    Namentlicli  aber  seine  musikaliche  Eülirigkeit  sclion 
in  jenen  frühen  Ejiabenjahren    ist   ausserordentlich,   wie   aus 
einer  kleinen  ungedruckten  Biographie  Felix'  von  Fanny  her- 
vorgeht,   der   in  jedem  Jalir  Verzeichnisse  der   komponirten 
Stücke   beigefügt   sind.     So  z.  B.  lautet   die  Liste  des  Jahi^es 
1822,    in  welches  die  grosse  Eeise  fiel,    auf  der  doch  gewiss 
nicht  viel  Ai'beitszeit  blieb:    1)  Der  66.  Psalm  für  3  Frauen- 
stimmen,   2)  Concert  a-moll  für's  Fortepiano,    3)  2  Lieder  für 
Männerstimmen,  4)  3  Lieder,  5)  3  Fugen  für's  Ciavier,  6)  Quar- 
tett  füi-  Ciavier,  Geige,   Bratsche   und  Bass  (c-moll,  in  Genf 
komponirt,    erstes    gedrucktes    Werk),    7)   2   Symphonien  füi- 
2  Geigen,    Bratsche   und  Bass,    8)  Ein  Akt  der  Oper:     „Die 
beiden  Neffen",  9)  Jube  Domine  (c-dur)  für  den  Cäcilienverein 
von  Schelble  in  Frankfurt  a.  M.,    10)  Ein  Violinconcert  (füi- 
Eietz),  11)  Magnificat  mit  Listrumenten,  12)  Gloria  mit  Listru- 
menten. —  Sein   erstes    öffentliches  Auftreten   fand   statt   in 
einem  Concert  von  Gugel  am  24.  October  1818,    sein  zweites 
in  einem  Concert  von  Aloys  Sclimitt  am  31.  März  1822.    Ln 
Jahre  1822  trat  er  am   5.  December  in  Berlin  in  einem  Con- 
cert der  Milder  auf.    In  diese  Zeit  fällt  auch  die  Stiftung  der 
„Sonntags-Musiken",  die  später  bei  Fanny  Hensel  eine  so  grosse 
Ausdehnung  ge\^ännen  sollten.    Vorläufig  bei  dem  beschränkten 
Lokal,  welches  den  Eltern  damals  (auf  der  neuen  Promenade) 
zu    Gebote    stand,    vereinigte    sich    eben    nur    der    engere 
Freundeskreis;  hier  wurden  Felix'  Compositionen   aufgeführt; 
die  Kinder   gewöhnten   sich   daran,    vor   Leuten   zu   spielen, 
und  hatten  Gelegenheit,  das  Urtheil  Anderer  zu  hören;  schon 
fand    sich    bei    diesen    Musiken    ein,    was    von    bedeutenden 
fremden  Musikern  Berlin  berührte.    So  im  Jahre  1823  Kalk- 
brenner, von  dem  Fanny  schreibt:    „Er  hat  viel  von  Felixens 
Sachen  gehört,  mit  Geschmack  gelobt  und  mit  Freimüthigkeit 
und   Liebenswüi'digkeit    getadelt.      Wir    hören    ihn    oft    und 
suchen  von  ihm  zu  lernen.    Er  vereinigt  die  verschiedenartigsten 
Vorzüge  in  seinem  Spiel,  Präcision,   Klarheit,  Ausdruck,    die 
grösste  Fertigkeit,  die  unermüdlichste  Kraft  und  Ausdauer.    Er 
ist  ein  tüchtiger  Musiker  und  besitzt  einen  erstaunlichen  üeber- 
blick.    Von  seinem  Talent  abgesehen,  ist  er  ein  feiner,  üebeas- 


Felix'  musikalische  Ent Wickelung.    Eeise  nach  Schlesien.      137 

würdiger  und  selir  gebildeter  Mann,  und  man  kann  nicht  an- 
genehmer loben  und  tadeln." 

Im  selben  Jahr  im  August  machte  Abraham  mit  den 
Söhnen  Feüx  und  Paul  eine  Reise  nach  Schlesien.    Felix  schreibt: 

}, Hjuog  d'  TipiyivEia  ^dvrj  podo^dxTvXcg  TjWg*)  gingen 

wir  Alle  zu  Berner  in  die  Kii'che.  Er  kam.  Zuerst  zog  er 
sich  seinen  Rock  aus  und  eine  leichte  Weste  dafür  an;  dann 
musste  ich  ihm  ein  Thema  aufschreiben  und  nun  fing  er  an. 
Er  nahm  das  tiefe  c  im  Pedal  und  dann  stürzte  er  sich  mit 
aller  Macht  auf's  Manual  und  nach  einigen  Läufen  fing  er  ein 
Thema  auf  dem  Manual  an,  ich  hatte  keine  Idee,  dass  man 
es  auf  dem  Pedal  spielen  könne,  denn  so  war  es: 


doch  bald  fiel  er  mit  den  Füssen  ein  und  führte  es  nun  mit 
Manual  und  Pedal  durch.  Nachdem  er  das  Thema  gehörig 
durchgeknetet  hatte,  fing  er  das  meinige  im  Pedal  an,  führte 
es  ein  Weilchen  durch,  nahm  es  im  Pedal  in  der  Verlängerung, 
setzte  ein  schönes  Contrasubject  dagegen  und  arbeitete  die 
beiden  Themata  prächtig  durch.  Er  hat  eine  ungeheure  Fer- 
tigkeit auf  dem  Pedal.  Als  er  geendigt,  trank  er  einige 
Gläser  Wein,  den  er  sich  mitgebracht,  imd  setzte  sich  dann 
wieder  auf  die  Orgelbank.  Nun  spielte  er  Variationen  in 
Vogel'scher  Manier,  die  mir,  obwohl  sie  auch  sehr  schön  waren, 
doch  nicht  so  gefielen,  wie  sein  voriges  Spiel. 

Die  Kirche  füllte  sich  nach  und  nach  an  und  die  Leute 
waren  sehr  verwundert,  den  Berner  zu  hören,  denn  er  hatte 
ganz  Breslau  weiss  gemacht,  er  sei  nach  dem  Bade  gereist; 
nun  spielte  er  aber  Orgel  in  St.  Elisabeth,  das  konnten  sie 
sich  nicht  zusammenreimen.  Nachdem  er  wieder  ein  Gläschen 
getrunken,  holte  er  Variationen  von  sich  über  den  Choral  „vom 
Himmel  hoch",  die  sehr  schön  sind.  Die  letzte  Variation  ist 
eine  Fuge,  deren  Thema  der  verkürzte  Choral  ist,  er  spielte 
sie  auf  dem  Mittelcia  vier.     Nun  machte  er  Miene  zu  schliessen, 

*)  Citat  aus  Homer:  Als  die  frühgeborene  rosenfingerige  Eos 
emporstieg. 


138  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

brachte  das  Thema  alla  Stretta,  schlug  den  Dominantenakkord 
an  nnd  fing  dann  plötzlich  auf  dem  Unterclavier,  das  gekoppelt 
war,  mit  der  ganzen  Stärke  der  Orgel  den  einfachen  Choral 
an,  modulirte  noch  prächtig  auf  der  Melodie  und  schloss 
so.  Es  machte  einen  himmlischen  Effekt,  als  der  Choral 
mit  aller  Macht  einschlug,  die  Töne  strömten  aus  der  Orgel 
von  allen  Seiten  her.  Das  griff  ihn  aber  sehr  an,  so  dass  er 
zwei  oder  drei  Gläser  Wein  trinken  musste.  Doch  bald  setzte 
er  sich  wieder  hin  und  spielte  Variationen  auf  God  save  the 
King^  in  denen  er  dies  Thema  phrygisch  und  dann  aeolisch 
behandelt,  und  gegen  das  Ende  spielte  er  es  auch  mit  voller 
Orgel,  was  eine  ebenso  schöne  Wirkung  wie  vorher  that. 
Somit  war  das  Orgelconcert  beschlossen  und  Berner  sehr  er- 
müdet. Die  Leute  verliessen  die  Kirche  und  er  gab  der  Flasche 
Wein  den  Rest.  Dann  zeigte  er  mir  das  Innere  der  Orgel 
selbst,  Bomben  und  Granaten  sind  in  sehr  viele  Pfeifen  ge- 
fahren, so  dass  sie  unbrauchbar  sind.  — 

Wir  sprachen  noch  eine  Weüe,  Vater,  er  und  ich.  Berner 
erzählte  uns  lustige  Schwanke,  die  er  ausgeführt,  und  dann 
gingen  wir  essen,  Berner  mit  uns.  Beim  Spielen  steht  ein 
Chorjunge  neben  ihm,  der  üim  die  Register  herauszieht  oderhinein- 
stösst,  die  Berner  mitten  im  Spielen  mit  dem  Finger  antippt.  — 

Nun  genug  von  Phrygisch,  Aeolisch,  Dominanten,  Registern, 
Pfeifen,  Manual,  Pedal,  Ventil,  32  Fuss,  Mixtur,  Concert,  Wein- 
flaschen, Gläsern,  Fugen  und  Verlängerungen.''  — 

In  Reinerz  ward  Felix  aufgefordert,  an  einem  Concerte 
für  die  Armen  sich  zu  betheüigen.  Die  Probe  begann  3  Stunden 
vor  dem  Concert  und  man  legte  Felix  ein  Concert  von  Mozart 
vor.  Nachdem  man  das  erste  Solo  eine  Stunde  lang  wieder- 
holt hatte,  sah  Felix  eia,  dass  es  auf  diesem  Wege  nicht  gehen 
würde.  Der  Contrabass,  der  zugleich  die  Stelle  des  Cellos  ver- 
trat, stimmte  nicht,  die  meisten  Instrumente  fehlten  ganz,  und 
der  Rest,  würdige  Dilettanten  des  Städtchens,  verstanden  weder 
zu  spielen,  noch  zu  pausiren;  es  war  eine  tolle  Katzenmusik. 
Er  schlug  also  vor,  zu  phantasiren,  Hess  durch  den  Schul- 
meister die  Ursache  dieser  Veränderung  bekannt  machen,  wählte 
einige  Themata  von  Mozart  und  Weber  und  spielte  mit  allge- 


Zelter  und  Felix.  139 

meinem  Beifall.  Gleich  nach  dem  Concert  reiste  er  ab  und 
empfing*  noch  heim  Einsteigen  in  den  Wagen  von  einem  hübschen 
Mädchen  einen  Blumenstrauss.  „Eine  Fürstin  (so  schreibt  Lea 
an  Hensel  in  Rom),  deren  Gemahl  fanatico  per  la  musica  ist, 
lud  sie  dringend  ein,  mehrere  Tage  auf  ihrer  Herrschaft  zuzu- 
bringen und  im  Falle  das  nicht  möglich  sei,  ihr  etwas  von  Felixens 
Komposition  zu  leihen,  die  sie  mit  eigenen  hohen  Händen  ko- 
piren  wolle.  Sie  kennen  den  Hliberalismus  meines  Liberalen 
zu  genau,  um  nicht  zu  ahnen,  dass  solche  Hofparthie  nichts 
für  seinen  freien  Geist  sei."  — 

Am  3.  Februar  1824,  an  welchem  Tage  Felix  15  Jahr  alt 
wurde,  war  die  erste  Orchesterprobe  seiner  Oper:  ,,die  beiden 
Neffen",  zu  der  der  später  bekannte  Arzt  Caspar  den  Text 
geschrieben  hatte.  Zelter  benutzte  diese  Gelegenheit  zu  einer 
kleinen,  für  ihn  charakteristischen  Feier.  Als  nach  der  Probe 
beim  Abendessen  einer  der  mitsingenden  Dilettanten  Felix'  Ge- 
sundheit ausbrachte,  nahm  Zelter  diesen  bei  der  Hand  und 
stellte  ihn  vor  die  Gesellschaft  mit  den  Worten:  „Mein  lieber 
Sohn,  von  heut  ab  bist  Du  keiu  Junge  mehr,  von  heute  an 
bist  Du  Gesell.  Ich  mache  Dich  ziun  Gesellen  im  Namen 
Mozart's,  im  Namen  Haydn's  und  im  Namen  des  alten  Bach." 
—  Dann  fasste  er  den  Knaben  in  setae  Arme  und  drückte  und 
küsste  ihn  herzlich.  Die  Gesellensprechung  Mendelssohn's  wurde 
dann  noch  durch  Zelter'sche  Lieder  und  Tafellieder  froh  ge- 
feiert. Die  Oper  wurde  im  Eltemhause  mit  BeifaU  aufgeführt, 
iudess  blieb  sie  doch  nur  ein  Uebungswerk,  wurde  als  solches 
zurückgelegt  und  Felix  machte  sich  sofort  an  die  Composition 
einer  zweiten:  „die  Hochzeit  des  Camacho",  die,  jweit  umfassen- 
der angelegt,  die  bekannte  Episode  aus  dem  Don  Quixote  be- 
handelt und  deren  Schicksal  wir  später  kennen  lernen  werden.  — 

Im  Jahre  1825  trat  ein  Ereigniss  ein,  das  auf  die  Ent- 
wickelung  der  Kinder,  auf  die  ganze  Gestaltung  des  Lebens 
der  Familie  auf  Generationen  hiriaus  vom  bestimmendsten  Ein- 
fluss  werden  sollte  und  das  auch  deshalb  zur  üeberschrift  dieses 
Kapitels  gewählt  wurde:  Abraham  kaufte  das  schöne  Grund- 
stück Leipziger  Strasse  No.  3.  In  diesem  wundervollen  Hause 
und  Garten  verlebten  Abraham  und  Lea  den  Rest  ihres  Lebens, 


140  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

hier  heirathete  Fanny  und  lebte  auch  bis  zuletzt  hier.  Allen 
Mitgliedern  der  Familie  war  aber  dies  Haus  nicht  ein  gewöhn- 
licher Besitz,  ein  todter  Steinhaufen,  sondern  eine  lebendige 
Individualität,  ein  Mitglied,  theilnehmend  am  Glück  der  Familie, 
es  war  ihnen  und  den  Nächststehenden  gewissermassen  Reprä- 
sentant derselben.  In  diesem  Sinne  brauchte  Felix  oft  den 
Ausdruck  „Leipziger  Strasse  3"  und  in  diesem  Sinne  liebten 
alle  das  Grundstück  und  betrauerten  seinen  Verlust,  als  es  nach 
Fanny's  und  Felix'  Tode  verkauft  und  —  das  Herrenhaus 
hineinverlegt  wurde. 

Die  Strassenfront  des  Hauses  ist  noch  dieselbe  wie  damals. 
Die  Räume  darin  waren  stattlich,  gross  und  hoch  mit  jener 
angenehmen  Raumverschwendung  gebaut,  die  in  den  Zeiten  der 
hohen  Grundstückspreise  den  Architekten  fast  ganz  abhanden 
gekommen  und  für  deren  Werth  kaum  mehr  das  Verständniss 
—  oder  die  Mittel  —  vorhanden  zu  sein  scheinen.  Namentlich 
war  ein  Zimmer  nach  dem  Hof  hinaus  mit  einem  daranstossenden, 
durch  drei  grosse  Bogen  damit  verbundenen  Kabinet  wunder- 
schön und  zu  Theatervorstellungen  wie  geschaffen.  Hier  wurden 
denn  auch  viele,  viele  Jahre  hindurch  zu  Weihnachten,  Geburts- 
oder andern  Festen  die  reizendsten  von  Witz  und  Laune  spru- 
delnden Aufführungen  veranstaltet.  Für  gewöhnlich  war  dies 
Lea's  Wohnzimmer.  Man  hatte  aus  den  Fenstern  desselben 
die  Aussicht  auf  den  sehr  grossen  Hof,  umgeben  von  niedrigen 
Seitengebäuden  und  geschlossen  durch  die  einstöckige  Garten- 
wohnung, über  welche  hinweg  die  Kronen  der  hohen  Bäume 
ragten.  Diese  Gartenwohnung  hatten  Hensels  von  ilirer  Ver- 
heirathung  ab  ione.  Sie  ist  jetzt  niedergerissen  und  hat  dem 
Sitzungssaal  des  Herrenhauses  Platz  gemacht.  Die  Wohnung 
hatte  im  Winter  grosse  üebelstände :  sie  war  kalt,  feucht,  jedes 
Zimmer  war  Durchgang  und  keins  hatte  Gegenhitze,  da  das 
Gartenhaus  nur  ein  Zimmer  tief  war.  Doppelfenster  waren 
damals  in  Berlin  grosse  Seltenheit,  diese  W^ohnung  besass  keine 
und  täglich  strömten  von  den  gefrorenen  Scheiben  grosse  Wasser- 
massen, die  fortwälirend  aufgewischt  werden  mussten.  Ueber 
eine  Zimmertemperatur  von  13°  kam  es  im  Winter  selten.  Dafür 
aber  war  die  Wohnung  im  Sommer  bezaubernd  schön.     AUe 


Hausankauf.  141 

Fenster  sahen  nach  dem  Garten  hinaus,  in  blühende  Flieder- 
büsche, in  Alleen  schöner  alter  Bäume,  das  Weinlaub  die 
Scheiben  umrankend  —  und  für  alle  Jahreszeiten  hatte  sie 
andere  grosse  Vorzüge:  namentlich  die  vollständige  Ruhe  und 
Stille;  durch  den  grossen  Hof  und  das  hohe  Vordergebäude 
wurde  jeder  Ton  von  der  geräuschvollen  Strasse  abgeschnitten; 
man  lebte  wie  in  der  tiefsten  Einsamkeit  des  Waldes  und  war 
doch  nur  100  Schritt  von  der  Strasse  entfernt.  Kein 
Vts-ä-vü  als  die  herrlichen  Bäume  des  Gartens,  mit  lustig 
zwitschernden  Vögehi  und  keinen  Miether  über,  imter  oder 
neben  sich;  nach  dem  Strassenlärm  tiefste,  fast  ländliche  Stille 
und  Abgeschlossenheit  und  vor  den  Fenstern  das  Grün  der  Bäume. 
Das  Schönste  an  der  Gartenwohnung  war  der  grosse,  in  der 
Mitte  gelegene  Saal.  Derselbe  fasste  mehrere  hundert  Men- 
schen und  bestand  nach  dem  Garten  zu  aus  lauter  zurück- 
schiebbaren Glaswänden  mit  Säulen  dazwischen,  sodass  er  in 
eine  ganz  offene  Säulenhalle  zu  verwandeln  war.  Wände  und 
Decke,  letztere  eine  flache  Kuppel  bildend,  waren  in  etwas 
barocker  aber  phantastischer  Weise  mit  Frescobildem  geziert. 
Hier  war  das  eigentliche  Lokal,  wo  die  Sonntagsmusiken  ihre 
volle  Ausdehnung  gewinnen  soUten.  Man  genoss  aus  ihm  den 
üeberblick  über  den  7  Morgen  grossen,  parkartigen  Garten, 
der  bis  an  die  Gärten  des  Prinzen  Albrecht  reichte  und,  ein 
Ueberrest  des  Thiergartens,  der  sich  noch  zu  Friedrichs  des 
Grossen  Zeiten  bis  hierher  erstreckt  hatte,  einen  grossen  Reich- 
thum  der  schönsten  alten  Bäume  besass.  Ueber  den  beabsich- 
tigten Ankauf  dieses  Grundstücks  schrieb  Lea  an  Hensel  nach 
Rom  (1.  Februar  1825):  ^Ist  es  Dinen  nicht  auch  überraschend 
gewesen,  dass  mein  Mann  ernstlich  damit  umgeht,  sich  hier 
durch  Kauf  anzusiedeln?  Das  Grundstück,  aus  dem  etwas  sehr 
Schönes  werden  kann,  lockte  ihn  freilich.  Das  Haus  ist  zwar 
ganz  so  verfallen  und  vernachlässigt,  als  es  bei  vielen  Besitzern 
(die  V.  d.  Reck'sche  Familie),  die  nie  eines  Sinnes  werden  und 
nie  Gemeingeist  haben,  stets  der  Fall  ist,  und  es  muss  viel 
verwandt  werden,  um  es  nur  in  wohnbaren  Stand  zu  setzen. 
Der  Garten  ist  aber  ein  wahrer  Park,  mit  herrlichen  Bäumen, 
einem  Stück  Feld,  Rasenplätzen  und  einer  höchst  angenehmen 


142  Leipziger  Strasse  Nr.  3, 

Sommerwolinung,  und  dies  allein  tentirt  meinen  Mann  sowohl 
als  mich."  —  Die  Hausfreunde  aber  jammerten  vorerst  und 
klagten,  dass  Mendelssohns  soweit  aus  der  Welt  und  in  eine 
so  abgelegene  todte  Gegend  zögen,  wo  das  Gras  auf  den  Strassen 
wächst  —  denn  das  Potsdamer  Thor  war  damals  die  „Ultima- 
Thule",  wo  die  Berliner  Geographie  aufhörte.  — 

In  diesem  Hause  und  Garten  entfaltete  sich  nun  ein  äusserst 
eigenthümliches,  poetisches  Leben;  es  bildete  sich  der  Kreis 
von  Freunden,  der  mit  wenigen  Ausnahmen  in  persönlichem 
oder  brieflichem  Zusammenhalten  ausharrte,  bis  der  Tod  Einen 
nach  dem  Andern  abrief.  Der  Hannoveraner  Klingemann,  Diplo- 
mat, eine  sehr  fein  poetische  Natur,  Dichter  des  Liederspiels  ,,die 
Heimkehr",  das  nachher  ausfühi'lich  zu  erwähnen  sein  wird,  war 
einer  der  bedeutendsten  und  treuesten  aus  diesem  Kreise.  Nament- 
lich durch  die  späteren  öfteren  Aufenthalte  von  Felix  und  Hensel 
in  London,  wo  Klingemann  bei  der  Gesandtschaft  angestellt 
war,  und  durch  fortgesetzten,  lebendigen  Briefwechsel  wurde 
diese  Freundschaft  dauernd  und  fest  geknüpft.  Louis  Heide- 
mann, der  Jurist,  und  sein  Bruder,  Wilhelm  Hörn,  der  Sohn 
des  berühmten  Arztes  und  selbst  Arzt,  der  Violinspieler  Rietz 
und  für  längere  Zeit  vor  allen  Dingen  Marx,  damals  Redakteur 
der  musikalischen  Zeitung  in  Berlin,  waren  die  intimeren  Freunde 
von  Felix.  Marx,  äusserst  genial,  war  Vorkämpfer  der  neuen 
Schule  in  der  Musik,  die  Beethoven's  Fahne  entfaltete,  und  hat 
zu  dem  Bekanntwerden  desselben  viel  beigetragen.  Er  fasste 
innige  Zuneigung  zu  Felix,  mit  jugendlichem  Feuer  suchten 
Beide  sich  im  Austausch  Uirer  anfänglich  weit  auseinander- 
gehenden Meinungen  näher  zu  kommen.  — 

Auch  Moscheies  hielt  sich  im  Herbst  1824  in  Berlin  auf 
und  Felix  erkannte  wülig  seine  Ueberlegenheit  in  der  Technik, 
seine  Grazie,  Eleganz  und  Koketterie  des  Klavierspiels  an  und 
lernte  in  dieser  Beziehung  von  ihm,  wenn  er  auch  solchen 
Virtuosenkünsten  nie  eine  unbillige  Herrschaft  zugestanden 
hat.  Aber  auch  Moscheies  würdigte  Felixens  Talent  und  es 
knüpfte  sich  eine  dauernde  Freundschaft  zwischen  Beiden  an. 
Von  sehr  bedeutendem  Einfluss  war  auch  Spohr's  Anwesenheit 
auf  ihn.    Dieser  war  nach  Berlin  gekommen,  um  selbst  die 


Reise  nach  Paris.  143 

Jessonda  einzustudiren  und  trotz,  oder  vielleicht  gerade  wegen 
der  allergrössten  Hindernisse,  die  Spontini  ihm  in  den  Weg 
legte,  nahm  das  Publikum  Spohr  und  sein  Werk  mit  um  so 
grösserem  Beifall  auf.  Spohr  war  viel  im  Mendelssohnschen 
Haus  und  die  im  Jahre  1822  in  Kassel  angeknüpfte  Bekannt- 
schaft nahm  einen  erfreulichen  Fortgang. 

Zu  all  diesen  musikalischen  Anregungen  kam  für  Felix  im 
März  1825  eine  Keise  mit  seinem  Vater  nach  Paris,  unter- 
nommen, um  Henriette  nach  Deutschland  zurückzubringen.  In 
Paris  war  grade  ein  grosser  Zusammenfluss  bedeutender  Musiker: 
Hummel,  Moscheies,  Kalkbrenner,  Pixis,  Eode,  Baillot,  Kreuzer, 
Cherubini,  Eossini,  Paer,  Meyerbeer,  Plantade,  Lafont  und  viele 
Andere  trafen  sich  oft  in  einem  Salon,  in  einer  Loge.  Aber 
das  Kleinliche,  Hämische  und  Neidische  so  mancher  dieser 
Männer  machte  auf  den  ganz  anders  angelegten  Felix  einen 
abstossenden  Eindruck,  wie  er  denn  auch  späterhin  nie  mit 
Paris  und  dem  dortigen  musikalischen  Wesen  sich  befreunden 
konnte. 

Dasselbe  war  in  seinen  guten  sowohl,  wie  in  seinen  schlechten 
Seiten  seiner  Natur  zuwider.  Das  Streben  nach  dem  Glänzenden, 
Pikanten,  nach  dem  Effekt  Hess  ihn  kalt,  das  Intriguenwesen, 
die  Unbekanntschaft  mit  den  grossen  Meistern  der  Deutschen, 
die  Oberflächlichkeit  der  Arbeiten  stiess  ihn  ab,  durch  das  für 
ihn  persönlich  sehr  entgegenkommende  Wesen  der  Musiker  liess 
er  sich  nicht  bestechen.  Nur  mit  Cherubini  scheint  er  in  ein 
etwas  näheres  Verhältniss  getreten  zu  sein. 

In  einem  Brief  vom  6.  April  sprach  er  sich  mit  grosser, 
ihm  sonst  garnicht  eigener  Schärfe  und  Heftigkeit  über  Pariser 
Personen  und  Zustände  aus.  Natürlich  fehlte  es  nicht  an 
Widerspruch  in  den  Antworten  der  Mutter  und  Schwester. 
Einige  Briefstellen  mögen  seine  Auffassung  der  Verhältnisse 
scliildern: 

Felix  an  die  Familie. 

Paris,  23.  März  1825. 

„Wie  soll  ich  es  anfangen,  am  ersten  Morgen,  den  ich  in 
Paris  erlebe,  einen  ordentlichen,  regelmässigen  und  vernünftigen 
Brief  zu  schreiben?    Dazu  bin  ich  noch  viel  zu  verwundert,  zu 


144  Leipziger  Strasse  No.  3. 

neugierig,  zu  verdreht.  —  Da  ich  aber  versprochen  hahe,  ein 
Tagebuch  nach  Berlin  zu  senden,  so  falle  ich  also  gleich  mit 
der  Thür  in's  Haus  und  melde,  dass  wir  gestern,  22.  März 
Ahends  8  Uhr,  in  Paris  eingerückt  sind.  Als  wir  die  Barriere 
de  Pantin  passirt  hatten,  fuhren  wir  eine  starke  Viertelstunde 
im  schärfsten  Trabe  der  tüchtigen  Pferde  durch  einen  neuen 
Stadttheil  von  Paris,  den  Vater  noch  garnicht  gesehen  hatte 
Das  ist  der  Fauhourg  St.  Lazare.  Es  sieht  zwar  noch  an  manchen 
Stellen  sehr  öde  und  confus  da  aus,  doch  meistentheils  stehen 
schon  Häuser  da.  Wir  kamen  nun  bald  in  die  alte  Stadt  und 
endlich  auf  den  Boulevard.  Das  ist  ein  Leben  und  Treiben, 
ein  Easseln  und  Schnarren,  ein  Schreien  und  eine  Lustigkeit 
unter  den  Leuten;  alle  Läden  sind  mit  Gas  vollkommen  er- 
leuchtet und  auch  auf  den  Strassen  verbreitet  dies  solche  Helle' 
dass  man  bequem  lesen  könnte.     Es  ist  so  laut  und  so  hell  da, 

wie  etwa  bei  einer  Hlumination  in  Berlin. Leo  und  Meyer 

besuchten  uns  ganz  früh  schon  und  schienen  ganz  verwundert, 
dass  ich  mich  ihnen  nicht  mehr  auf  den  Schooss  setzte,  keine 
Stühle  umwarf,  kein  Geschrei  machte  u.  s.  w.  Wir  besuchten 
nun  Tante  Jette  und  trafen  sie  schon  auf  der  Strasse,  auf  dem 
Wege  zu  uns.  Ihr  mildes,  ernstes,  lebhaftes  und  überaus  gütiges 
Wesen  machte  einen  nicht  geringen  Eindruck.  Und  wie  geist- 
reich spricht  sie!    Wie  freue  ich  mich  darauf,  sie  Euch  zurük- 

zubringen."  — 

Den  1.  April  1825. 

„ Montag  früh  besuchte  ich  Hummel  und  fand  bei 

ihm  Onslow  und  —  Boucher;  der  erkannte  mich  erst  nicht, 
als  er  aber  meinen  Namen  hörte,  wurde  er  wie  toll,  um- 
armte mich  hundertmal,  lief  in  der  Stube  herum,  brüllte  und 
weinte,  hielt  mir  eine  übertriebene,  unsinnige  Lobrede  gegen 
Onslow  und  lief  mit  mir  fort,  um  Vater  zu  sehen;  da  der  aber 
nicht  mehr  zu  Hause  war,  so  machte  er  im  Hotel  einen  Lärm, 
dass  die  Leute  zusammenliefen,  nahm  Abschied,  rannte  mir 
dann  auf  der  Treppe  nach,  umarmte  mich  etc.  Gestern  früh 
kam  er  mit  vier  Trägem  zu  uns  gerumpelt  und  brachte  den 
Flügel  seiner  Frau  und  nahm  sich  unser  schlechtes  Instrument 
dafür." 


Französisches  Theater.  145 

Paris,  20.  AprU. 

„ Damit  Du  aber  nicht  ferner  zürnest,  will  ich  Dir 

gleich  erzählen,  dass  wir  gestern  Abend  im  Feydeau  waren 
und  den  letzten  Akt  einer  Oper  von  Catel,  l'aubergiste,  und 
Leocadie  von  Auber  sahen.  Das  Theater  ist  geräumig,  freund- 
lich und  hübsch.  Das  Orchester  ist  recht  gut.  Wenn  auch 
die  Geigen  nicht  so  vortrefflich  sind,  wie  die  der  Opera  buffa, 
so  sind  doch  die  Bässe  und  Blaseinstrumente,  auch  das  Ensemble 
besser  als  da.  Auch  wird  in  der  Mitte  dirigirt.  Die  Sänger 
und  Sängerinnen  singen  ohne  Stimme,  doch  nicht  übel,  spielen 
lebhaft  und  schnell,  und  so  geht  das  Ganze  recht  gut  zusam- 
men. Aber  nun  die  Hauptsache,  die  Komposition!  von  der  er- 
sten Oper  will  ich  nicht  sprechen,  denn  ich  hörte  nur  die 
Hälfte  und  die  war  zwar  matt  und  kraftlos,  aber  doch  nicht 
ohne  hübsche,  leichte  Melodie.  Aber  die  berühmte  Leocadie 
vom  berühmten  Auber!  So  was  Erbärmliches  kannst  Du  Dil- 
garnicht  vorstellen.  Das  Sujet  ist  aus  einer  schlechten  Novelle 
von  Cervantes  schlecht  zu  einer  Oper  umgearbeitet  und  ich 
hätte  nicht  geglaubt,  dass  so  ein  gemeines,  unziemliches  Stück 
sich  auf  dem  Theater  der  Franzosen,  die  doch  sehr  feines  Ge- 
fühl und  richtigen  Takt  haben,  nicht  nur  halten,  sondern  so- 
gar gefallen  könnte.  Zu  dieser  Novelle  aus  Cervantes'  roher, 
wilder  Periode  hat  Auber  eine  zahme  Musik  gemacht,  dass  es 
ein  Jammer  ist.  Ich  spreche  nicht  davon,  dass  kein  Feuer, 
keine  Masse,  kein  Leben,  keine  Originahtät  in  der  Oper  zu 
finden,  dass  sie  aus  Eeminiscenzen  abwechselnd  aus  Cherubini 
und  E-ossini  zusammengeklebt  ist;  ich  spreche  nicht  davon, 
dass  nicht  der  geringste  Ernst,  nicht  ein  Fünkchen  Leidenschaft 
drin  ist ;  nicht  davon,  dass  in  den  entscheidenden  Augenblicken 
die  Sänger  Gurgeleien  und  Trillerchen  und  Passagen  machen 
müssen;  aber  instrumentiren,  was  jetzt  so  leicht  geworden 
ist,  da  die  Partituren  von  Haydn,  Mozart,  Beethoven  verbrei- 
tet sind,  instrumentiren  sollte  doch  wenigstens  der  Liebling 
des  Publikums,  der  Schüler  Chembini's,  ein  Mann  mit  grauen 
Haaren,  können.  Auch  das  nicht.  Denke  Dir,  dass  in  der 
ganzen,  an  Musikstücken  reichen  Oper  vielleicht  drei  sind,  in 
denen  die  kleine  Flöte  nicht  die  Hauptrolle  spielt.     Die  Ouver- 

Die  Familie  Mendelssoliu.  I.  10 


146  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

ture  fängt  mit  einem  Tremiüando  der  Saiteninstrumente  an  und 
alsbald  kommt  die  kleine  Flöte  auf  dem  Dache  und  das  Fagott 
im  Keller  und  dudeln  eine  Melodie  dazu;  im  AUegrothema  ma- 
chen die  Saiteninstrumente  die  spanische  Begleitung  und  die 
kleine  Flöte  dudelt  wieder  eine  Melodie,  Leocadiens  erste  me- 
lancholische Arie:  paucre  Leocadie,  il  vaudraü  mieux  mourir^ 
wird  von  einer  kleinen  Flöte  angemessen  begleitet.  Die  kleine 
Flöte  malt  des  Bruders  Wuth,  des  Liebenden  Schmerz,  der 
Bauermädchen  Freude,  kurz,  das  Ganze  Hesse  sich  vortrefflich 
für  2  Flöten  und  Maultrommel  ad  libitum  einrichten.  0  weh !  — 

Du  schreibst  mir  auch,  ich  soll  mich  zum  Bekehrer  auf- 
werfen und  Onslow  und  Eeicha  Beethoven  und  Sebastian  Bach 
lieben  lehren.  Das  thu'  ich  schon  ohne  das,  soweit  es  geht. 
Aber  bedenke,  liebes  Kind,  dass  die  Leute  hier  keine  Note 
aus  Fidelio  kennen!  dass  sie  Sebastian  Bach  für  eine  recht 
mit  Gelehrsamkeit  ausgestopfte  Perrücke  halten!  Onslow  habe 
ich  die  Fidelio  -  Ouvertüre  auf  einem  ganz  schlechten  Klavier 
vorgespielt  und  er  war  ganz  ausser  sich,  kratzte  sich  im 
Kopfe,  instrumentii'te  sie  in  Gedanken,  sang  am  Ende  in  der 
Entzückung  mit,  kurz,  war  ganz  toll.  Neulich  spielte  ich  auf 
Kalkbrenner's  Begehr  die  Präludien  aus  e-  und  a-moll  für  die 
Orgel.  Die  Leute  fanden  beide  „wunderniedlich"  und  Einer 
bemerkte,  der  Anfang  des  a-moU-Präludiums  habe  auffallende 
Aehnlichkeit  mit  einem  beliebten  Duett  aus  einer  Oper  von 
Monsigny.    Mir  wurde  grün  und  blau  vor  den  Augen. 

Rode  bleibt  fest  bei  seiner  Weigerung,  eine  Geige  in  die 
Hand  zu  nehmen.  Aber  mit  Baillot,  Mial  und  Norblin  habe 
ich  neulich  bei  Mde.  Kiene  mein  Quartett  aus  h-moU  gespielt. 
Der  Erstere  fing  zerstreut,  ja  sogar  nachlässig  an,  aber  bei 
einer  Stelle  im  ersten  Theil  des  ersten  Stücks  kam  er  in's 
Feuer  und  spielte  den  Rest  des  ersten  und  das  ganze  Adagio 
sehr  kräftig  und  gut.  Aber  dann  kam  das  Scherzo.  Da  musste 
ihm  wohl  der  Anfang  gefallen  und  nun  fing  er  an  zu  spielen 
und  zu  laufen.  Die  Andern  immer  hinterdrein,  ich  wollte  sie 
halten,  aber  halt'  einer  mal  drei  Franzosen,  die  durchgehen. 
Und  so  nahmen  sie  mich  mit,  immer  toller  und  toller  und  schneller 
und  stärker ,  besonders  hieb  Baillot  bei  einer  Stelle  am  Ende,  wo 


Pariser  Musikzustände.  147 

das  Thema  des  Trios  in  der  Höhe  gegen  den  Takt  kommt, 
ganz  füi'chterlich  ein  und  als  er  vorher  einen  Fehler  mehrere 
Mal  machte,  wüthete  er  ordentlich  gegen  sich  selbst.  Sowie 
es  aus  war,  sagte  er  mir  kein  Wort  als:  JEncore  une  fois  ce 
morceau.  Nun  ging's  glatt,  aber  noch  wilder  als  das  erste  Mal. 
Im  letzten  Stück  Avar  nun  aber  gar  der  Teufel  los.  In  der 
Stelle  ganz  am  Ende,  w^o  das  Thema  in  h-moll  noch  ein- 
mal fortissimo  kommt,  raste  Baillot  wirklich  furchtbar  in 
die  Saiten;  ich  bekam  vor  meinem  eigenen  Quartett  Furcht. 
Und  so  wie  es  aus  war,  kam  er  a,uf  mich  zu,  wieder  ohne  ein 
Wort  zu  sagen,  und  umarmte  mich  zweimal,  als  wollte  er  mich 
erdrücken.  Auch  Rode  war  sehr  zufrieden  und  sagte  mir  lange 
nachher  noch  einmal:  „Brav,  mein  Schatz I"    auf  Deutsch." 

Doch  die  Berliner  waren  nicht  zufrieden  und  Hessen  nicht 
nach,  in  ihren  Briefen  Lanzen  zu  brechen  für  das  ihrer  Mei- 
nung nach  ungerecht  behandelte  Paris.  Felix  liess  sich  nicht 
irre  machen.  Am  9.  Mai  schreibt  er  an  seine  Schwester 
Fanny : 

„ —  —  Ueber  Deinen  vorigen  Brief  war  ich  etwas  wü- 
thend  und  beschloss,  Dir  eüiige  Schelte  zu  reichen,  die  Dir 
auch  noch  nicht  geschenkt  sein  sollen,  aber  die  Zeit,  der 
wohlthätige  Gott,  wii^d  sie  wohl  mildern  und  Balsam  giessen 
in  die  Wunden,  die  mein  flam.mender  Zorn  Dir  schlägt.  Du 
schreibst  mir  von  Voruilheilen  und  Befangenheit,  von  Brum- 
men und  Schuhu-ismus,  vom  Lande,  w^o  Milch  und  Honig  fliesst, 
wie  Du  dies  Paris  nennst?  Besinne  Dich  doch,  ich  bitte  Dich? 
Bist  Du  in  Paris,  oder  bin  ich  es?  Da  muss  ich's  doch  besser 
kennen  als  Du!  Ist  es  meine  Art,  von  Vorui'theilen  befangen 
über  Musik  zu  urtheilen?  Wäre  sie  das  aber  auch:  Ist  Eode 
befangen,  wenn  er  mir  sagt:  c^est  ici  une  degringolade  mimcale! 
Ist  Neukomm  befangen,  der  mir  sagt:  Ce  rCest  pas  icile pays  des 
orchestres.  I^t  Herz  befangen,  wenn  er  sagt:  Hier  kann  das 
Publikum  nur  Variationen  verstehen  und  goutiren.  Und  sind 
10,'JOO  Andere  befangen,  die  auf  Paris  schimpfen!  Du,  Du  bist 
so  befangen,  dass  Du  meinen  höchst  unpartheiischen  Berichten 
weniger  glaubst,  als  einer  lieblichen  Vorstellung  von  Paris,  als 
einem  Eldorado,  die  Du  Dir  gebildet  hast.     Nimm  den  Consti- 

10* 


148  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

tutionnel  in  die  Hand:  was  giebt  man  in  der  italienischen 
Oper  als  Rossini?  Nimm  den  Miisikcatalog  zur  Hand:  was 
kommt  heraus,  was  geht  ab,  als  Romanzen  und  Potpourris? 
Komme  doch  nur  erst  her  und  höre  Alceste,  höre  Kobin  des  Bois*), 
höre  die  Soireen  (die  Du  mit  Salons  übrigens  verwechselst,  denn 
Soireen  sind  Concerte  für  Geld,  und  Salons  Gesellschaften), 
höre  die  Musik  in  der  königlichen  Kapelle,  und  dann  urtheile, 
dann  schilt  mich,  aber  nicht  jetzt,  wo  Du  von  Vorurtheilen 
befangen  und  gänzlich  verblendet  bist!  !  !" 

Im  Mai  kehrten  sie  mit  Henriette  nach  Berlin  zurück 
und  besuchten  Göthe,  wie  dies  auch  schon  auf  der  Hinreise 
geschehen  war. 

Gedenken  wir  hier  auch  der  litterarischen  Ereignisse,  die 
die  Jugend  jener  Zeit  frisch   erlebte,    denen   sie  sich  mit  En- 
thusiasmus hingab.    Dass  den  Enkeln  Moses  Mendelssohn's  die 
Lessing'schen  Schriften   geläufig  waren,   dass  dem  Gastfreunde 
Göthe's  Faust  und  Werther   ^strahlende  Lichter"  waren,  wie 
Fanny  sich  ausdi^ückt,  versteht  sich  von  selbst.    Wie  Schiller's 
Meisterwerke  ihnen  immer  gegenwärtig  blieben,  beweisen  Fanny's 
und  Felix'  Briefe  aus  der  Schweiz.     Aber  vor  allen  waren  es 
zwei   Schriftsteller,    die    gewaltig    auf   die   Mendelssohn'schen 
Kinder  und  ihren  Kreis  wirkten :  Jean  Paul  und  Shakespeare.  — 
üeber  J.  Paul  hat  das  Schönste  Börne,  das  Witzigste  Heine 
in  der  romantischen  Schule  gesagt.     Rebecka  schrieb  über  ihn 
einmal:    „Du  willst,    ich  soll  den   Hesperus  lesen,    wenn  ich 
recht   traurig   bin.     Na,    das   lass    ich   bleiben.      Jean   Paul 
hilft  den  Mühseligen  und  Beladenen  nicht,   ihr  Kreuz  tragen, 
er  redet  ihnen  zum  Maule  und  macht  ihnen  ihre  Last  schwerer, 
indem  er  ihnen   die  Kräfte  zum  Tragen   erschlafft.     Dass  ich 
Dil*  das  sage,  hilft  aber  garnichts,  Du  bist  grade  jetzt  in  dem 
Alter  oder  vielmehr  in  der  Jugend,  wo  es  eben  nur  Jean  Paul 
giebt,  wo  seine  Schreibart,  seine  Ironie  nachgemacht  wird,  wo 
Jünglinge  und  Mädchen  nicht   gern   dick  werden  wollen,   um 
Victor  und  Clotilde  oder  Liane  mehr  zu  gleichen,  womöglich 
auch  ein  bischen  früh  sterben  wollen,  aber  nur  auf  kurze  Zeit. 


*)  Französische  Bearbeitung  des  Freischütz. 


Jean  Paul.  149 

Wenn  ich  mir  den  Gram  überhaupt  weglesen  wollte,  so  möchte 
ich  lieber  Lessing  oder  Mendelssohn  oder  Geschichte  lesen  und 
mich  an  den  Mensehen  erbauen,  die  sich  durch  Schicksale  und 
Widerwärtigkeiten  hindurchgekämpft  und  sich  keine  ironische, 
sondern  eine  tugendhafte  Heiterkeit,  Ergebenheit  und  Kraft 
zum  Weiterkämpfen  en^ungen  haben.  Es  ist  aber  der  kleine 
Unterschied  zmschen  uns,  dass  ich  so  nahe  an  vierzig  bin, 
wie  Du  an  zwanzig.  Und  wüsste  ich  nicht  sehr  gut,  wie  der 
Jean  Paul  in  der  Jugend  thut,  ich  überfiele  Dich  in  Deiner 
Landeinsamkeit  und  autodafeisirte  den  ganzen  Hesperus. 

Bei  Gelegenheit  der  von  Dir  behaupteten  Aehnlichkeit  der 
Jean  Paul'schen  Clotilde  mit  X  möchte  ich  Dir  gerne  eine  Ge- 
schichte erzählen,  wenn  ich  nicht  gewiss  wüsste,  dass  Du  sie 
übel  nimmst.  Ich  will  sie  aber  doch  erzählen:  Ein  taub- 
stummer Schüler  des  Professor  Wach  malte  einst  eine  Ma- 
donna, die  Wach  sprechend  ähnlich  sah.  Zu  seiner  Recht- 
fertigung gab  er  an,  Wach  wäre  sein  höchstes  Ideal,  die 
Madonna  auch,  also  müsste  die  Madonna  aussehen  wie  Wach!  — 
Die  Nutzanwendung  versteht  sich  von  selbst.  Sei  aber  nicht 
böse.  —  Als  Deine  Mutter  und  ich  jung  waren,  sah  Victor 
im  Hesperus  aus  wie  der  jetzige  Regierungsrath  und  Ee- 
actionair  Dr.  Y.**  — 

Als  Trost  hatten  jene  Kinder  den  J.  Paul  auch  nicht 
nöthig:  und  doch  giebt  es  eine  Zeit  in  der  Jugend,  wo  Jeder, 
auch  der  Glücklichste,  sich  lieber  unglücklich  fühlen  möchte 
und  wie  Rebecka  schreibt,  „ein  Bischen  früh  zu  sterben  wünscht, 
aber  nicht  auf  lange  Zeit."  —  Wie  dem  auch  sein  möge  und 
welche  Seite  des  Dichters  auch  jeden  von  ihnen  angesprochen 
haben  mag,  faktisch  ist,  dass  Alle  sehr  für  ihn  schwärmten 
und  dass  diese  Schwärmerei  bis  zuletzt  sich  erhielt.  Felix  giebt 
dieser  Vorliebe  noch  in  späteren  Briefen  einen  warmen  Ausdruck. 

Nächstdem  Shakespeare:  Die  Schlegel -Tieck'sche  Ueber- 
•setzung  war  erschienen  und  in  dieser  der  Shakespeare  zum 
ersten  Male  in  geniessbarer  Form  geboten.  Mit  dem  Englisch 
der  Geschwister  war  es  damals  noch  nicht  so  bestellt,  dass  sie 
den  Shakespeare  in  der  Ursprache  hätten  lesen  können.  Der 
Eüidruck  war  ein  ungeheurer;    die  Tragödien,  vor  allen  aber 


150  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

die  Lustspiele,  und  unter  diesen  ganz  besonders  der  Sommer- 
nacbtstraum,  waren  die  "Wonne  der  Mendelssolin'sclien  Kinder. 
Ein  eigenes  Geschick  wollte,  dass  grade  in  diesem  Jahr  1826 
sie  selber  in  dem  wunderschönen  Garten,  bei  dem  herrlichsten 
Wetter  auch  ein  traumartig  phantastisches  Leben  führten. 
Das  Gartenhaus  bewohnte  mit  ihnen  zusammen  eine  alte  Dame 
nebst  ihren  schönen  und  liebenswürdigen  Nichten  und  Enkelinnen. 
Mit  diesen  Mädchen  waren  Fanny  und  Rebecka  eng  befreundet, 
Felix  mit  seinen  jungen  Leuten  schloss  sich  an  und  die  Sommer- 
monate ^vurden  zu  einem  ununterbrochenen  Festtag  voll  Poesie, 
Musik,  sinni-eicher  Spiele,  geistvoller  Neckereien,  Verkleidungen 
und  Aufführungen.  In  einem  Gartenpavillon  lag  beständig  ein 
Bogen  Papier  mit  Sclireibmaterial,  auf  den  jeder  hinwarf,  was 
ihm  eben  von  tollen  oder  hübschen  Einfällen  durch  den  Kopf 
schoss.  Diese  „Gartenzeitung"  wui-de  im  Winter  unter  dem 
Titel  „Thee-  und  Schneezeitung"  fortgesetzt  und  enthielt  viel 
Reizendes  in  Scherz  und  Ernst.  Selbst  die  älteren  Personen, 
der  Vater  Abraham,  Zelter,  Humboldt,  verschmähten  nicht, 
Beiträge  zu  liefern  oder  wenigstens  mitgeniessend  sich  dem 
geschmackvollen,  eigenthümlichen  Treiben  anzuschliessen.  Dies 
ganze  Leben  hatte  unverkennbar  eine  höhere,  luftige  Stimmung, 
eine  idyllische  Farbe,  einen  poetischen  Schwung,  wie  man  ihn 
selten  im  gemeinen  Leben  findet.  Kunst  und  Natur,  Geist, 
Witz  und  Herz,  die  aufstrebende  Genialität  Felixens,  alles  trug 
dazu  bei,  dem  Treiben  Färbung  zu  leihen,  das  dann  seinerseits 
wieder  mitwirkte,  die  Knospen  in  Felixens  Schaffen  zur  Ent- 
faltung zu  bringen.  Es  ging  mit  ihm  eine  sclinelle,  durch- 
greifende Veränderung  vor,  und  es  folgten  in  raschem  Fluge 
bedeutende  Arbeiten,  weit  verschieden  von  den  bisherigen  Kinder- 
Kompositionen :  zuerst  das  für  Rietz  als  Geburtstagsgeschenk 
bestimmte  Ottett.  Durchaus  neu  in  demselben  ist  das  luftige, 
geistige  und  geisterhafte  Scherzo.  Er  versuchte  die  Stelle  aus 
dem  Walpurgisnachtstraum  des  Götheschen  Faust  zu  komponii'eni 

Wolkenfliig  und  Nebelflor 
Erhellen  sich  von  oben. 
Luft  im  Laub  und  Wind  im  Rohr, 
Und  Alles  ist  zerstoben. 


Ottett.    Sommernachtstraum-Ouverture.  151 

„Und  es  ist  walirlicli  gelungen,"  bemerkt  Fanny  in  ihrer  Be- 
sprechung des  Ottetts  in  Felixens  Biographie.  „Mir  allein  sagte 
er,  was  ihm  vorgeschwebt.  Das  ganze  Stück  wird  staccato 
und  pianissimo  vorgetragen,  die  einzelnen  Tremulando-Schauer, 
die  leicht  aufblitzenden  Pralltriller,  alles  ist  neu,  fremd  und 
doch  so  ansprechend,  so  befreundet,  man  fühlt  sich  so  nahe 
der  Geisterwelt,  so  leicht  in  die  Lüfte  gehoben,  ja  man  möchte 
selbst  einen  Besenstiel  zui'  Hand  nehmen,  der  luftigen  Schaar 
besser  zu  folgen.  Am  Schlüsse  flattert  die  erste  Geige  feder- 
leicht auf  —  und  Alles  ist  zerstoben." 

Das  Scherzo  des  Ottett  war  aber  nur  der  Vorläufer  einer 
bedeutenderen,  gleichartigen  Schöpfung :  aus  jener  seltsam  poe- 
tischen Stimmung  ging  als  Lichtpunkt  und  Summe  die  Ouvertüre 
zum  Sommernachtstraum  hervor.  Man  kann  sie  gewissermassen 
als  etwas  selbst  Erlebtes  bezeichnen,  denn  sie  ist  ebensosehr 
hervorgerufen  durch  die  Ereignisse  des  Sommers  1826  im  Mendels- 
sohn'schen  Hause,  als  durch  die  Anregung  des  Shakespeare'schen 
Stücks;  und  man  müsste  sich  sehr  täuschen,  oder  es  ist  eben 
diese  Entstehungsart,  die  der  Ouvertüre  den  ausserordentlichen 
Uli'  innewohnenden  ßeiz  verleiht.  Gerade  daraus,  dass  sie  so 
aus  der  innersten  Natur  Mendelssohn's  hervorgequollen,  erklärt 
sich  ein,  vielleicht  in  der  Musikgeschichte  nicht  zum  zweiten 
Mal  vorkommendes  Faktum,  dass  fast  zwanzig  Jahr  nachher 
der  Componist,  an  diese  Jugendarbeit  anknüpfend,  die  weitere 
Musik  zum  Sommernachtstraum  schreiben  konnte,  ohne  dass 
an  der  Ouvertui'e  irgend  etwas  zu  ändern  gewesen  wäre;  sie 
war  eben  durchaus  Shakespearisch  und  durchaus  Mendelssohnisch 
und  so  konnte  die  weitere  Musik  auch  nur  im  selben  Geiste 
fortfahren. 

Vielleicht  war  dies  die  glücklichste  Zeit  im  Leben  Abra- 
ham's:  die  Existenz  gesichert  und  fixii't  in  einem  der  schönsten 
Grundstücke  des  damaligen  Berlin,  an  seiner  Seite  eine  innig 
geliebte,  kluge  und  geistreiche  Frau,  in  langer  Ehe  ihm  treu 
verbunden,  alle  Kinder  mit  schönen  Anlagen  heranwachsend, 
Felix  über  die  Zeit  des  Schwankens  hinaus,  auf  sicherm  Wege 
zum  Höchsten,  w^as  der  Mensch  erstreben  kann,  wohlverdientem 
Euhm  in  der  Kunst,  Fanny  ihm  ebenbüi-tig  an  Talent  und  Be- 


152  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

^abnng  und  doch  nichts  Anderes  hegehrend,  als  bescheiden  in 
den  Schranken,  die  die  Natur  den  Frauen  gesetzt,  zu  verbleiben, 
Bebecka  zu  einem  schönen  klugen  Mädchen  sich  entwickelnd, 
auch  talentvoll  und  nui*  in  Schatten  gestellt  durch  die  her- 
vorragende Begabung  der  älteren  Gesch^^1ster ,  Paul  tüchtig 
und  lleissig  und  ebenfalls  sehr  musikalisch,  alle  ^ier  gesund 
an  Körper  und  Geist  und  sich  mit  einer  seltenen  Liebe  zuge- 
than ;  dazu  ein  Freundeskreis,  Alles,  was  von  bewährten,  älteren 
Männern,  bedeutend  in  fielen  Lebenskreisen,  Alles,  was  von 
hoffnungsvoller,  aufstrebender  Jugend  in  Berlin  lebte,  umfassend, 
ein  Haus,  besucht,  gekannt  und  geliebt  von  so  Vielen  in  der 
ganzen  gebüdeten  Welt,  das  waren  die  Verhältnisse  Abraham 
Mendelssohn's  im  Jahre  1826. 

Im  Februar  1827  unternahm  Felix  eine  Eeise  nach  Stettin 
zur  Auffühi'ung  der  Sommernachts-Ouverture,  wo  er  sehr  ge- 
feiert wiu'de.  Auf  der  Eückreise  legte  er,  als  die  Schnellpost 
umgeworfen  wurde,  Proben  von  Geistesgegenwart  ab.  —  Alle 
hatten  den  Kopf  verloren,  er  ritt  bei  ausserordentlicher  Kälte 
Nachts  auf  einem  ausgespannten  Postgaul  eine  Meile  zurück, 
Hülfe  zu  holen.  Zurückgekehit,  erwartete  ihn  in  Berlin  un- 
angenehme Ai-beit:  er  musste  an's  Einstudiren  seiner  Oper: 
„die  Hochzeit  des  Camacho"  schi-eiten  und  lernte  dabei  zum 
ersten  Mal  die  Leiden  eines  Bühnenautors  kennen.  Die  Klein- 
lichkeit der  Dii-ektion,  die  Intriguen  hinter  den  Coulissen,  das 
Schauspieler-  und  Probewesen  oder  Unwesen  —  wenn  ihn  auch 
alles  das  zuerst  amüsirte,  so  fing  es  doch  bald  an,  ihm  zumder 
zu  werden.  Am  29.  April  ward  die  Oper  gegeben.  Wie  sie 
aufgenommen  worden,  das  lässt  sich  so  eigentlich  nicht  recht 
bestimmen,  da  sie  keine  Wiederholung  erlebte.  Im  Ganzen 
war  es  wohl  nui'  ein  „Achtungserfolg".  Man  hatte  Felix  aller- 
dings gerufen  und  die  Familie  und  die  näheren  Freimde  fassten 
es  als  eine  gelungene  Aufführung  auf,  —  er  selbst  aber  liess 
sich  mit  richtigem  Gefühl  nicht  täuschen,  war  im  höchsten  Grade 
niedergeschlagen,  kam  spät  imd  betrübt  nach  Hause  geschlichen. 
Krankheiten  imd  sonstige  wirkliche  und  erdichtete  Hindernisse 
vereitelten  eine  —  melu-mals  angesetzte  —  Wiederholung  und 
die  ^anze  Sache  machte  für  den  Augenblick  einen  sehr  üblen 


Felix^  Fusswanderung  nach  Süddeutschland.  153 

Eindruck  auf  seine  Laune  und  sogar  auf  seine  Gesundheit,  noch 
verschärft  durch  den  Tod  eines  Jugendfreundes,  August  Han- 
stein's.  Aber  bei  seiner  durch  und  durch  gesunden,  lebensfrohen 
und  tüchtigen  Natur  konnten  derartige  Perioden  der  Erschlaffung 
und  Muthlosigkeit  nicht  lange  dauern.  Zu  Pfingsten  brachte 
er  einige  Tage  sehr  heiter  auf  dem  Magnus'schen  Gut  Sakrow 
bei  Potsdam  zu  und  dichtete  und  komponirte  daselbst  ein  Lied, 
das  später  dem  a-moll-Quartett  zu  Grunde  gelegt  wurde.  Im 
Sommer  unternahm  er  mit  einigen  Freunden  eine  schöne  Ferien- 
reise nach  dem  Harz,  Franken,  Baiern,  Baden  und  dem  Rhein, 
wo  die  Weinlese  mit  Joseph  Mendelssohn  in  Horchheim  bei 
Coblenz  gefeiert  wurde.  Er  schrieb  Briefe  voU  frischen  Lebens 
und  glücklicher  Laune  nach  Haus,  von  denen  hier  Einiges 
folgen  möge: 

^^ Wir  fingen  um   VaB    an,   im  Hsenthal   nach  dem 

Brocken  hinaufzusteigen,  von  einem  grauen  Führer  aus  Werni- 
gerode begleitet.  Die  Sonne  schien  hell,  es  wurde  warm  und 
der  Hsenstein  wurde  voll  Vergnügen  passirt.  Heydemann  stellte 
sich  auf  einen  Stein  mitten  in  dem  Bach  und  plätscherte  mit 
der  Hand  im  vorbeiriesekiden  Wasser,  hob  dann  einen  Kiesel 
auf  und  zeigte  mir,  wie  nun  das  Wasser  anders  flösse,  und 
das  Alles  di'ückten  wir  in  Eitter'schen  Phrasen  aus;  Magnus*) 
ging  voran,  pfiff  und  äusserte:  das  gefiele  ihm.  Eietz  mur- 
melte: das  ist  gottvoU,  und  da  der  alte  Führer  unter  der  Last 
unserer  vier  Mäntel  ziemlich  gebeugt  ging,  so  war  es  in  die- 
ser erweichten  Stimmung  natürlich,  ihm  die  Bürde  abzunehmen 
und  sie  im  Schweisse  unseres  Angesichts  selbst  zu  tragen. 
Das  war  der  erste  Fehler,  denn  der  Alte  zog  eine  Pulle 
Schnaps  und  trank  auf  unsere  Gesundheit,  und  leider  muss  er 
das  nachher  noch  oft  gethan  haben.  Denn  nachdem  wir  nun 
zwei  Stunden  steil  gestiegen  hatten  und  der  Himmel  mit  Wol- 
ken sich  bezog,  stellte  er  sich  auf  einmal  vor  uns  und  sagte 
lachend:  wissen  Sie's  Neuste?  Wir  sind  ganz  und  gar  irre; 
wir  müssen  eine  Viertelstunde  zurück,  dann  bringe  ich  Sie  acd' 
den  richtigen  Weg.    Ich  merkte  gleich  den   Sauerbraten  und 


")  Der  bekannte  Physiker  Gustav  Magnus. 


154:  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

schimpfte  wie  ein  Rolirsperling.  Errare  humanuni^  meinte  Hey- 
demann.  Wir  gingen  zurück,  der  Fülirer  fing  an,  Unsinn  zu 
sprechen  und  zu  wanken:  er  wüsste  gar  nicht  den  Weg;  was 
wir  denn  von  ihm  wollten?  es  sei  ja  hier  im  Walde  recht 
hübsch,  und  dergleichen,  so  dass  wir  dem  Instinkte  nach  einen 
Weg  einschlugen  und  glücklich  nach  einer  kleinen  Zeit  ein 
Haus  liegen  sahen.  Wir  Alle  bringen  dem  Haus  ein  Vivat, 
stürmen  hin,  pochen  an  —  keine  Antwort,  die  Thür  verschlos- 
sen, die  Fenster  versperrt,  das  Hüttchen  ist  von  keiner  Seele 
bewohnt.  Der  Fülirer  wii'd  gebracht,  er  kennt  das  Haus  nicht, 
hat  es  nie  gesehen,  er  weiss  aber  der  Lage  nach  nur,  dass  der 
Weg  rechts  abgeht.  Es  wurde  Abend,  wir  waren  verdiiesslich. 
Die  Harzkarte  wird  geholt.  „Hier  sind  wir,"  sagt  der  Eine, 
^nein  hier,  nein  hier!"  —  Kurz,  wir  verständigen  uns  nicht 
und  folgen  dem  Fühi-er,  der  uns  nun  einen  steilen,  beschwer- 
lichen Weg  Berg  ab  führt  und  dabei  immer  behauptet,  nun 
müssten  wir  bald  oben  sein.  Endlich  aber  meinte  er,  er  kenne 
den  Weg  nicht  und  sei  hier  nie  gewesen.  Wir  stiegen  auf 
einen  Granitblock  und  visii'ten  durch's  Fernrohr,  es  fing  an  zu 
regnen!  Da  nichts  zu  sehen  war,  verfolgten  wir  unsern  Fuss- 
steg,  der  nach  und  nach  weich,  schlüpfrig  und  nass  wird.  Es 
dämmert,  der  Eegen  giesst  und  wir  sehen  keinen  Menschen 
kommen.  Ein  kleiner  Junge  mit  Aexten  und  einem  Sägeblock 
steigt  des  Weges  aus  dem  Thal  herauf,  wir  umringen  ihn  und 
fragen,  wo  wii'  sind?  „Eine  halbe  Stunde  von  Hsenburg!  !  !" 
antwortete  er.  Wir  fragen,  was  das  verlassene  Haus  sei;  „ein 
verlassenes  Jagdschloss,  anderthalb  Stunden  nur  vom  Gipfel  des 
Brockens  entfernt."  Nun  war  kein  Haltens  mehr.  Wir  liefen 
mit  den  Stöcken  auf  den  Führer  los,  um  ihn  zu  schlagen;  da 
er  aber  den  Hut  abnahm  und  lächelnd  sagte:  „Schlagen  Sie  nui*, 
was  geht  es  mich  an?"  so  begnügten  wir  uns,  ihm  die  Sachen 
abzufordern  und  ihn  wegzujagen.  Er  verschwand  uns  auch  sogleich 
aus  dem  Gesichte.  Köhler  heisst  er.  Hol'  ihn  der  Teufel!  — 
Im  grässlichsten  Eegen  gelangten  wir  nach  vier  Stunden  Wegs 
wieder  nach  Hsenburg  zurück." 


Felix'  Fusswanderung  nacn  Süddeutschland.  155 

Erbich  (ein  Nest),  am  31.  August  1827. 
Abends  im  herrlichen  Mondschein. 

^Wüssten  drei  der  vortrefflichsten  Familien  Berlins,  dass 
drei  ihrer  vortrefflichsten  Söhne  sich  mit  Fuhrleuten,  Bauern 
und  Handwerksburschen  Nachts  auf  der  Landstrasse  herum- 
treiben und  mit  ihnen  Lebensgeschichten  eintauschen,  —  sie 
wären  sehr  betrübt.  Seid's  nicht!  Denn  die  Söhne  sind  dabei 
kreuzfidel. 

Erbich!  Das  kennt  selbst  Vater  trotz  der  vielen  Reisen 
nicht.  Auch  steht  es  auf  keiner  Karte,  also  kennt's  Paul  nicht. 
Zu  Zeiten  der  Griechen  war  es  nicht  erbaut,  also  kennt  es 
Beckchen  nicht,  endlich  liegt  es  weder  in  der  Leipzigerstrasse 
Nr.  3,  noch  in  Italien,  also  kennen  es  Mutter  und  Fanny  nicht. 
Es  ist  ein  miserables  Dorf  mit  einem  Wirthshause,  das  wir 
drei  aus  malice  himmlisch  finden.  Wir  hatten  nämlich  auf  der 
Keisekarte  4  Meilen  für  2  angesehn  und  sind  demnach  andert- 
halb Stunden  schon  im  Mondschein  gewandert.  Endlich  ge- 
langten wir  nach  Dorf  Büdenbach,  wo  ein  von  den  Führern 
sehr  gepriesenes  Wirthshaus  lag.  Eine  Stube  kann  uns  der 
Wirth  nicht  geben,  w^ir  sollen  mit  drei  Fuhrleuten,  die  in  blaue 
Kittel  gehüllt  Hammelbraten  verzehren  und  Pfeifen  rauchen, 
die  Nacht  auf  der  Bank  campiren.  Zum  Dank  kriegen  wir 
auch  morgen  keinen  Führer  nach  Rudolstadt  und  heute  nichts 
zu  essen.  Hier  wurde  Magnus  wüthend  und  brach  auf.  Wir 
gehn  zum  Dorfe  hinaus  und  ein  Bach  mit  AVeiden  besetzt 
führte  uns  auf  einem  Stoppelfelde,  das  nur  zuweüen  von  sum- 
pfigen Stellen  unterbrochen  war,  nach  Erbich.  Es  lebe!  — 
Denn  wir  haben  eine  Stube,  wo  wir  auf  den  Bänken  Solo 
schlafen  können,  und  fahren  morgen  früli  mit  einem  Kärrner, 
der  uns  diesmal  einen  unerhörten  Trab  versprochen  hat,  in  das 
Frankenland  hinein.  Erst  woUte  man  uns  auch  hier  nicht 
aufnehmen,  weü  in  der  Stube  nicht  eingeheizt  sei,  endlich  aber 
führte  man  uns  die  schmale  Treppe  hinauf  zu  unserm  Zimmer, 
das  um  alle  4  Wände  mit  hölzernen  Bänken  besetzt  ist;  in 
der  Ecke  steht  das  Wirthshausbett,  in  dem  Keiner  von  uns 
schlafen  wül,  —  vielleicht  aus  Edelmuth  —  in  der  andern 
Ecke  stelin  drei  unermessüche  geknetete   Teige  zu  Brod  imd 


156  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

Kuchen,  welche  nicM  zu  berühren  wir  der  Wirthsfrau  bei  un- 
seren Barten  schwören  mussten.  (Wir  sind  seit  Bsrlin  nicht 
rasirt  und  Magnus  excellirt.)  Die  übrigen  Möbel  sind  mehrere 
Gemälde,  etwa  3  Kopfstück  werth,  und  ein  Haken  zu  einem 
Kronleuchter.  An  der  Thür  hängt  eine  Schweinsblase  —  Sum- 
ma Summarum  ein  Saal. 

Uebrigens  erregen  wir  in  allen  Städten,  Flecken  und 
Dörfern,  in  die  wir  mit  erhobenen  Wanderstäben  einziehen, 
unerhörtes  Aufsehen ;  die  Mädchen  kommen  an  die  Fenster  und 
die  Gassenjimgen  lachen  uns  drei  Strassen  weit  nach.  Ein  Be- 
weis von  Popularität  und  weisser  Wäsche. 

Wir  vertragen  uns  ebenso  gut,  wie  wir  uns  amüsiren,  und 
das  ist  viel  gesagt.  Wir  sprechen  wechselsweise  von  Kapell- 
meistern, Fieberkranken  und  Homer;  da  hat  denn  Jeder  sein 
Thema  und  in  einem  Burschenliede  mit  Refrain  vereinigen  wir 
uns.  Auch  ist  das  Land  wimderschön ;  wir  sind  heute  bei  Son- 
dershausen durch  den  Thüringer  Wald  gegangen,  welcher  die 
edelsten  Buchen  und  die  tüchtigsten  Eichen  trägt,  unter  deren 
dichtverwachsenem  Laube  hin  und  wieder  eine  Quelle  läuft, 
in  der  Heydemann  seine  Reiseflasche  füllt.  Da  wü'd  nachge- 
dacht, gezeichnet  und  componirt.  So  findet  sich  zu  Ernst  me 
zu  Scherz  gleich  angenehmer  Anlass  und  durch  diese  erfreu- 
liche Abwechselung  werden  wii'  keinen  von  beiden  weder  über- 
drüssig werden  noch  erschöpfen.  — 

Es  ist  spät,  das  einzige  Talglicht  versagt  den  Dienst  und 
der  Mondschein  reicht  nicht  zu.  Morgen  um  fünf  geht's  fort. 
Gute  Nacht!  Gute  Nacht!"  — 

Baden,   14.  Sept.  1827. 

„ Ich  lebe  gewissermassen  hier  "vvie   der  hochselige 

Tantalus ;  es  liegen  mir  eine  Menge  Ideen  im  Kopf,  die  ich  gar 
zu  gern  mir  einmal  vorspielen  möchte  und  im  GeseUschafts- 
hause  ist  auch  ein  ganz  erträglicher  Flügel.  Ich  schleiche 
hinein,  aber  ein  Franzose  mit  seiner  jungen  blonden  Frau,  die 
zu  meinem  Unglück  musikalisch  sein  muss,  haben  die  Stube 
und  das  Instrument  in  BeschLvg  genommen.  Ich,  in  der  Hoff- 
nung,  dass  die  Leute  nach   f^ebüsster  Lust   das  Feld  räumen 


Felix'  Eusswanderung  nach  Süddeutschland.  157 

werden,  fordere  die  Dame  aiif,   zu  spielen,  ich  wäre  Amateur, 
hätte  schon  alles  mögliche  Schöne  gehört,   und  die  glaubt  es 
und  stümpert  drei  Rondos  und  ein  Dutzend  Variationen  her,  ich 
sagte  nach  Herzenslust  Irava^  comme  un  ange  (zum  Glück  war 
sie  ziemlich  angenehm  und  graciös),   nur  am  Ende  wurde  es 
mir  zu  toll,  ich  wollte  mich  empfehlen  —  Gott  bewahre!  muss 
spielen  und   spielen  und  da  kommt  denn  Amedee  Perier  dazu 
und    noch   ein   Paar    Franzosen,    und    denen   musste  ich  denn 
Alles,  was  mir  nur  in's  Gedächtniss  kommen  wollte,  vorreiten. 
Ich  wurde  an  Paris  errinnert   und  als  ich  die  Franzosen  ver- 
lasse,   begegnet    mir    im  Garten   Haizinger  mit  seiner  Frau 
(Mde.  Neumann),    die    alte  Bekanntschaft    wird  erneuert,  aber 
sie  müssen  bald  fortreisen,  wir  sollten  noch  ein  wenig  musici- 
ren,  Robert's  kommen  dazu  und  wir   gehen  Alle  zusammen  in 
den  Gesellschaftssaal  zurück.    Da  war  es  zwar  dunkel,  denn 
die  Saison  ist  schon   vorbei,    aber   das  genii't  wenig,  ich  gehe 
an  den  Flügel   und   nach    den   ersten  Griffen  versammelt  sich 
im   finsteren    Saal    eine   Gesellschaft  von    30  —  40    Personen, 
Franzosen,    Engländer,    Strassburger,    Weltbürger   (ich    meine 
Constant  mit  seiner  Frau)  und  die  applaudiren  nach  Herzens- 
lust in  der  Finsterniss.    Ich  musste  zweimal  spielen,  die  Hai- 
zinger sang  zwei  Arien  und  so  war  ein  Concert    organisirt. 
Ich  ^vurde  einer  Menge  Leuten  vorgestellt,  deren  Gesicht  ich 
aber  garnicht  sah,  erhielt  auch  Einladungen,  unter  andern  eine 
zum  Diner  nach  Strassburg,    weiss  nicht  wie  die  Leute  ausse- 
hen!   Robert  nimmt  mich  beim  Arm  und  geht  mit  mir  auf  und 
ab,  über    die  Oper  hin   und  her  sprechend;    auf  einmal   aber 
stürzt  Herr  Charpentier,  Verfasser   des    Chaferon   rouge    von 
Boyeldieu  und  mehrerer  Opern   von  Herold,  auf  mich  zu:  mon 
eher  amil  l  vous  etes  musicierij  je  suis  poete  ....  ü  faut  que  nous 
nous  fassions    applaudir  a  Paris!    Und   schlägt   nun  vor,   mir 
einen  Text  zu  geben,    der  sei  schon  halb  fertig,  heisst  Alfred 
le  grand^  ist  eine  komische  Oper,  il  y  a  du  tapage  et  du  pastoraUy 
ich  sei  grade  der  Mann  für  ihn  und  wir  müssten  mit  einander 
zu  den  Wolken  fliegen  oh  que  §a  sera  heau!  —  Was   Robert 
zu  dem  Allen  für  ein  Gesicht  machte!  Wie  er  den  sich  betrachtete ! 
Und  wie  er  dann  wegging,  von  Fat  und  dergleichen  murmelnd! 


158  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

Das  liätte  man  sehen  sollen.  Und  mm  kömmt  das  Beste.  Der 
Entrepreneur  der  Spielbank  war  wiithend  auf  mich.  Ich  hätte 
ihm  durch  mein  Spielen  eine  Menge  Leute  von  der  Eoulette 
weggelockt,  das  sei  gegen  seinen  Contrakt,  und  er  brachte  es 
dahin,  dass  das  Klavier  gestern  weggenommen  wurde.  Sogleich 
verschworen  sich  Robert's  und  Haizinger's  und  gaben  gestern 
in  einem  anderen  Saal,  wo  ein  anderes  Instrument  stand, 
eine  sehr  hübsche  Gesellschaft.  Erst  las  Robert  mit  der  Hai- 
zinger  ein  neues  Lustspiel  und  sie  las  wirklich  vortrefflich  und 
erhielt  vielen  Beifall ;  später  wui'de  Musik  gemacht ;  Haizinger 
jodelte  Oestreichisch,  Fräulein  von  W.  piepte  italiänisch,  die 
Neumann  sang  mit  ihrem  Mann  50  Verse  von  Fidelin  (Mutter, 
wie  wird  Dir?),  dazwischen  trommelte  ich  Etudes  von  Mosche- 
les,  die  in  Baden  grosses  Glück  machen,  phantasirte  auch 
und  die  Leute  waren  vergnügt  und  zufrieden.  Einige  alte 
Damen  weinten  bittere  Thränen  der  Wehmuth  und  Heydemann 
tröstete  und  rührte  sie  wechselsweise,  von  der  Zähi-e  der 
Wehmuth  oder  der  Wehmuth  der  Zälire  vieles  sprechend,  dage- 
gen hielt  sich  Magnus  mehr  zu  den  jungen  Damen  und  ich 
passte  auf  die  weisen  W^orte,  die  Benjamin  Constant  —  ver- 
schwieg, denn  er  war  den  ganzen  Abend  stumm;  so  fand  ein 
Jeder  sein  Vergnügen  und  aufs  Höchste  wurde  der  Spass 
getrieben,  da  Haizinger's  und  Eobert's  mit  uns  Studenten  oder 
vielmehr  Jungens  nach  der  goldenen  Sonne,  unserm  Wirths- 
hause,  gingen,  da  einiges  warme  Abendbrod  assen  und  mehr 
tranken.  Eine  lustige  Erzählung  jagte  die  andere,  die  Neu- 
mann copirte  das  ganze  Karlsruher  Theater,  vom  Souffleur  an; 
auch  die  Berliner  Bühne  musste  dran  und  ein  Gespräch  zwi- 
schen Seidel  und  Esperstädt  war  besonders  ergötzlich.  So  blie- 
ben wir  burschikoserweise  bis  1 2  Uhr  zusammen  und  ich  musste 
Haizinger  mehrere  Male  versprechen,  ihn  bei  der  Durchreise 
in  Karlsruhe  zu  besuchen.  —  Heute  nun  will  mir  Robert 
selbst  seine  Oper  vorlesen,  auch  Charpentier's  zweitem  Akt 
soll  ich  vor  Gewalt  zuhören  —  und  das  Alles  wegen  einiger 
Passagen  auf  einem  alten  Flügel." 


Felix  in  Heidelberg.  159 

Heidelberg,  20.  Sept.  1827. 

„0  Heidelberg,  du  schöne  Stadt,  allwo's  den  ganzen  Tag 
geregnet  hat,"  sagen  die  Knoten,  ich  aber,  ich  bin  ein  Bursche, 
ich  bin  ein  Kneipgenie,  was  kümmert  mich  der  Regen  ?  Es  giebt 
ja  noch  Weintrauben,  Instrumentenmacher,  Journale,  Kneipen, 
Thibaut's,  nein,  das  ist  gelogen,  es  giebt  nur  einen  Thibaut, 
aber  der  gilt  füi'  sechse.    Das  ist  ein  Mann!  — 

Ich  habe  eine  rechte  Schadenfreude,  dass  ich  nicht  aus 
blossem.  Gehorsam  für  Deinen  heutigen  Brief,  liebste  Mutter, 
diese  Bekanntschaft  gemacht  habe,  sondern  schon  gestern  (also 
24  Stunden  vor  Empfang  desselben)  ein  paar  Stunden  mit  ihm 
plauderte.  Es  ist  sonderbar ;  der  Mann  weiss  wenig  von  Musik, 
selbst  seine  historischen  Kenntnisse  darin  sind  ziemlich  be- 
schränkt, er  handelt  meist  nach  blossem  Instinkt,  ich  verstehe 
mehr  davon  als  er  —  und  doch  habe  ich  unendlich  von  ihm 
gelernt,  bin  ihm  gar  vielen  Dank  schuldig.  Denn  er  hat  mir 
ein  Licht  für  die  altitaliänische  Musik  aufgehen  lassen,  an  seinem 
Feuerstrom  hat  er  mich  dafür  erwärmt.  Das  ist  eine  Begeiste- 
rung und  eine  Gluth,  mit  der  er  redet,  das  nenne  ich  eine 
blumige  Sprache!  Ich  komme  eben  vom  Abschiede  her  und  da 
ich  ihm  Manches  von  Seb.  Bach  erzählte  und  ihm  gesagt  hatte, 
das  Haupt  und  das  Wichtigste  sei  ihm  noch  unbekannt,  denn 
im  Sebastian  da  sei  alles  zusammen,  so  sprach  er  zum  Abschiede: 
,.Leben  Sie  wohl  und  unsere  Freundschaft  woUen  wir  an  den 
Luis  de  Vittoria  und  den  Sebastian  Bach  anknüpfen,  gleichwie 
sich  zwei  Liebende  das  Wort  geben,  in  den  Vollmond  zu  sehen 
und  sich  dann  nicht  mehr  fern  von  einander  glauben."  — 

Aber  erst  muss  ich  erzählen,  wie  ich  dazu  kam,  zu  ihm 
zu  gehen.  Gestern  Nachmittag  wurde  das  Wetter  schlecht  und 
die  Langeweile  unter  uns  Dreien  war  gross,  da  fiel  mir  ein, 
dass  Thibflut  in  seinem  Buche  von  einem  ^,Tu  es  Petrus^''  ge- 
sprochen hatte  und  weil  ich  nun  denselben  Text  grade  com- 
ponire,  so  fasste  ich  ein  Herz  imd  einen  Frack  und  ging  gerade 
in's  Kaltethal,  falle  in's  Haus.  Er  kann  mir  das  Stück  nicht 
geben,  aber  andere  sind  da,  bessere,  er  zeigt  mir  sogleich  seine 
grosse  Bibliothek  von  Musik  aller  Völker  und  Zeiten,  spielt 
mir  vor  und  singt  dazu,   setzt  mir  die  Stücke  ordentlich  aus- 


160  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

einander  und  so  gingen  mehrere  Stunden  vorüber,  als  ein  Be- 
such kam,  dem  ich  sogleich  das  Feld  räumte,  ich  sollte  aber 
heute  früh  wiederkommen.  Was  mich  bei  alledem  am  meisten 
freute,  war,  dass  er  mich  garnicht  nach  meinem  Namen  gefragt 
hatte;  darauf  kam  es  üim  nicht  an,  ich  liebte  Musik,  das 
Uebrige  ist  einerlei,  und  da  ich  für  einen  Studenten  gehalten 
wurde,  hatte  man  mich  ungemeldet  in  die  Arbeitsstube  gelassen. 
Auch  heute  früh  waren  w^ir  wieder  zwei  Stunden  zusammen, 
da  fiel  es  ihm  erst  ein,  nach  meinem  Namen  zu  fragen  und 
war  er  vorher  freundlich  gewesen,  so  wurde  er's  jetzt  erst 
recht;  nun  wurde  musicirt  und  erzählt,  auch  gab  er  mir  ein 
prächtiges  Stück  von  Lotti  zum  Abschreiben  mit,  ich  versprach, 
es  ihm  heute  Abend  wiederzubringen,  aber  gleich  nach  Tische, 
als  ich  das  erträgliche  Wetter  gerade  zu  einem  Spaziergang 
auf  die  Eiesensteine  benutzte,  kam  er  selbst,  Thibaut,  eigen- 
händig nach  dem  Gasthofe,  um  mir  einen  Gegenbesuch  zu 
machen.  Ich  verfehlte  ihn  also  leider,  aber  dafür  fand  ich  ihn 
noch  nachher  zu  Hause  und  so  war  ich  ziemlich  den  ganzen 
Tag  bei  ihm,  Essens-,  Schreibens-  und  Promenirenszeit  ausge- 
nommen. Leider  muss  er  morgen  in  Geschäften  nach  Karlsruhe. 
Da  ich  um  gestern  um  ^}^1  Uhr  verliess,  vertrieb  ich  mir 
die  Zeit  und  ging  zum  Instrumentenmacher,  phantasire  hin  und 
her  auf  seinen  Instrumenten  und  als  ich  weggehen  will,  hat 
der  Mann  Hut  und  Stock  genommen  und  betheuert  mir,  ich 
müsse  Besseres  von  seinen  Sachen  sehen,  Herr  Sckröder  hätte 
einen  sehr  guten  Flügel.  Gut.  Nun  geht  es  im  Regen  zu 
Herrn  Schi^öder,  Studio.  Wir  kommen  an,  der  Instrumenten- 
macher stellt  mich  vor,  ohne  meinen  Namen  zu  wissen,  gleich- 
viel, ein  Mensch  kommt ;  und  dann  läuft  er  fort,  denn  er  muss 
wieder  arbeiten,  ich  soll  aber  ja  wiederkommen.  Nun  bin  ich 
allein  mit  dem  Studio  auf  seinem  Cubiculo.  Er  bittet  mich, 
mir  es  bequem  zu  machen,  ich  möchte  doch  eine  Pfeife  beim 
Phantasiren  rauchen,  eine  ungeheure  Dogge,  die  beim  Klavier- 
spielen belfert,  wird  unter  den  Sopha  geschafft,  —  „Hanne, 
eine  Flasche  Hochhehner!  die  müssen  wir  ausstechen,  Freund- 
chen!" —  Und  so  geschah's.  Dazwischen  spielte  ich  nun  nach 
Herzenslust,  bis  ich  satt  und  müde  war,  und  heute  Mittag  wird 


Felix  in  Horchheim  zur  Weinlese.  161 

dafür  der  Studio  zu  uns  eingeladen,  dafür  hat  uns  der  Studio 
wieder  auf  heute  Abend  zu  sich  eingeladen,  und  wer  nun 
läugnet,  dass  ich  ein  Kneipgenie  bin!" 

Cöln,  den  2.  October  1827. 

„Verzeihung,  liebe  Eltern,  dass  statt  meiner  heut  abermals 
ein  Brief  kommt,  es  ist  nicht  das  erste  Mal,  dass  ich  auf  Eure 
Vergebung  rechne  und  ich  hoffe,  dass  mein  jetziger  Fehler 
nicht  unverzeihlicher  sein  wird,  als  viele  andere;  ich  bleibe 
nämlich  noch  einige  Tage  länger  weg;  dafür  sehe  ich  aber 
auch  noch  alles  Schöne  und  erfahre  alles  Angenehme  und 
Nützliche,  was  ich  mir  nur  erträumen  konnte.  Du  sagst  in 
Deinem  letzten  Briefe,  liebe  Mutter,  „wenn  man  auf  Eeisen  sei, 
solle  man  alles  Sehenswerthe  erschöpfen,"  und  Du,  lieber  Vater, 
schreibst  „ich  solle  meine  Sinne  und  mein  Glück  gebrauchen." 
Meine  Sinne  habe  ich  gebraucht,  um  hier  Alles  herrlich  und 
reizend  zu  finden,  so  will  ich  denn  auch  noch  mich  meines 
Glücks  bedienen,  um  das  Herrliche  zu  gemessen. 

Magnus  erhielt  die  Nachricht,  er  müsse  am  sechsten  iu 
Berlin  sein,  ihm  stimmte  Heydemann  bei,  und  obwohl  ich 
Schelble  halb  und  halb  hatte  versprechen  müssen,  wieder  durch 
Frankfurt  zu  kommen,  um  daselbst  im  Cäcilienverein  der  Auf- 
führung eines  mir  unbekannten  Oratoriums  von  Händel  beizu- 
wohnen, so  war  ich  doch  bestimmt,  denselben  Weg  mitzu- 
machen, zumal  da  das  Wetter  so  unfreundlich  war,  dass  ich 
in  Horchheim  kaum  das  Haus  verlassen  konnte.  Gestern  Abend 
wül  ich  abreisen,  da  mit  einem  Male  werden  die  Berge  frei, 
die  Nebel  fallen,  der  Mond  geht  hell  auf  und  die  Nachricht 
kommt,  dass  auf  dem  ganzen  rechten  Eheinufer  von  Horchheim 
bis  Ehrenbreitsteiu  übermorgen  Weinlese  sei.  Da  nahm  mich 
Onkel  in's  Gebet,  er  stellte  mir  vor,  wie  schön  und  glänzend 
die  Lese  sein  solle;  zwei  Tage  nach  dem  Ende  reist  er  selbst 
ab  und  bleibt  gerade  den  Cäcüienvereinstag  in  Frankfurt,  ich 
möchte  doch  mit  ihm  gehn,  er  wolle  mi<5h  nach  Berlin  zurück- 
fahren, ich  würde  ihm  und  der  Tante  auch  noch  die  Langeweüe 
vertreiben,  und  da  ich  vorschützte,  ich  müsse  meinen  Klavier- 
auszug fertig  machen,  so  brachte  er  mir  das  schönste  Noten- 

Die  Familie  Mendelssotn,  L  •»■*• 


162  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

papier  und  stellte  mir  vor,  wie  viel  ruliiger  und  heiterer  ich 
würde  arbeiten  können.  Nun  —  da  konnte  ich  denn  garnicht 
gegenhalten.  Ich  mache  in  Horchheim  diese  unangenehme 
Arbeit  fertig,  so  bin  ich  ihrer  für  Berlin  los,  ich  höre  den 
Cäcilienverein,  zu  dem  Schelble  mir  zu  Ehren  durch  eigne 
Circulare  einladet,  ich  sehe  die  Weinlese  mit  an,  —  Gott!  Ihr 
müsst  ja  verzeihen,  es  ist  gar  zu  schön!  — " 

Im  October  kehrte  Felix  nach  Berlin  zurück,  mit  neuem 
Muth  zum  Schaffen,  die  Verstimmung  über  die  misslungene 
Oper  war  verwunden. 

Im  Herbst  1827  wurde  abermals  eine  fühlbare  Lücke  in 
den  schönen  Ki-eis  von  Jugendfreunden  gerissen:  Klingemann, 
der  durch  Geeist  und  Witz  das  munterste  Element  gewesen 
war,  ging  nach  London. 

Sofort  aber  entspann  sich  eine  lebhafte  und  auch  in 
späteren  Jahren  nie  ganz  abgebrochene  Korrespondenz,  aus 
deren  Anfang  hier  Einiges  folgen  mag  und  die  auch  weiterhin 
noch  verschiedentlich  benutzt  werden  wird,  da  sie  gerade  für 
die  Zeiten,  aus  denen  andere  schriftliche  Aufzeichnungen  nicht 
vorliegen,  oft  das  einzige  Material  bietet  und  Fanny  mit 
keinem,  nicht  der  Famüie  Angehörigen  so  ausführlich  korre- 
spondirt  hat. 

Der  erste  Klingemann'sche  Brief  an  das  Mendelssohn'sche 
Haus  lautet:    7.  Decbr.  1827,  London. 

Verehrtester  Herr  Stadtrath  und  verehi'teste 

Frau  Stadträthin! 
Unvergleichliche  junge  Damen! 
Trefflichste  Squires  Felix  und  Paul! 

„Der  Unterzeichnete  ging  bislang  in  Westend  und  der 
City,  Westminster  und  Southwark,  in  den  Grafschaften  Jüd- 
dlesex,  Surrey  u.  s.  w.  mit  einer  schweren  Last  der  sträflichsten 
Undankbarkeit  umher  —  aber  so,  wie  Hass  zur  Liebe  gehört, 
so  gehören  innere  Vorwürfe  und  Kasteiungen  zur  Tugend,  und 
ich  bin  tugendhaft!  Man  kommt  aber  leicht  in's  Sündigen 
hinein,  wenn  unter  dem  Eegünent  der  schweren  Luft  der  Leib 
über  den  Geist  befiehlt,   wenn   man  klassisches  Mtdton,  halb- 


Klingemanns  erster  Brief  a  us  London,  168 

gahres  Gemüse,  preiswürdigen  Applepye  und  dicken  Portwein 
reichlich  verzehren  muss  gegen  die  schwere  Luft  —  wenn  man 
die  schwere  Luft  in  meilen weiten  Stationen,  tapfer  schreitend, 
wieder  verzehren  muss  gegen  die  schwere  Kost,  und  endlos 
schlafen  muss,  um  wieder  gehen  und  vermöge  des  Gehens 
wieder  essen  zu  können  u.  s.  w.  Und  nebenbei  habe  ich  auch 
ein  Amt,  dessen  ich  warten  muss,  da  es  nicht  auf  mich  wartet ! 
Und  zwischen  dieser  chaotischen,  materiellen  Wirklichkeit 
schwimmen  die  zierlichen  Trümmer  meiner  geliebten  und  ge- 
lobten Berliner  und  Niedersächsischen  Vergangenheit  elegisch 
umher  und  verwirren  mich  armen  Menschen  noch  mehr,  — 
im  Hyde-Park  liegt  mancher  Seufzer  von  mir,  über  den  irgend 
ein  wohlgenährter  John  Bull  gestolpert  sein  mag. 

„Hoic  do  you  like  England? '"''  das  ist  die  Frage,  die  mir 
jede  Miss  oder  Mistress,  der  ich  „introduced"  werde,  wie  einen 
Dolch  auf  die  Brust  setzt,  worauf  ich  denn  jedesmal  die  Backea 
voU  nehme  und  mit  „Exceedingly  well!''''  unerschrocken  ripostire. 
Und  ich  lüge  nicht,  es  ist  hier  alles  in  eine  Fremdartigkeit 
(zugleich  mit  einer  unerwarteten  Artigkeit  füi'  Fremde)  getaucht, 
an  der  man  schon  einige  Jahre  zehren  kann  —  Charakter, 
Neuheit,  Fülle.  Freilich  haben  meine  Vorderzähne  schon  be- 
deutend an  der  Aussprache  des  th  gelitten,  freilich  zähme  ich 
mit  Mühe  meinen  höflichen  deutschen  Eücken,  der  es  doch  hier 
nicht  wissen  soll,  dass  mein  Hals  eine  fashionable  Verbeugung 
macht,  freilich  arbeite  ich  wie  ein  Schwimmer  an  der  Leine 
im  schwerfälligen  Eins,  Zwei,  Drei  im  Englischen  weiter,  ohne 
Witz  und  Wortspiel,  froh,  wenn  ich  nur  grade  die  Hausmanns- 
kost des  gewöhnlichen  Ausdrucks  finde,  während  ich  in  der 
lieben  Frau  Muttersprache,  um  mit  dem  vielgereisten  Schel- 
mufsky  zu  reden,  ganz  behaglich  umhersch^^imme,  —  aber  der 
Comfort!  Dieser  Comfort  ist  der  grösste  Philister,  den  ich 
kenne:  Gegen  10  Ulir  steht  er  auf.  Er  tritt  in  sein  kleines 
wohnliches  Zimmer,  etwa  halb  so  hoch  wie  das  der  Gesandtschafts- 
kanzlei in  Berlin,  aber  ganz  bequemüch  ausstaffirt,  im  Kamin 
brennt  ein  lustiges  Kohlenfeuer,  das  Wasser  kocht,  der  Früh- 
stückstisch ist  gedeckt  und  der  nöthige  Apparat  gehörig  auf- 
gepflanzt, —  aber   das  Auge   ruht   mit   besonderem  Behagen 

11* 


164  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

auf  der  ellenlangen  Zeitung  mit  leading  artidesj  news,  Prozessen, 
Polizeiverhandlungen  und  mannigfaltigen  Skandalen  angefüllt! 
Alles  öffentlich,  namentlich,  persönlich,  oft  dramatisch,  lokal 
und  im  Geist  des  Augenblicks  —  es  ist  mir  oft,  als  läse  ich 
ein  Stück  des  Aristophanes.  Die  Kohlen  knistern,  der  Kaffee 
dampft,  zwischen  jedem  Zuge  aus  der  Tasse  liegt  ein  inter- 
essantes elo'pement  einer  romantischen  jungen  Miss,  oder  ein 
gewagter  kühner  Einbruch  (im  Vorbeigehen  gesagt,  gestohlen 
wird  hier  fürchterlich!)  oder  ein  dreadful  accident  von  durch- 
gegangenen Pferden  oder  umgefallenen  Postkutschen,  kurz, 
der  Climax  meiner  Existenz  ist  gerettet,  und  derselbe,  der  als 
27  jähriger  Jüngling  unter  dicken  Bäumen  tagtäglich  Kaffee 
trank  und  seine  Freude  an  unschuldigen  Erscheinungen  der 
Natur,  wie  Raupen  und  Ameisen,  hatte,  koimte  nicht  anders 
werden,  wie  er  29  Jahr  alt  wurde!  —  Die  Türken  drohen, 
die  Spanier  hängen,  die  Franzosen  opponii-en,  die  Stocks  fallen, 
die  Taillen  (der  Damen)  steigen  —  welche  bedenkliche  Zeichen 
der  Zeit!  Gigot's  sind  hier  freilich  auch  durchaus  in  der 
Mode,  aber  was  will  das  sagen?  —  Meinem  Freunde  Felix 
werde  ich  nächstens  über  die  Cornbill  schreiben  und  über  die 
Cultur  des  Backenbarts.     Es  giebt  hier  enorme!  — 

Unsere  hannöver'sche  Colonie  ist  aber  so  übel  nicht. 

Wir  executiren  den  Spohr,  ich  trommle  in  der  Ouvertüre  den 
Bass  vierhändigerweise  mit  einer  jungen  Miss  und  wir  stehen 
Alle  wie  die  Orgelpfeifen  um  das  Piano  herum  und  singen: 
„Kalt  und  starr,  doch  majestätisch  liegt  der  Eajah  auf  der 
Bahre,"  was  wir  so  übersetzt  haben:  ,^CoId  and  stiff  and  yet 
majestic  on  the  Shutter  ihere  he  lies'-^  sowie  das  beliebte  „dahin, 
dahin"  ganz  glücklich  mit  tJiüher!  thitherü  —  Femer  spielen 
■wir  Trios  von  Hummel  und  Beethoven  —  ich  aber  nicht 
Violine,  und  einige  Beethoven'sche  Symphonien  zu  4  Händen, 
nebst  Wlüst  zu  8  Händen.  Bei  einigen  imsrer  Landsleute,  die 
länger  hier  gewesen  sind,  ist  die  Lingua  franca,  in  der  sie  sich 
ausdrücken,  nicht  übel  —  als  ich  kurz  nach  meiner  Ankunft 
etwas  heiser  sprach,  fragte  man  mich:  „Haben  Sie  auch  schon 
einen  Kalten  gefangen?"  und  ich  übersetzte  es  mir  in's  Englische 
zurück  und  verstand  es.  — 


Klingemanns  erster  Brief  aus  London.  165 

Ich  wollte  nur,  icli  wäre  weniger  kurzsichtig  —  besonders 
der  Engländerinnen  wegen!  Sie  können  keinen  Eierkuchen 
"backen  und  beschäftigen  sich  meist  mit  unnützen  Dingen,  aber 
sie  sehn  verzweifelt  gut  aus.  Solch  eine  peripatetische  Pensions- 
anstalt, wie  sie  täglich  zu  Dutzenden  in  Eegents  Park  in  die 
freie  Luft  getrieben  werden,  kommt  mir  vor,  wie  ebensoviel 
pathetische  Peris,  Eine  noch  schöner  wie  die  Andi'e,  paarweis 
aufmarschirt,  die  grösseren  zusammen  und  ihrer  siegenden 
Gaben  sich  wohl  bewusst;  den  Eücken  deckt  die  strenge  Aya, 
die  jede  Mannsperson  als  ihren  natüi'lichen  Feind  anglotzt. 
Ich  hatte  mir  grösstentheils  von  Paris  her  eine  ganz  falsche 
Vorstellung  von  den  englischen  Damen  gemacht,  sie  waren 
damals  so  lange  von  der  übrigen  Welt  abgeschnitten  gewesen, 
dass  sie  zu  eigenthümlich  geworden  waren,  jetzt  sind  sie  aber 
kosmopolisirt  absolute  Grazien.  Sogar  das  Hausmädchen  bei 
Goltermann's  sieht  aus  wie  eine  Prinzessin  oder  Hebe.  Lächerlich 
gelehrt  sind  sie  übrigens,  die  Damen;  bei  Moscheies  fragte 
mich  eine,  ob  ich  den  Kant  gelesen  hätte,  was  ich  nicht 
sonderlich  bejahen  konnte;  auf  ihre  Versicherung,  dass  sie  ihn 
gelesen,  konnte  ich  ihr  bloss  mit  der  bekannten  Geschichte 
von  Kant  und  dem  Knopf  des  Studenten  dienen;  dagegen  war 
sie  verwundert,  dass  ich  den  ganzen  Walter  Scott  gelesen 
hätte. 

Es  ist  aber  unglaublich,  wie  patriotisch  deutsch  man  hier 
wird!  Das  weite  Meer,  was  einen  vom  festen  Lande  trennt, 
macht  alles  Neue  von  dort  her  rührend  mchtig  und  verklärt 
alles  Zurückgelassene  dem  reichen  England  zum  Trotz.  — 
Berlin  kommt  mir  durchaus  vor  wie  ein  Eldorado  und  ein 
Mendelssohn'scher  Sonntag  wie  ein  Kapitel  aus  einem  Zauber- 
roman, alle  Ironie  wird  sentimental  und  die  VorUebe  für  das 
Heimische  ist  so  stark,  dass  wii*  uns  für  heute  Abend  das 
Wort  gegeben  haben,  zusammen  zu  kommen,  um  einmal  „besten 
Bauern"  zu  spielen,  wobei  wir,  wenn  Goltermann's  meinen 
Wink  verstanden  haben,  wahrscheinlich  deutschen  Kartoffel- 
salat zum  Abendessen  bekommen.  Ich  citire,  furcht'  ich,  Berlin 
zu  oft  und  rühme  zu  Vieles  daran,  sogar  den  dortigen  Feuer- 
lärm  habe   ich  zu  vertheidigen  gesucht,   weil  man  der  Süssig- 


166  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

keit   des   Schlafs    erst  bewusst   wird,   wenn    man   nacli   einer 
Störung  wieder  einschläft.  — 

Mit  Berichten  für  die  musikalische  Zeitung  gehe  ich  stark 
mn,  ich  habe  Oberon  gesehen,  den  Freischütz,  werde  nächstens 
in's  SeragUo  (Entführung)  gehn,  und  dann  noch  einige  englische 
Opern  sehn,  wozu  der  Himmel  seinen  Segen  verleihen  möge. 
Bie  Fabrikation  einer  solchen  Oper  setzt  sich  folgendermassen 
buchstäblich  zusammen:  Einer  schreibt  das  Stück  in  den 
neunziger  Jahren  vorigen  Jahrhunderts  und  ein  Mr.  Horace 
komponirt  es;  woraus  er  seine  Musik  zusammengebracht,  ist 
fabelhaft  und  vorhistorisch.  Jetzt  wird  die  Oper  wieder  her- 
vorgesucht und  von  einem  neuen  Dichter  bearbeitet,  ein  Herr 
Cookes  oder  so  schreibt  eine  neue  Ouvertüre  dazu,  noch  ein 
Anderer,  dessen  Namen  mir  nicht  gleich  beifällt,  macht  Gesang- 
stücke mit  Ausnahme  derer  für  Braham,  die  dieser  sich  allein 
fabricirt,  die  Primadonna  Mme.  Feron  chromatischen  Andenkens 
bringt  ihren  Part  aus  Italien  mit  von  Mercadante  oder  einem 
andern  Italiäner,  und  dann  noch  ein  neapolitanisches  Volkslied 
»dt  Variationen  —  was  dann  noch  bleibt,  ist  von  Horace  bei- 
behalten. Dieses  Stück(werk)  hiess  sonst  the  Pirate  und  hat 
jetzt  die  Vogue  unter  dem  Namen  Isidore  de  Merida  oder  t}id 
De&üs  Creek. 

Dr.  H.  hat  Verwandte  in  Deptford,  eine  Familie  B.,  die 
dort  eine  Fabrik  hat,  und  hat  mich  da  als  —  Sänger  einge- 
führt! Man  kann  in  der  That  nur  in  einem  fremden  Lande 
und  wenn  man  ganz  neu  ist,  so  dreist  sein,  —  mir  wurde  vor- 
her ohne  Weiteres  die  Parthie  des  Don  Juan  zugetheilt  und 
ich  habe  sie  gesungen!!  —  Deptford  ist  mehr  als  eine  starke 
deutsche  Meile  von  meinem  Westend,  imd  es  würde  in  Deutsch- 
land abenteuerlich  genug  sein,  sich  dahin  zum  Thee  zu  begeben, 
hier  setzt  man  sich  auf  eine  der  vortrefflichen  Stades  und  ist 
in  einer  halben  Stunde  dort.  —  Diese  Stages  sehe  ich  nie  ohne 
das  grösste  Behagen,  vier  prächtige  Pferde  rollen  mit  dem 
grossen  Wagen,  an  dem  die  Passagiere  herumhängen,  wie  die 
Wespen  um  eine  süsse  Birne,  so  munter  in's  Land  hinem,  dass 
mir's  Herz  aufgeht,  wenn  ich  an  den  nächsten  Frühling  denke, 
wo  sie  mich  —  an  einem  Tage  80  Meilen  weit  —  auf  den  ebenen 


Klingemaims  erster  Brief  aus  London.  167 

Strassen  durch  das  hellgrüne  Hügelland  voller  Städte,  Flecken 
und  Cottages  nach  Schottland  hinbringen  sollen.  Schon  nm 
London  herum  in's  Land  hinein  ist's  hübsch,  lauter  Wohnungen 
und  Wiesen  ringsum,  immer  in  sanften  Hügeln,  dann  und  wann 
die  Themse,  einzelne  Parks,  Felder,  —  und  noch  schöneres 
Grün  draussen,  obgleich  das  Gras  schon  einen  ungewöhnlich 
frühen  Schnee  und  Frost  ausgehalten  hat. 

London  ist  aber  zu  gross,  das  habe  ich  gleich  gesagt.,  doch 
sie  hören  nicht  darnach  und  bauen  immer  weiter,  ganz  in's 
Lächerliche  hinein.  Die  Häuser  werden  zuletzt  noch  die  Men- 
schen miethen  müssen  und  nicht  die  Menschen  die  Häuser,  es 
ist  auch  gar  kein  Ende  abzusehen  und  das  Ungeheuer  mag  noch 
manchen  Flecken  verschlingen,  ehe  es  satt  wird.  Se.  Majestät 
unser  allergnädigster  König  bauen  auch  mannigfaltig,  aber  nach 
derselben  Theorie,  wie  der  Hofschneider  die  königlichen  Eöcke 
machen  muss;  der  neue  Frack  wird  nämlich  einer  ganz  ähn- 
lichen Figur  angepasst,  der  Schneider  muss  jede  vorkommende 
Falte  herausschneiden  und  dann  wieder  zusammennähen.  Auf 
gleiche  Weise  wird  der  neue  Palast  gebaut;  wenn  eine  Kuppel, 
oder  irgend  ein  Vorsprung  nicht  gefällt,  werden  sie  wieder 
heruntergenommen  und  was  anderes  dafür  hingesetzt.  Die 
Anlage  von  Begents  FarJc  und  Regents  Street  ist  aber  in  der 
That  das  Grossartigste,  was  ich  kenne,  beinahe  noch  schöner, 
als  die  Linden.  Das  Beste  aber  ist  die  City,  es  ist  ein  wahres 
Vergnügen,  sich  durch  die  Massen  von  Wagen,  Kohlenträgem, 
Spitzbuben  und  anderen  ehrlichen  Leuten  bis  zu  Birch's  klassi- 
scher Mockturtle-Suppe  in  der  Nähe  der  Bank  durchzuarbeiten! 
Es  ist  wirklich  etwas  Dämonisches  in  dem  ungeheuren  wüsten 
Treiben,  es  ist  eine  Ordnung  da,  von  der  man  aber  kaum  die 
Gesetze  kennt.  —  Geht  man  aber  an  einem  Sonntage  durch 
die  Strassen,  in  denen  man  an  den  Alltagen  buchstäblich  sein 
eigenes  Wort  nicht  hören  kann,  so  erschrickt  man  fast  vor 
der  Stüle.  So  melancholisch  man  auch  die  englischen  Sonntage 
auf  dem  Festlande  darstellt,  der  Kontrast  ist  doch  noch  grösser, 
als  man  es  sich  dort  denkt  —  die  Langeweüe  schon  muss  die 
Kirchen  füllen.  Ueber  der  Stadt  hängt  der  unbeschreibliche 
dicke,  gelbe  Nebel,  der  auch  wohl  gar  in's  Zimmer  zieht,  alle 


168  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

Läden  sind  geschlossen,  die  Zeitung  erscheint  nicht,  eine  k^g- 
liche  Glocke  jammert  die  andächtige  Gemeinde  zusammenj  die 
englischen  Familien   amüsiren  sich   Mittags   nnd  Abends   am 
Sonntag  oline  fremde  Hülfe  ganz  auf  ihre  eigene  Hand,  selbst 
in  der  Lektüre  wird  eine  Auswahl  getroffen  und  Theater  ist 
gamicht   denkbar.     Mich   berührt  es  freilich  nicht,  wir  sind 
regelmässig  in  einem  der  landsmännischen  Häuser  gut  aufge- 
hoben, aber  der  allgemeine  Zustand  überkriecht  einen  doch  zu 
Zeiten  unwillkürlich  und  man  bekennt  sich  lowspirited.    Dass 
wir  in  Deutschland  am  Sonntag  Theater  haben,  können  sie  hier 
am  wenigsten  begreifen,  es  erscheint  ihnen  gradezu  sündhaft. 
Es  half  mir  nichts,  dass  ich  einer  Miss  dagegen  argumentirte, 
indem  ich  fragte,  ob  ihr  ihr  Anzug  am  Sonntag  weniger  Ver- 
gnügen mache,   ob  sie  mit  Appetit  ässe  oder  Thee  tränke  — 
es  blieb  ihr  sündhaft.  —  La  einem  Stücke  haben  wir  Deutschen 
es  aber  besonders  gut  hier,  man  denkt  sich,  dass  wir  Alle  mit 
einer  Querpfeife  oder  einem  Piano  zur  Welt  kommen  und  dass 
jeder  Deutsche  a  priori  voU   Musik  steckt.    Die  guten  Leute 
haben  einen  rührenden  Sinn  für  Musik  und  den  unvergleich- 
lichsten Magen   zum  Anhören,    wie  die  Sträusse   packen   sie 
Kieselsteine  und  Bonbons  nebeneinander.     Und  lang   —  lang 
ist  hier  alles;  ich  glaube,  Beethoven  war  ein  Engländer.    Aber 
die  Austern!  die  sind  desto  kleiner  und  zierlicher !    Was  würde 
der  grosse  F.   sagen,  wenn  er  aus  meinem  Fenster  nur  über 
die  Strasse  zu  sehen  brauchte,    um   sie  appetitlich   in  einem 
kleinen  hölzernen  Gefäss  schwimmen  zu  sehen.    Und  nicht  jene 
plumpe,  fleischige  Holsteiner  Masse  —  nein,  so  zart  und  elegisch 
—  ordentlich  sehnsüchtig  sehen  sie  wie  Augen  aus  dem  Wasser 
heraus,  mit  waliren  Liebesblicken.    Und  dann  der  starke,  braune 
männliche  Gesell  Porter,  in  den  eigenthümlichen,  blanken  zinner- 
nen Krügen,  tapfer  schäumend !  Der  grosse  F.  würde  roth  werden 
vor  Versrikü-orew. 

Ich  aber  wurde  blass  von  der  See.  Die  See  ist  der  rechte 
grosse  Durchbruch.  Vor  einigen  Sonntagen  sah  ich  auf  einem 
Diner  eine  muntere  kleine  Frau  wieder,  mit  der  ich  auf  dem 
Dampfschiff  herübergekommen  war.  „  You  looked  very  miserabley^*- 
sagte  sie  lachend,   ,,yow  are  qxiite  changed  now!^^    In  der  That 


Klinsremanns  erster  Brief  aus  London.  169 


'ö 


schaute  ich  etwas  bleichen,  wüsten  Antlitzes  aufs  graue  Meer, 
auf  dem  Abends  der  breite  Mondschein  wie  ein  unendlicher 
Seufzer  lag  —  doch  war  ich  nicht  seekrank  und  hatte  in  meiner 
gänzlichen  Apathie  grade  noch  Klarheit  genug  zum  Träumen. 
So  blieb  ich  immer  auf  dem  Verdeck,  Grog  und  Schiffszwieback 
zu  meiner  einzigen  Nahrung!  Einige  vielgereiste  Gesellen 
spielten  um  Champagner  und  hatten  nachher  die  Frechheit, 
mir  ein  Glas  anzubieten  —  ich  hätt'  es  ümen  aus  der  Hand 
schlagen  mögen!  Es  war  mir  aber  eine  Erinnerung  an  meine 
früheren  Genüsse  verblieben,  und  ich  sah  jedesmal  mit  Neid 
den  dicken  norwegischen  Consul  seinen  guten  Kaffee  auf  dem 
Verdeck  schlürfen.  Eine  Dame  nach  der  andern  verschwand, 
aber  die  kleine  Frau  bUeb  immer  oben,  mit  hellen  Augen,  las 
vor,  Gott  weiss  was,  oder  spielte  Schach.  —  Das  waren  aber 
aUes  nur  Episoden,  im  Uebrigen  war  aUes  ruhig,  heiter  und 
glatt,  die  See  still  und  eben,  warmer  Sonnenschein  und  milder 
Wind,  nichts  von  Sturm  und  Wellen.  Die  See  ist  nicht  bloss 
ein  grosser  Durchbruch,  sie  ist  auch  ein  grosser  Gedankenstrich. 
Die  Elbe  gehört  schon  mit  dazu.  Wie  ich  am  hellen  Morgen 
des  1.  September  in  Hamburg  am  Hafen  war,  als  ein  Boot  den 
einsamen  Passagier  mit  seinen  wenigen  Habseligkeiten  durch 
den  Schiffslärm  und  durch  die  Kommenden,  Begleitenden,  Ab- 
schiednehmenden und  Glückrufenden  an's  Dampfschiff  gebracht 
hatte,  fing  der  Gedankenstrich  an  und  schnitt  die  schöne  Phrase 
ab,  — der  Dampfkessel  brauste  den  Bass  zu  dem  Liede:    „Es 

ritten  drei  Eeiter  zum  Thore  hinaus  —  ade!" 

Doch  ich  will  den  empfindsamen  Handwerksgesellen  sehen, 
der  nicht  höchlich  begeistert  wird,  wenn  man  das  Zeichen  zur 
Abfahrt  giebt  und  der  über  dem  Eauch  aus  der  Dampfröhre 
nicht  den  aus  seiner  Mutter  Kaffeetopfe  vergisst.  Am  Abend 
wurde  es  vollends  prächtig,  wir  kamen  in  die  offene  See,  das 
Schiff  giug  höher,  der  bewusste  Mond  kam  und  der  Himmel 
hing  voller  Pauken  und  Trompeten.  Die  kleine  Frau  lachte 
.  zwar  über  meinen  schwindelnden  Gang,  ich  fasste  aber  Posto  in 
meiner  Erhabenheit,  die  ich  bei  Lutter  und  Wegener  wenigstens 
mit  2  Thlr.  hätte  bezahlen  müssen,  hier  aber  ganz  umsonst 
hatte,  —  die  ganze  Vergangenheit  sank  in's  Meer  und  ich  stieg 


170  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

in  das  Spinde  zu  ländlichem  Schlaf.  Am  anderen  Tage  kam 
die  Apathie,  am  dritten  Morgen  aber  lag  die  Küste  von  Essex 
vor  uns,  mit  weissen  Schlössern,  grauen  Thürmen  und  braunen 
Dörfern.  Wir  kamen  bald  in  Smooth  water^  alle  Leiden  ver- 
schwanden, der  innere  Mensch  wurde  wieder  konsistent,  und 
sah  munter  umher,  vor  dem  Ausfluss  der  Themse  tanzten 
Hunderte  von  Schiffen  einen  grossartigen  Cotülon,  von  dessen 
Ordnung  ich  nicht  mehr  verstand,  als  die  antecotillonische  Mama 
von  einem  wirklichen,  in  dem  sie  ihre  Tochter  nach  allen  Rich- 
tungen hingetrieben  sieht.  Jetzt  wurde  unsere  Fahrt  ein  Tri- 
umphzug, freilich  ein  umgekehrter,  den  merry  England  über  xms 
liieit  —  der  Schiffs-Cotillon  wurde  in  der  Themse  zur  Ecossaise 
—  in  langer  Reihe  zogen  sie  hinunter  und  hinauf,  Dampfböte 
figurirten  als  lustige  Gesellen  und  glitten,  mit  Passagieren  und 
Musik  ausstaffii-t,  munter  vorbei,  —  die  Dörfer,  Landhäuser, 
Flecken  und  Städte  an  den  Ufern  sahen  vergnügt  zu,  bis  sie 
zu  immer  ansehnlicheren  und  kompacteren  Matronen  und  aus 
ihnen  zuletzt  London  selbst  wurde  —  Schiffe,  Schiffe  und  immer 
Schiffe,  Masten  ohne  Zahl,  als  wären's  nur  soviel  Bohnenstangen 
beim  Pächter  Baumann  auf  der  Meierei.  Um  3  Uhr  landeten 
wir  am  alten  Tower,  nach  abgemachten  Pass-  und  Acciseweit- 
läuftigkeiten  fuhr  mich  ein  huii;iger  Mach  durch  die  Länge  von 
London,  die  ich  nicht  schon  zu  Schiffe  durchzogen  hatte,  und 
ich  sass  endlich  am  Abend  glücklich  bei  Goltermann's,  die  mir 
ihr  Haus  zum  Absteigequartier  angeboten,  beneidete  den  nor- 
wegischen Consul  nicht  fürder  um  seinen  Kaffeegenuss  und 
hörte  zufrieden  der  Diskussion  über  Trade  und  das  neue  Mi- 
nisterium im  besten  EngKsch  zu. 

Ueber  die  veinifene  Londoner  Theuerung  kann  ich  mich 
nicht  beklagen;  als  Einzelner  lebe  ich  hier  mit  300  Lst.  sehr  be- 
quem, aber  die  Familien  haben's  schlimmer,  das  nöthige  Haus  und 
die  Dienstboten  erfordern  das  Doppelte.  Ich  bin  also  zu  einer 
ewigen  Jugend  verdammt,  trotz  der  Berliner  Vorhersagungen 
wird  aus  meiner  Einförmigkeit  so  bald  keine  Zweiförmigkeit  und 
ich  gewinne  Wetten.  Einstweilen  haben  die  neuen  Umgebungen 
mAUches  Stück  Jugend  wieder  zu  Tage  gefördert,  so  findet 
das  hiesige  Theater  einen  neuen  Menschen  an  mir,  namentlich 


Klinsremanns  erster  Brief  aus  London.  171 


*t> 


habe  ich  englische  Lustspiele  mit  dem  grössten  Behagen  ge- 
sehen. Ich  mag  aber  noch  nicht  entscheiden,  ob  die  Schau- 
spieler wirklich  so  eigenthümüch  und  natürlich  sind,  wie 
sie  mir  zum  grossen  Theil  erscheinen  oder  ob  Vieles  daran 
eben  der  Neuheit  und  Fremdartigkeit  zuzuschreiben  ist.  Die 
Spieler,  die  mir  bis  jetzt  als  ganz  vortrefflich  vorkommen, 
würden  eine  ordentliche  Liste  bilden.  Auch  das  Publikum 
scheint  mir  theilnehmender,  es  lässt*sich  in  einer  gewissen 
kritischen  Unschuld  durch  ki'äftig  vorgebrachte  Tiraden  zum 
Klatschen  bewegen  und  lacht  bei  Spässen  herzhaft.  An  den 
Theatereingängen  aber,  ehe  die  Thüren  aufgemacht  werden, 
rufen  Polizeileute :  .,  Gentlemeny  take  care  of  your  pocJcets  in  going 
in  —  taTce  care  of  pickpochets  Gmtlemenl'''  —  Und  ein  Jeder 
sichert  seine  Habseligkeiten.  Ein  hiesiges  Blatt,  der  Herold, 
giebt  die  Zahl  der  Spitzbuben  beiderlei  Geschlechts  auf 
80—100,000  an. 

DenU.  Decbr.  So  wenig  als  Rom  in  einem  Tage  gebaut 
wurde,  ist  mein  Brief  am  vorigen  Posttag  fertig  geworden,  die 
rauhe  Hand  der  Dienstpflicht  griff  dazwischen.  Gestern  am 
zehnten*)  habe  ich  Hmen,  verehrtester  Herr  Mendelssohn,  in 
Gedanken  alles  mögliche  Glück  gewünscht  und  hin  und  her 
gerathen,  ob  all  das  niedliche  junge  Volk  Ihnen  zu  Ehi-en 
tanzte,  pfiff,  agirte  oder  wie  es  sonst  vermummt  war  —  ich 
werde  es  hoffentlich  bald  erfahren.  Ich  habe  die  grösste  Sehn- 
sucht nach  doitigen  Neuigkeiten,  mich  interessirt  Alles,  selbst 
das  Strassenpflaster  und  die  litterarische  MittwochgeseUschaft. 
Sollten  Sie,  bester  Herr  Mendelssohn,  sich  nicht  augenblicklich 
aufgelegt  fühlen,  mir  zu  schreiben,  so  befehlen  Sie  es  wenig- 
stens strenge  einem  Ihrer  hoffiaungsvoUen  Kinder  —  etwa 
dem  ältesten  Sohne  —  alles  so  ausführlich  wie  möglich  im 
rechten  Cbronikenstyle." 

Fanny  an  Klingemann. 

Berlin,   23.  Decbr.  27. 
„Erinnern  Sie   sich    des  Datums,  an  dem  Sie  Ihren  Brief 


*)  Klingemann  irrt  sich  im  Datum.  Der  Geburtstag  Abraham 
Mendelssohn's  war  am  11.  December.  S.  Pag.  72. 


172  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

schrieben,  berechnen  Sie  die  Zeit  der  Eeise  und  es  wird  sich 
ergeben,  dass  ich  schon  den  Tag  nach  dem  Empfange,  mich 
von  meinen  vielen  und  wichtigen  Weihnachtsgeschäften  abmüssi- 
gend,  am  Schreibtisch  sitze,  um  die  Antwort  wenigstens  anzu- 
fangen. Ein  Jeder  nämlich  von  uns  betrachtet  den  prächtigen 
Generalbrief  als  sein  specielles  Eigenthum  und  da  wir  Ihnen 
Alle  schi-eiben,  werden  Sie  sich's  gefallen  lassen  müssen,  dass 
wir  znweilen  zusammentreffen,  es  ist  ja  im  mündlichen  Umgang 
nicht  anders  gewesen  und  Sie  haben  wohl  so  manche  Greschichte 
zweimal  mit  anhören  müssen,  warum  nicht  zwanzig  oder  vier- 
zig? Von  der  Seite  genommen  hat  es  Derjenige  unter  uns  am 
besten,  dessen  Brief  Sie  zuerst  lesen,  die  Anderen  werden 
ohne  ihre  Schuld  zu  Papageien. 

Je  länger  Sie  uns  auf  Ihi-en  Brief  warten  Hessen,  um 
desto  mehr  hat  er  uns  bei  seinem  endlichen  Erscheinen  erfreut 
(nehmen  Sie  das  aber  nicht  als  Norm  für  die  Zukunft,  von 
jetzt  an  wird  die  Sache  umgekehrt)  und  wir  würden  als  wahre 
Bacchantinnen  ihn  gewiss  zerrissen  haben  (verschlungen  haben 
wir  ihn  wirklich),  wenn  nicht  die  Eltern  grossmüthig  resignirt 
und  uns  die  erste  Lesung  überlassen  hätten. 

25.  Decbr.  Die  Weümachtslichter  sind  niedergebrannt, 
die  schönen  Geschenke  weggeräumt  und  wir  bringen  den  ersten 
Feiertag  still  zu  Hause  hin.  Mutter  schläft  in  einer  Ecke  des 
Sophas,  Paul  in  der  andern,  Rebecka  liest  mit  vieler  Andacht 
das  Modejournal  und  ich  nehme  meinen  Brief  wieder  vor.  An 
Tagen,  wie  der  gestrige,  vermissen  viör  Sie  mehr  als  gewöhnlich 
und  da  gewöhnlich  alle  halbe  Stunde  von  Urnen  die  Eede  ist,  so 
ergänzen  Sie  sich  den  Satz.  Es  war  übrigens  sehr  munter  und 
hübsch  gestern.  Felix  hatte  für  Rebecka  eine  Kinder-Symphonie 
mit  den  Listrumenten  der  Haydn'schen  geschrieben,  die  ^vir  auf- 
führten und  die  ausserordentlich  komisch  ist.  Für  mich  hatte 
er  ein  Stück  andrer  Natur  geschi-ieben,  einen  vierstimmigen 
Chor  mit  kleinem  Orchester  über  den  Choral  „Christe,  du  Lamm 
Gottes."  Ich  habe  es  heut  ein  paar  Mal  gespielt,  es  ist  ganz 
wunderschön.  Er  hat  sich  überhaupt  in  der  letzten  Zeit  der 
Kirchenmusik  zugewendet;  zu  meinem  Geburtstag  hat  er  mir 
ein  Stück  gegeben,   neunzehnstimmig   füi-  Chor  und  Orchester, 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  173 

über  die  Worte  „Du  bist  Petrus  und  auf  diesen  Fels  will  ich 
meine  Kirche  gründen"  (aber  lateinisch).  Ich  halte  es  für  eüi 
sehr  bedeutendes  Werk,  glaube  aber,  dass  es  seine  volle  Wür- 
digung nur  in  eiuer  Aufführung  finden  kann,  wozu  wieder  eine 
grosse  Kirche  und  mancherlei  Anstalten  gehören.  Sie  sehen, 
wie  plausibel  das  ist.  Sehr  schön  ist,  dass  D.  über  einige 
Aeusserungen  Felixens  bei  dieser  Gelegenheit  zu  fürchten 
anfing,  er  möchte  katholisch  geworden  sein,  und  diese  Besorg- 
niss  S.  mittheilte,  der  sie  wieder  einem  Anderen  einfiösste,  so 
dass  wir  schon  besorgten,  die  Sache  würde  sich  als  Stadt- 
gespräch gestalten,  was  aber  doch  glücklicherweise  nicht  ge- 
schehen ist.  — 

Wären  Sie  hier,  so  würden  Sie  Ihi'en  Witz  an  der  dies- 
jähiigen  Gelehrsamkeit  des  gebildeten  Publikums  üben.  Dass 
Alexander  von  Humboldt  ein  Kollegium  an  der  Universität 
liest  (physikalische  Geographie),  ist  Ihnen  vielleicht  bekannt, 
wissen  Sie  aber  auch,  dass  er  auf  Höchstes  Begehren  einen 
zweiten  Kursus  im  Saal  der  Singakademie  begonnen  hat,  an 
dem  Alles  Theil  nimmt,  was  nur  einigermassen  auf  Bildung 
und  —  Mode  Anspruch  macht,  vom  König  und  ganzen  Hof, 
durch  alle  Minister,  Generale,  Offiziere,  Künstler,  Gelehrte, 
Schriftsteller,  schöne  und  hässliche  Geister,  Streber,  Studenten 
und  Damen  bis  zu  dero  unwürdigen  Correspondentin  herab? 
Das  Gedränge  ist  fürchterlich,  das  Publikum  imposant  und  das 
Kollegium  unendlich  interessant.  Die  Herren  mögen  spotten 
soviel  sie  wollen,  es  ist  herrlich,  dass  in  unseren  Tagen  uns 
die  Mittel  geboten  werden,  auch  einmal  ein  gescheutes  Wort 
zu  hören,  wir  geniessen  dies  Glück  und  müssen  uns  über  das 
Spötteln  zu  trösten  suchen.  Um  uns  nun  vollends  Ihrem  Spotte 
Preis  zu  geben,  mnss  ich  Ihnen  bekennen,  dass  wir  noch  eine 
zweite  Vorlesung  hören  und  zwar  eine  von  einem  Ausländer 
gehaltene  über  Experimentalphysik.  Auch  dieser  Kursus  wiid 
grösstentheils  von  Damen  besucht.  Holtey's  Vorlesungen  wer- 
den dies  Jahr  ausserordentlich  stark  gehört.  Er  hält  sie  in 
einem  neuerbauten,  mit  Gas  sehr  stark  erleuchteten  Saal. 
Apropos  von  Gas,  denken  Sie  sich,  dass  die  Crelle'sche  Finster- 
niss  sich  in  das   hellste,   nämlich    in  Gaslicht  verwandelt  hat 


174  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

und  dass  man  jetzt  nicht  nur  die  Hand  vor  Augen,  sondern 
alle  Hände  im  Saal  vortrefflicli  sieht.  In  England  sind  wohl 
alle  Häuser  ohne  Ausnahme  mit  Gas  erleuchtet?  Hier  nimmt 
es  auch  sehr  überhand,  wie  auch  die  Trottoirs,  für  die  Sie  so 
gütig  sind,  sich  zu  interessiren.  In  diesem  Herbst  hatte  Holtey, 
dem  Einiges  aus  der  Grartenzeitung  zu  Ohren  gekommen  war, 
nach  deren  Muster  eine  sogenannte  Thee-  und  Schneezeitung 
gestiftet,  zu  der  Beiträge  in  eine  blecherne,  bei  uns  wohnende 
Schachtel  geworfen  wurden.  Sie  ward  durch  äusserst  witzige 
Aufsätze  von  Eichhorn  und  Frank  eine  Zeit  lang  gehalten, 
ist  aber  bald  genug,  wie  alles  Menschliche,  in  sich  zerfallen. 
Die  Einleitung  bestand  in  einem  Gedicht  an  —  Sie,  als  einen 
trotz  seiner  Abwesenheit  unter  uns  Lebenden.  An  meinem 
Geburtstag  war  hier  ein  sehr  hübscher  Ball  mit  einer  Masse 
von  dito  Mädchen.  Sie  hätten  hier  sein  müssen.  Könneu  oder 
wollen  Sie  sich  denn  nicht  einmal  als  Courier  herschicken 
lassen,  wie  in  einen  Kuckkasten  ein  Paar  Tage  lang  in  unser 
Treiben  sehn  und  sich  wieder  m  Ihren  englischen  Nebel  hüUen  ? 
TJnsre  Sonntage  sind  garnicht  mehr  so  märchenhaft,  der  wahre 
Humor  ist  entwichen  und  Sie  müssen  am  Besten  wissen,  wer 
ihn  mitgenommen  hat?  Schade! 

Ihre  Aufführung  von  Don  Juan  gefällt  mir.  War  er  deutsch 
oder  italiänisch?  Es  muss  eine  Wonne  sein,  einen  Engländer 
itaüänisch  singen  zu  hören.  Sie  haben  jetzt  hier  beim  König- 
städter Theater  eine  Italiänerin,  —  Alles,  was  Sie  je  in  Ro- 
manen und  Eomanzen  von  südlicher  Gluth,  versengender 
Gewalt  der  Augen,  junonischer  Gestalt,  unwiderstehlichem 
Zauber  der  Sprache  und  Accentuation  gelesen  haben,  vereinigt 
Costanza  Tibaldi.  Sie  tritt  grösstentheils  in  Männerrollen  auf, 
nie  gab  es  einen  schöneren  Jüngling,  auch  die  Frauenldeidung 
ziert  sie  und  ich  muss  gestehen,  ich  sah  wenig  schönere  Frauen. 
Ihre  Stimme  ist  ein  tiefer  Alt,  ohne  besondem  Reiz,  aber  jeder 
Laut  aus  ihrem  Munde  begeistert.  Wenn  ich  ein  Rossini'sches 
Duett  zweimal  mit  Entzücken  höre!  —  Zu  Ihren  englischen 
Ohren  ist  wohl  auch  noch  nicht  die  musikalische  Kunde  gedrun- 
gen, dass  Nägeli  Bach's  grosse  fünfstimmige  Messe  aus  h-moU 
herausgiebt!    Triumph  für  die  Berliner  Enthusiasten,  Marx  an 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  175 

der  Spitze.  Der  Mann  erwirbt  sich  wirklich  ein  grosses  Ver- 
dienst, denn  es  kommt  ihm  nichts  dabei  heraus  und  das  weiss 
er  sehr  gut."  — 


Klingemann  an  Fanny: 

London,  22.  Januar  1828. 

„Wenn  ich  es  hier  auf  kein  ausführliches  Schreiben  an- 
lege, so  mag  mich  der  Generalbrief  entschuldigen,  den  ich  der 
ganzen  liebevollen  Familie  gegenübersitzend  geschrieben  habe; 
hier  sollen  bloss  die  Ehrfurcht  und  der  Dank  ausgedi'ückt  werden, 
mit  welchen  von  mir  die  beglückenden  Zeilen  meiner  zugleich 
so  gestrengen  und  so  gütigen  Gönnerin  empfangen  sind  —  kein 
Generalbrief  kann  mich  davon  dispensirea  —  auch  nicht  der 
insolente  Gedanke,  wie  viel  eine  junge  Dame,  die  eine  so  aus- 
gezeichnete Wohlthat  erweist,  davon  nothwendigerweise  im 
Augenblick  des  Erweisens  selbst  schon  antecipiren  muss.  Es 
wäre  zu  hergebracht  xmd  philisterhaft  gewesen,  wenn  ich  dar- 
über hätte  in  Verse  verfallen  wollen,  es  würde  Ihnen  unge- 
fähr ebenso  originell  vorgekommen  sein,  als  wenn  Sie  Ihr 
Partner  (muthmasslich  ein  Offizier)  m  einem  Fränkel'schen 
Cotillon  fragt:  „Mein  Fräulein,  haben  Sie  schon  viel  getanzt 
in  diesem  Winter?"  oder,  was  jetzt  dasselbe  sein  mag:  „Mein 
Fräulein,  wie  gefallen  Ihnen  die  Humboldt'schen  Vorlesungen?" 
—  Fangen  Sie  nur  in  diesem  Augenblick  um's  Himmelswillen 
nicht  an,  zu  glauben,  dass  ich  mich  in  Ironie  gegen  die  Fort- 
schritte auslassen  werde,  die  meine  jungen  Freundinnen  in  der 
Erkenntniss  der  chemischen  Bestandtheile  eines  Kragens  oder 
einer  Nusstorte  machen,  —  es  sind  heilige  und  nothwendige 
Dinge  —  warum  soll  eine  junge  Dame  nicht  ebenso  gut  wissen, 
wo  und  wie  der  Shawl  wächst,  den  sie  umhat,  wie  der  Professor, 
der  ihn  in  der  Anwendung  kaum  versteht,  —  und  ist  es  nicht 
ganz  vortrefflich,  wenn  wir  z.  B.  den  Fall  annehmen,  Sie  würden 
mit  einem  Male  nach  der  Mongolei  verschlagen,  dass  Sie  nur 
irgend  einen  Berg  oder  einen  Fluss  oder  eine  Erdart  in  die 
Hand  zu  nehmen  brauchen,  um  mit  der  gewissesten  Gewissheit 


176  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

sagen  zn  können:  Hier  bin  ich  in  der  Mongolei,  folglich  so 
und  so  viel  Poststationen  weit  von  der  Leipziger  Strasse  Nr.  3 
—  nnd  nun  ganz  ruhig  Pferde  bestellen  lassen  können?  Ueber 
den  Nutzen  der  Geographie  weiss  ich  keine  schönere  Geschichte, 
als  die  von  dem  französischen  Employe,  der  während  der  Kaiser- 
zeit nach  Groningen  versetzt  wird  und  der  nun  mit  seinen 
Angehörigen  und  Freunden  bitter  darüber  wehklagt,  wie  es 
dort  so  grausam  kalt  sei  und  so  weit  weg,  — weil  er  statt  nach  Hol- 
land nach  Grönland  zu  kommen  glaubt.  Nein,  meine  einzige 
Furcht  und  mein  einziger  Einwurf  liegen  anderswo  —  ich  fürchte, 
dass  jeder  noch  so  gelehrte  und  würdige  Mann  Damen  gegenüber 
etwas  närrisch  wird,  dass  hier  das  Subjekt  mit  dem  Objekt 
davonläuft.  Zürnen  Sie  darüber  dem  Mann  nicht,  es  ist  viel 
weniger  Mangel  an  Zutrauen  in  das  weibliche  Fassungsver- 
mögen, als  das  uns  Allen  tief  innewohnende  Verlangen,  Hmen 
viel  lieber  zu  gefallen,  als  Sie  zu  belehren.  „Es  ist  mein 
Beruf,  Heinz."  —  Wehe  den  Zeiten,  wo  der  chevaleresque  Süm 
ausgerottet  ist!  —  Nur  habe  ich  Ihnen  den  Vorwurf  zu  machen, 
dass  Sie,  nach  einem  falschen,  unter  Frauen  herrschenden 
Princip,  nichts  von  der  Wissenschaft  in's  Leben  und  in  den 
Brief  übergehen  lassen  —  kein  Vergleich,  kein  Büd  aus  der 
Chemie  —  und  sie  machen  sich  doch  so  gut  —  ich  sollte  nur 
was  davon  verstehn!  — 

Der  Tag,  wo  wir  den  Messias  aufführten,  war  einer  der 
schönsten,  die  man  nur  sehn  kann,  ein  wahrer  Maitag  an 
Wärme,  Sonnenschein,  blauer  Luft  und  grünem  Rasen  —  wären 
die  Bäume  grün  gewesen,  so  war  das  schönste  Sehnsuchtswetter 
fertig  —  mein  Kollege  und  ich,  wir  sassen  auf  einer  Bank  am 
Serpentine  River  im  Hyde  Park  und  sonnten  uns  bedeutend  — 
Schwäne  und  Engländerinnen  zogen  zu  Wasser  und  zu  Lande 
bedeutsam  und  zierlich  an  uns  vorüber,  wir  dachten  nicht  an's 
neue  Ministerium,  sondern  führten  gute  vaterländische  Gespräche. 
Nachher  holte  mich  St.  nach  Deptford  ab,  es  war  das  erste 
Mal,  dass  wir  bei  Tage  hiuausfahren,  wir  setzten  uns  also 
oben  auf  die  Stage  und  es  war  mir,  als  hätte  man  mir  einen 
Scepter  in  die  Hand  gegeben,  so  glorreich  und  königlich  kam's 
mir  vor,  von  oben  herab  auf  die  vollen  Strassen  und  auf  der 


Eriefwechsel  mit  Klingemann.  177 

kolossalen  Westminster-Brücke  in  die  reiche  Themse  zu  sehn; 
trotz  der  fünf  Meilen  hörte  freilich  die  uniforme  Häuserreihe 
nur  selten  auf,  aber  wenn  man  durchblicken  konnte,  sah  man 
wieder   die   unbeschreiblich    schönen   grünen  Wiesen,    die    in 

blauen  Hügellinien  endigen. Meines  Freundes  X.  Theil- 

nahme  an  meinem  Verlust  theile  ich,  ich  wusste  nur  nicht, 
dass  ich  ihm  schreiben  sollte,  —  er  war  abwesend,  als  ich 
davonging,  und  ich  glaube,  dass  ein  Brief  von  ihm  ebenso 
gut  anfangen  könnte:  „Bei  meiner  Eückkehr  fand  ich  Sie 
nicht  mehr  — ,^  als  einer  von  mir  mit:  „Das  grausame 
Schicksal  riss  mich  fort,  ohne  Abschied  von  Ihnen  nehmen 
zu  können."   — 


Fanny  an  Klingemann. 

Berlin,  15.  Februar  28. 

„ Als  dero  angestellte  musikalische  Zeitung  kann 

ich  Ihnen  wenigstens  Einiges  berichten:  Die  Singakademie,  in 
ziemlich  verwickelten  Zinsenangelegenheiten  befindlich,  hat  sich 
endlich  entschlossen,  ihrer  Würde  soviel  zu  vergeben,  um  zu 
ihrem  eigenen  Besten  zu  singen.  Mein  Symphonie  verein  schloss 
sich  diesem  löblichen  Unternehmen  an  (bei  dieser  Gelegenheit 
bekam  ich  ihn  doch  auch  einmal  zu  hören),  und  die  Ausführung 
wäre  ganz  tadellos  gewesen,  wären  nicht  zufäUig  —  aUe  Solo- 
sänger verhindert  worden,  Theil  zu  nehmen  und  so  geschah's, 
dass  Köpke  die  ganze  Bass-  wie  auch  Tenorparthie 
fast  vom  Blatt  sang.  Er  leistete  viel,  das  Publikum  war 
zufrieden  und  die  Aufführung  ward  wiederholt  und  soll  das 
zweite  Mal  das  achte  der  sieben  Weltwunderwerke  gewesen 
sein.  —  Wir  tanzten  indess  bei  Heyne's  einen  Walzer  und 
Galopp  nach  dem  anderen,  auf  diese  Art  unverkennbaren  Kunst- 
und  Musiksinn  an  den  Tag  legend.  —  Das  Wichtigste  im 
Musikfache,  was  seit  Ihrer  Abwesenheit  aufgetaucht  ist,  ist  ein 
Galoppwalzer  mit  Text,  von  dem  die  ganze  Stadt  wiederhaUt, 
kein  Ball  ohne  die  Melodie,  ja  man  kann  nicht  zwei  Minuten 
leben,  ohne  von  ihr  verfolgt  zu  werden,  es  ist  wie  der  weiland 

Die  Familie  Mendelssohn.  L  12 


178 


Leipziger  Strasse  Nr,  3 


Jägerchor  oder  voriges  Jahr  das  Gespräch  über  Mlle.  Sonntag. 
Ich  setze  Ihnen  das  Manuskiipt  her: 


i 


Lott    ist    todt,       Lott    ist    todt,        Ju  -  le       liegt       in  Ster  -  ten. 

Schech-ner*)  todt,    Schech-ner  todt,       Sonn-tag  schwimmt    in  Kan  -  ten. 


f 


ß-0^ 


^  0    m- 

Lot-te      hat      ein      grü  -  nes  Kleid,   das    will    die    Ju  -  le        er  -  ben. 
Wo  hat  sie  sie  her,      wo     hat  sie  sie  her,  vom  englischen  Ge    -    sandten. 

Unzählige  andere  Verse   circulii'en,    die   aber  zum  Theil  nicht 
vor  weibliche  Ohren  gelangen."  — 

Im  Jahre  1828  am  18.  April  fand  zum  ersten  Mal  wohl 
in  Deutschland  eines  jener  allgemein  an  vielen  Orten  zugleich 
gefeierten  Feste  statt,  die  später  und  namentlich  in  der  Zeit 
von  1848 — 1866  so  sehr  überhand  nahmen  und  dazu  dienen 
sollten,  die  Deutschen  über  die  politische  Zerrissenheit  zu 
trösten.  Jenesmal  handelte  es  sich  um  das  Dürerjubiläum  und 
Fanny  berichtet  darüber  an  Klingemann ; 

Berlin,  14.  Aprü  28. 
^ —  Diesen  Winter  haben  wir  bei  Moser  die  meisten  Beet- 
hoven'schen  Symphonien,  wenn  auch  höchst  unvollkommen, 
gehört.  Es  ist  immer  ein  Schritt.  Sowie  wii'  überhaupt  in 
einer  Zeit  leben,  wo  in  jeder  Beziehung  Unglaubliches  geleistet 
wird,  so  auch  in  der  Kunst,  wir  mögen  es  gestehen  oder  nicht. 
Die  Passion  erscheint  unfehlbar  im  Lauf  des  Jahres  bei  Schle- 
singer, Schelble  in  Frankfurt  hat  einen  Theil  der  Messe  mit 
Beifall  aufgeführt,  an  allen  Ecken  rührt  es  sich,  in  allen 
Zweigen  rauscht's,  da  halte  sich  einer  die  Ohren  zu  und  wolle 
es  nicht  vernehmen!  Der  alte  abgelebte  Vogel  Phönix  erwartet 
nur  seinen  Scheiterhaufen,  er  wii'd  ihn  schon  finden,  die  Zeit 
ist  nicht  mehr  fern,  und  wir  werden  grosse  Dinge  erleben. 
Ich  weiss  nicht,  warum  mir  heut  so  historisch  zu  Muthe  ist, 
dass  ich  Lust  habe,  aUes  nach  Jahrhunderten  und  Völkern  zu 


*)  Eine  damals  bekannte  Sängerin  an  der  Berliner  Oper. 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  179 

messen?  Vielleicht  weil  Spontini  am  Busstage  den  ersten  Theil 
der  Beethoven-  und  den  zweiten  der  Bach'schen  Messe  giebt? 
"woran  ich  sehen  kann,  dass  die  grössten  Talente  mit  klein- 
lichem Sinn  das  verkehrteste  Treiben  füliren  und  dass  die  Welt 
doch  mit  Siebenmeilenstiefeln  vorwärts  schreitet  und  das  EHeine 
nicht  braucht?  Ist  das  mein  Trost?  Nein,  mein  Trost  ist, 
dass  Felix  noch  ein  Jahr  in  Berlin  bleibt,  dass  er  vom  Militär- 
jahr  so  gut  wie  ganz  frei  ist  und  dass  der  Rest  sich  findet.  — 
Den  2  0.  Nie  hätte  ich  geglaubt,  dass  das  Dürerfest  einen 
so  frohen  Tag  bereiten  und  eine  so  schöne  Erinnerung  zurück- 
lassen würde.  Felix  hat  in  6  Wochen  eine  grosse  Cantate 
für  Chor  und  volles  Orchester  geschrieben  mit  Arien,  Eecita- 
tiven  und  allem  Plunder.  Dass  die  flüchtige  Arbeit  keinen 
W^erth  für  ihn  hat,  können  Sie  sich  denken;  anfangs  war  er 
so  wüthend  darauf,  dass  er  die  ganze  Geschichte  gleich  nach 
dem  Gebrauch  verbrennen  wollte,  als  aber  die  Proben  vorwärts 
schritten,  die  Chöre  von  der  Akademie  trefflich  gesungen 
wurden,  bekam  er  Lust  und  die  wundervolle  Dekoration  des 
Saales  und  die  Liberalität  der  Anordnungen  vollendete  die 
Freude.  Donnerstag  Abend  war  die  Hauptprobe,  die  ziemlich 
konfus  und  unbefriedigend  ging,  wobei  aber  Felix  sehr  ruhig 
blieb  und  Allen  versicherte,  es  werde  prächtig  gehen.  Und 
«s  ging  prächtig!  Freitag,  den  18.  April,  am  oOOjährigen  Todes- 
tage Dürer's  begab  sich  die  ganze  Akademie  der  Künste,  deren 
Senat  und  sämmtliche  Eleven  der  Bau-Akademie  am  himm- 
lischsten Frühlingstag  nach  dem  Saal  der  Singakademie,  der 
auf  folgende  Weise  verziert  war:  die  Rückwand  des  Orchesters 
war  durch  einen  roth  und  gold  gemalten  Grund  abgetheilt,  in 
der  Mitte  stand  Dürer's  kolossale  Statue,  zu  jeder  Seite  zwei 
kleinere  weibliche  Figuren,  einzelne  Zweige  seiner  Kunst  dar- 
stellend, oben  darüber  ein  Bild  in  Form  der  Raphaellogen  nach 
einem  Holzschnitt  Dürer's  von  Dähling,  zu  beiden  Seiten  durch 
weite  grüne  Draperien  beendet.  Die  Dekoration  machte  einen 
überraschend  schönen  Effekt.  Das  Orchester,  aus  den  besten 
Leuten  beider  Orchester  und  aus  Dilettanten  bestehend,  folgte 
Felixens  und  Rietzens  Leitung,  Zelter  führte  den  Chor  am 
Flügel.    Die  Damen  waren  gegen  ihre  Gewohnheit  sehr  elegant 

12* 


180  Leipziger  Strasse  Nr.  3 

und  schön  gekleidet  und  sahen  fast  alle  gut  ans,  das  Orchester 
gewährte  einen  herrlichen  Anblick.  Auch  das  Publikum  war 
äusserst  festlich  und  eine  feierlichere  Stimmung  habe  ich  selten 
tei  einer  so  grossen  Versammlung  gesehen.  Felixens  c-dur- 
Trompeten-Ouvertui-e ,  vortrefflich  ausgeführt,  eröffnete  das 
Fest.  Dann  folgte  eine  von  T.  gehaltene,  dreiviertel  Stunden 
lange  und  ein  Säculum  dauernde  Rede.  Fast  nie  sah  ich  eine 
freudigere  Bewegung  im  Publikum,  als  da  er  von  Dürer's 
nahendem  Tode  sprach,  ein  Gemurmel  des  Beifalls  erhob  sich 
im  Volk  und  als  er  nun  wirklich  endlich  schloss,  fuhr  Alles 
wie  toll  von  seinen  Sitzen  auf.  Dann  folgte  die  Cantate,  die 
gute  fünfviertel  Stunden  dauerte.  Die  Solos  wurden  von  der 
Milder,  Stümer,  der  Türrschmiedt  und  Devrient  gesungen,  Alles 
gelang  so  vollkommen  und  die  Aufnahme  war  so  erfreulich, 
dass  ich  mich  keiner  angenehmeren  Stunden  erinnere.  Gegen 
drei  Uhr  schloss  die  Feier  und  gegen  vier  begann  ein  Diner 
von  etwa  200  Personen,  grösstentheils  Künstler,  Gelehrte  und 
höhere  Beamte,  wo  wir  als  Gäste  des  Direktors  und  Tisch- 
präsidenten Schadow  geladen  waren.  Wieviel  Ehre  und  Freude 
Felix  von  bekannten  und  unbekannten  bedeutenden  Leuten 
widerfuhr,  kann  ich  Ihnen  garnicht  erzählen,  aber  das  muss 
ich  hinzufügen,  dass  er  gegen  Ende  der  Mahlzeit  von  Zelter 
und  Schadow  bei  der  Hand  genommen,  von  Letzterem  herzlich 
angeredet  und  feierlich  zum  Ehrenmitgliede  r'es  Künstlervereins 
proklamirt  wurde,  wovon  er  das  Diplom  bekam.  Zugleich  ward 
seine  Gesundheit  ausgebracht  und  lebhaft  aufgenommen.  Gestern 
verging  uns  der  ganze  Tag  mit  Annahme  von  Gratulations- 
besuchen. Am  meisten  freut  es  mich,  dass  er  selbst  so  sehr 
erfreut  über  diesen  Tag  und  empfänglicher  für  die  ihm  er- 
wiesenen Eliren  als  w^ohl  sonst  war.  Ich  versichere  Sie,  er 
wird  alle  Tage  vortrefflicher  und  liebenswürdiger  und  es  ist 
kein  schwesterliches  Vor-,  sondern  eüi  unpartheiisches  Urtheil. 
Schliesslich  bitte  ich  Sie,  Niemandem,  weder  Bekannt  noch 
Unbekannt,  aus  meiner  Erzählung  mitzutheilen,  theils  wird  mir 
Niemand  (Sie  auch  nicht)  die  nöthige  Unbefangenheit  zutrauen 
und  theils  würde  Felix  brummen,  wenn  er  wüsste,  dass  ich  so 
viel  von  ihm  ges".hrieben  habe. 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  181 

Schliesslich  muss  ich  Urnen  noch  sagen,  dass  wir  uns  sehr 
nach  Ihnen  sehnen  —  ach!  Herr  Klingemann,  wer  recensirt 
denn  unsere  Stickereien,  unsere  neuen  Kleider,  unsere  Hüte? 
Wer  kommt  im  Vorbeigehn  heran  und  plaudert  ein  halbes 
Stündchen?  Wer  versteht  Unsinn  und  weiss,  wie  es  einem 
andern  ehrlichen  Menschen  zu  Muth  ist?  Alle  diese  unschätz- 
baren Eigenschaften  nebst  Hirer  löblichen  Handhabung  der 
deutschen  Sprache  müssen  nun  in  London  verkommen."  — 

Dieselbe  an  Denselben. 

18.  Juni  1828. 

„Ein  gelind  herab  tröpfelnder  Eegen  aus  weicher,  warmer 
Xuft,  ein  frischgrüner  Rasenplatz,  von  einem  dichten  Kranz 
herrlichst  blühender  Eosen  umzogen  (eine  Riesenerdbeere,  die 
Paul  mir  eben  in  den  Mund  steckt),  Frühling  von  innen  und 
aussen,  Humor  und  freundlichstes  Gedenken  der  Abwesenden, 
das  sind  etwa  die  Grundzüge  unseres  Heut.  Sie  haben  also 
auch  eine  Fussreise  gemacht,  lieber  Klingemann  ?  Nicht  spottend 
frag'  ich  das,  sondern  wahrhaft  erfreut,  dass  Sie,  das  stein- 
kohlene  London  auf  Augenblicke  hinter  sich  lassend,  einmal 
geathmet  haben,  vielleicht  gar  frische  Luft  und  Flieder.  Der 
unsrige  war  schön,  Maiblumen  und  Veilchen  in  stolzer  Fülle, 
jetzt  treiben  die  rothen  Sommerkinder,  Rosen  und  Erdbeeren, 
ihr  Wesen  und  wetteifern  im  Glühen  und  Duften.  Der  Sommer 
ist  doch  schön! 

Unsere  Pfingsttage  waren  so  beschaffen:  Paul  hatte  sich 
mit  sieben  Schulgenossen  und  einem  Lehrer  zu  einer  Fuss- 
wandernng  nach  Neustadt-Eberswalde  in  fabriklicher  und  eisen-, 
kupfer-  und  messinghämmerlicher  Rücksicht  engagirt,  aber  der 
Magistrat  (durch  Vater  bei  dieser  Gelegenheit  repräsentirt), 
der  den  Lehrer  nicht  kannte  und  gerne  der  Aufsicht  eine  Auf- 
sicht stellen  wollte  (erkennen  Sie  daran  Hire  Preussen?),  be- 
orderte Felix  zu  diesem  ebenso  hohen  als  geheimen  Posten, 
der  denn  auch  pflichtschuldigst  den  unüberwindlichsten  Wunsch 
äusserte,  sich  der  technologischenJugend  anzuschhessen ;  aber  auch 
nicht  gesonnen,  sich  drei  bis  vier  Tage  lang  grausam  zu  ennüyiren, 


182  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

l)eordert  er  wiederum  drei  Freunde,   ihm  insgeheim  zu  folgen 
und  ihn  zufällig  drüben  zu  treffen.   Arend  und  Droysen  nehmen 
wirklich  einen  Wagen  und  bereden  den  kleinen  David  mitzu- 
fahren,   der  läuft  Abends   um  elf  mit  Droysen  zu  Blume,  zu 
Stegmayern  und  schafft  sich  Urlaub,  das  Geld  —  so  kurz  vor 
dem  Ersten  etwas  knapp  —  wird   gepumpt,   und   die  lustigen 
Brüder  treffen  kurz  nach  der  Fussgesellschaft  drüben  ein,  man 
schwimmt,    man    fährt,    geht,    reitet,   sieht,    David  phantasirt 
allen  Hämmern  auf  der  Geige  vor,  man  vertilgt  für  sechszehn 
Thal  er  Bierkalteschaale   (eine  Wahrheit,    die  ich  heut  noch 
nicht  fasse),    und   indessen   hat  Vater  hier  das  kalte  Fieber, 
wie  fast  alle  Menschen,  aber  leicht  und  kurz  und,  als  die  Jüng- 
linge nach  acht  Tagen  ermüdet  vom  Plaisir  nach  Hause  kamen, 
war  es  bereits  vorüber.    Was   werden  Sie   aber   sagen,   dass 
am  vorigen  Sonntag   die  Frl.  M.'s  hier  waren,   dass  wir  spät 
im  Garten  umhergingen   und  unter  1826  Seufzern  des  Jahres 
1826   dachten   (eine  Jünglingsschaar  folgte  in   unbedeutender 
Entfernung)  und  dass  wir  plötzlich,  wie  von  heiligem  Erimieruiigs- 
wahnsinn  ergriffen,  dem  Redaktionsplatz  zueilten,  um  die  Redak- 
tionspappelweide einen  Kreis  schlössen  (wir  konnten's  mühsam) 
und  nun  feierlich  dreunal   riefen:    Klingemann!  Klingemann!! 
Klingemann!!!    Es  war  schön,  Ihnen  hätt'  es  gewiss  gefallen. 
Warum  wir  Urnen  von  Börne's  Hierseiu  nichts  sagten? 
Weil  in  der  Gotteswelt  nichts  von  ihm  zu  sagen  ist.    Wir 
waren  oft  der  Meinung,   dass  irgend  ein  Quidam  diesen  hüb- 
schen Namen  angezogen  und  damit  in  die  Welt  gegangen.    Dies 
ist  nicht  etwa  ein  Urtheü  nach  einmaligem  Sehn  —  wir  haben 
ihn  lange  hier  gehabt,  und  allein,  mit  andern  Leuten,  Mittags, 
Abends  und  in  allen  Beleuchtungen  kennen  gelernt,   und  nie 
hat  er  sich  verläugnet  als   ein  kleiner,    schwerhörender  und 
schwerer  begreifender  Mann,  dem  die  einfachsten  Dinge  fremd 
und  neu  sind,  der  sich  wie  der  gemeine  Haufen  der  Frankfurter 
wundert,  dass  die  Berliner  auf  den  Hinterfüssen  stehn  und  mit 
den  Vorderpfoten  essen,  und  dass  die  Bäume  wirklich  hier  auch 
grün  werden,   nachdem   der  Schnee   wirklich  auch  weiss  war, 
der  mir  eines  Tages  ein  Buch  vorlegte   und  mich  die  Zahl 
10,430  aussprechen  üess,  und  als  ich  nun,  irgend  eine  Rechen- 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  183 

aufgäbe  erwartend,  ängstlich  schwieg,  die  Prüfung  beendet  und 
sich  verwundert  erklärte,  dass  ich  eüie  fünfstellige  Zahl  aus- 
sprechen könne.  Nie  haben  wir  irgend  ein  bemerkenswerthes 
"Wort  von  ihm  gehört,  nie  auch  nur  einen  Funken,  einen  Blitz 
oder  Blick  bemerkt,  der  ihn  als  bedeutenden  Mann  bezeichnet 
hätte.  — 

In  Deutschland  sind  merkwürdige  Dinge  ans  Tageslicht 
getreten,  der  zweite  Theil  zu  Faust,  sich  unmittelbar  an  den 
ersten  schliessend.  Da  ich  es  erst  einmal  und  schnell  gelesen, 
so  entsage  ich  jeder  näheren  Bezeichnung  und  füge  bloss  hin- 
zu, dass  es  sich  im  Ton  und  Geist  bei  weitem  mehr  dem  alten 
Faust  nähert,  als  Helena,  die  Sie  vielleicht  auch  noch  nicht 
gelesen  haben  ?  Leider  siud  die  Sachen  nicht  einzeln  zu  haben 
und  die  Subskribenten  zur  grossen  Ausgabe  haben  erst  jetzt 
die  erste  Lieferung  erhalten,  während  von  der  kleinen  schon 
drei  erschienen  sind.  Der  neue  Faust  ist  ebenfalls  Fragment 
und  schliesst  mit  der  Andeutung:  „ist  fortzusetzen"  —  ich 
bin  auch  überzeugt,  dass  er  am  Faust  schreiben  wird,  so  lange 
er  lebt,  und  lang  wird  er  leben,  davon  bin  ich  ebenfalls  über- 
zeugt. Dieser  ist  bestimmt,  das  Loos  eines  Menschen  nach 
jeder  Eichtung  hin  auf's  vollkommenste  zu  erfüllen,  und  da  er 
nicht  vor  dem  Werther  gestorben  ist,  kann  ihm  das  höchste 
mögliche  Alter  nicht  entgehen.  Aber  nun  hören  Sie  eine  Nach- 
richt, die  mich  so  lange  zu  lachen  gemacht  hat,  als  ich  sie 
nicht  glaubte: 

Holtey  hat  Goethe's  Faust  für  das  Königstädter 

Theater  bearbeitet. 

H.  JRösicke:  Mephistopheles. 

Es  ist  aber  wahr!  —  Wenn  Sie  ausgestaunt  haben,  will 
ich  weiter  erzählen.  Goethe  in  seiner  jetzigen  recht  könig- 
lichen und  weisen  Milde  und  Erhabenheit  hat  selbst  seine  Ein- 
willigung gegeben.  Ich  behaupte,  er  habe  bei  Holtey's  Antrag 
nach  seiner  Weise  freundlich  in  den  Bart  brummend  gesagt: 
„Nu  —  nu  — "  und  hierauf  habe  Holtey  entzückt  seine  Hand 
ergriffen  und  mit  Enthusiasmus  geschrieen:  „Ich  verstehe  Sie 
und  danke  Ihnen"  —  und  siehe  da,  der  alte  König  war  zu 
stolz,  das  absichtliche  Missverständniss  zu  heben,  denn  er  dachte: 


184  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

„Bringt  Ihr  mich  wohin  Ihr  wollt,  herunterbringen  könnt  Ihr 
mich  nicht  nnd  aufbringen  auch  nicht  mehr,  bringt  mich  also 
aufs  Königstädter  Theater."  0  Spott  der  HöUe!  0  Ironie 
des  Schicksals!!  In  unserm  Hause,  wo,  wie  Sie  wissen,  jede 
unschuldige  Wettermeinung  hartnäckige  Partheikämpfe  in's 
Leben  ruft,  finden  sich  alle  Nuancen  der  Beurtheilung,  denn 
von  Mutter  an,  die  für  Holtey  und  jene  Bühne  eingenommen, 
lobt  und  sich  freut,  bei  Vater  vorbei,  der  ebenfalls  für  Holtey 
eingenommen,  gelinde  missbilligt,  bis  zu  uns  herunter,  die  wir, 
nicht  für  Holtey  eingenommen,  aber  nicht  aus  Antipathie,  empört 
schreien,  findet  und  empfindet  Jeder  anders.  Sobald  das  Ver- 
brechen wirklich  begangen  worden,  sollen  Sie  das  Nähere  er- 
fahren. 

Ihre  englischen  musikalischen  Nachrichten  sind  ja  unbe- 
zahlbar. Von  Allem,  was  Sie  vierhändig  zu  besitzen  wünschen, 
existirt  noch  nichts  so,  wer  weiss  aber,  vielleicht  nehme  ich 
mir  einmal  viele  Müsse  und  mache  Ihnen  die  Ouvertüre  zum 
Sommemachtstraum;  so  Heb  wie  eine  Börse  oder  Brieftasche 
würde  es  Ihnen  wohl  auch  sein.  FeUx  schreibt  ein  grosses 
Instrumentalstück  „Meeresstille  und  glückliche  Fahrt"  nach 
Goethe.  Es  wird  sehr  seiner  würdig.  Er  hat  eine  Ouvertüre 
mit  Introduktion  vermeiden  wollen  und  das  Ganze  in  zwei 
nebeneüianderstehenden  Bildern  gehalten." 

Dieselbe  an  Denselben. 

12.  Septbr.  28. 

^ A  propos  Königstadt  etsch!  Herr  Klingemann,  ich 

schabe  Ihnen  Rübchen  mit  dem  Finger,  Goethe  hat  sich  den 
Faust  verbeten  und  es  ist  nicht  mehr  davon  die  Rede.  Dies- 
mal hat  also  „die  Jugend,  die  leicht  liebende  und  zürnende", 
Recht  behalten. 

D.  15ten.  Einen  ganzen  Sack  voll  Neuigkeiten  habe  ich 
wieder  über  Sie  auszuschütten:  Erinnern  Sie  sich  noch  aus 
der  präadamitischen  Zeit  Ihres  Aufenthalts  in  Deutschland  einer 
sich  jährlich  an  einem  anderen  Orte  versammelnden  Gesell- 
schaft von  Aerzten  und  Naturforschem?  Dieses  Jahr  haben 
sie  ihren  Sitz  in  Berlin  aufgeschlagen,   Humboldt  ist  ihr  Prä- 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  185 

sident,  Lichtenstein  ihr  Sekretär  und  ihre  Existenz  das  Ge- 
spräch des  Tages.  Dies  ist  aber  noch  nicht  Alles.  Hmnholdt 
der  Kosmopolit,  der  grosssinnigste,  liebenswürdigste,  gelehr- 
teste Hofmann  seiner  Zeit,  giebt  ihnen  ein  Fest,  wie  es  gewiss 
diese  Stadt  noch  nicht  gesehen  hat.  Das  Lokal  ist  der  Concert- 
saal,  der  Gäste  700,  unter  ihnen  der  König,  sechs  Studenten, 
drei  Primaner  von  jeder  hohem  Schule,  sämmtliche  Schuldirek- 
toren, sämmtliche  Naturforscher  et  le  reste.  Felix  ist  ersucht 
worden,  zu  ihi'em  Empfange  eine  Kantate  zu  schreiben  (Sie 
sehen,  er  kommt  in  Mode)  und  Eellstab,  der  glücklicher  Weise 
ßben  zur  rechten  Zeit  aus  Spandau  zurückkam,  hat  gedichtet. 
Da  das  Naturforscher-Paradies  ein  frauenleeres,  mahomed'sches 
ist,  so  besteht  der  Chor  nur  aus  den  besten  Männerstimmen 
hiesiger  Residenz  und  da  Humboldt,  kein  starker  Musiker,  seine 
Komponisten  auf  eine  geringe  Personenzahl  beschränkt  hat,  so 
hat  das  Orchester  eine  kuriose  Figur  bekommen;  es  agtren 
nänüich  nur  Bässe  und  Cellos,  Trompeten,  Hörner  und  Klari- 
netten. Gestern  ist  eine  kleine  Probe  gehalten  worden  und  die 
Sache  soU  von  gutem  Effekt  sein.  Das  Aergerliche  dabei  ist  nur, 
dass  wir  nicht  dabei  sind.  Sie  können  sich  garnicht  denken,  was 
bei  dieser  Gelegenheit  hier  für  ein  komisches  Gemisch  von  Kräh- 
winkelei und  Grossstädterei  zum  Vorschein  kommt.  Die  ganze 
Anlage,  die  Aufnahme  der  fremden  forschenden  Gäste,  die  Ver- 
einigung grosser  Namen  zu  einem  (wenn  immerhin  auch  nur 
geselligen)  Zweck  ist  unläugbar  grandios,  nun  weiss,  verbreitet 
und  erforscht  aber  Jedermann,  wieviel  Beyermann  für  die  ge- 
nannte Summe  liefert,  was  Humboldt  die  Aufnahme  seiner  Gäste 
kostet  und  wie  die  Erfrischungen  beschaffen  sein  werden,  die 
man  von  Conrad!  zu  erwarten  hat  und  „die  Jugend"  ärgert 
sich  jedesmal,  wenn  diese  Miseren  zur  Sprache  kommen." 

Dieselbe  an  Denselben. 

Berlin,  8.  December  1828. 
„ Was  übrigens  Ihre  Gratulation  zu  meinem  Geburts- 
tage betrifft,  so  haben  Sie  vielen  Dank  dafür,  die  Reime  waren 
ein  wahres  Gedicht.  Man  hat  ihn  mir  sehr  angenehm  gemacht, 
diesen  Geburtstag,   xmd   ich  kann  nicht  läugnen,  dass  ich  am 


186  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

Abend  ganz  ermattet  war,  von  vielem  Besuchempfangen  und 
Reden  und  Danken.  Felix  hat  mir  dreierlei  gegeben,  ein  Stück 
in  mein  Stammbuch,  ein  ^Lied  ohne  Worte",  wie  er  in 
neuerer  Zeit  einige  sehr  schön  gemacht  hat,  ein  anderes  Kla- 
vierstück, vor  kurzem  komponirt  und  mir  schon  bekannt,  und 
ein  grosses  Werk,  ein  vierchöriges  Stück  Antiphona  et  Respon- 
iorium^  über  die  Worte  Hora  est^  jam  nos  de  somno  mrgere  etc. 
Die  Akademie  wird  es  aufführen.  Ich  gebe  gar  gern  Ihrer  Auf- 
forderung nach,  mich  über  Felixens  Arbeiten  näher  zu  äussern, 
obgleich  das  nicht  so  leicht  ist,  wie  es  wohl  aussieht.  Im 
Ganzen  genommen  wird  er  wohl  unläugbar  mit  jedem  Werk  klarer 
und  tiefer.  Seine  Richtung  befestigt  sich  immer  mehr  und  er 
geht  bestimmt  einem  selbst  gesteckten,  ihm  klar  be^vussten 
Ziel  entgegen,  welches  ich  mit  Worten  nicht  deutlich  zu  be- 
zeichnen wüsste,  vielleicht  weil  sich  überhaupt  eine  Kunstidee 
nicht  wohl  in  Worte  kleiden  lässt,  denn  sonst  würde  Wort- 
poesie die  einzige  Kunst  sein,  vielleicht  auch  weil  ich  mehr  mit 
Augen  der  Liebe  seinen  Schritten  folgen,  als  auf  Flügeln  des 
Geistes  ihm  vorangehen  und  sein  Ziel  ersehen  kann.  Aller  sei- 
ner Mittel  ist  er  vollkommen  mächtig  und  so  erweitert  er  von 
Tage  zu  Tage  sein  Gebiet,  als  Feldherr  die  ihm  zu  Gebote 
stehende  Gesammtheit  der  Kunstmittel  beherrschend. 

D.  27ten  December.  Weihnachten  ist  vorübergegangen, 
ohne  dass  es  mir  möglich  gewesen  wäre,  zur  Fortsetzung  un- 
serer Unterhaltung  zu  gelangen.  Unsre  Arbeiten,  zwar  selir 
früh  angefangen,  aber  auch  weit  ausgedehnter  als  gewöhnlich, 
häuften  sich  sehr  am  Ende  und  alle  Zeit  musste  angewendet 
werden,  sie  fertig  zu  schaffen.  Dazu  kommt,  dass  "svir  Frauen- 
zimmer, unsern  Beschäftigungen  zu  Folge,  weit  länger  als  die 
Männer  an  diese  Weihnachtszeit  gefesselt,  uns  mit  wirklich 
kindischem  Sinn  so  darin  gebannt  fühlen,  dass  wir  wirklich  in 
der  letzten  Zeit  vorher  keine  andere  Bestimmung  kennen  als 
stickerliche.  Ich  bin  wenigstens  erst  in  den  Feiertagen  gewahr 
geworden,  dass  es  andre  Instrumente  giebt  als  Nadeln  und 
andre  Fäden  als  seidene.  Hätten  Sie  aber  auch  unsre  Meister- 
werke gesehen,  wir  haben  eine  Decke  gearbeitet,  die  uns  viele 
Bewunderung   zugezogen   hat,   und   Sie   würden  gewiss  Ihren 


Briefwechsel  mit  Klingemann.  187 

Brill  mehr  als  einmal  in  Bewegung  gesetzt  hahen,  um  uns  bei 
der  Arbeit  zuzusehen.  Unser  Weihnachtsabend  war  äusserst 
angenehm  und  belebt;  da  unser  Haus,  wie  Sie  wissen,  nicht 
lange  ohne  junge  Garde  bestehen  kann  und  die  belebende  An- 
wesenheit der  Brüder  immer  neue  Jugend  anzieht,  so  ist  auch 
jetzt  die  Zahl  wieder  voll,  und  zwar  ist  die  diesjährige  Gene- 
ration garnicht  zu  schelten,  sie  ist  geistreich  und  lebendig  im 
höchsten  Grade.  Gans  steht  als  General  und  beliebter  Pro- 
tektor der  jüngeren  Leute  oben  an.  Er  ist  ein  Mensch  von 
Geist  und  Wissen  und  ein  sehr  belebendes  Princip,  seine  un- 
zähligen Ungeschliffenheiten  suchen  wir  Schwestern  ihm  einiger- 
massen  abzugewöhnen,  wenn  er's  nur  nicht  immer  wieder  ver- 
gässe,  den  guten  Willen  sich  zu  bessern  hat  er  wirklich. 
Neulich  auf  einem  (beiläufig  gesagt,  sehr  hübschen)  Diner  bei 
den  Breslauer  Mendelssohn's  war  er  mein  Nachbar  und  bediente 
mich  mit  vieler  Artigkeit,  als  aber  die  Kirschen  kamen,  fuhr 
er  mit  der  ganzen  Hand  hinein  und  frug:  „Befehlen  Sie?" 
Sie  dankten  aber. 

Gans  gegenüber  steht  der  senr  hübsche  und  liebenswür- 
dige, lebenslustige,  studentenhafte,  gelehrte  Professor  der  Mathe- 
matik Dirichlet,  mit  dem  sich  Gans  zu  prügeln,  oder  auf  gut 
Deutsch,  zu  balgen  pflegt,  wie  ein  Schuljunge.  Unter  dem 
Nachwuchs  nenne  ich  Ihnen  noch  den  seit  zwei  Monaten 
zurückgekehrten  Hensel,  der,  ebenfalls  sehr  munter,  manches 
zur  Belebung  beiträgt ;  dass  die  Neuhinzukommenden  von  Binen 
einestheils  zu  leiden  haben,  ist  keine  Frage,  da  Dir  Name  sie 
beständig  wie  ein  Schatten  umschwebt,  anderentheils  aber 
freuen  sie  sich  der  Theilnahme  am  Entfernten  und  hoffen  auch 
einst  als  solche  einer  ähnlichen  theilhaftig  zu  werden.  Droysen, 
ein  neunzehnjähriger  Philolog  mit  aller  Frische  und  lebendigen, 
thätigen  Theilnahme  seines  Alters,  einem  Wissen  über  sein 
Alter  und  einem  reinen  poetischen  Sinn  und  gesunden,  liebens- 
würdigen Gemüth,  für  jedes  Alter  begabt,  sagte  mir  gestern, 
wie  hübsch  sich  ihm  jetzt  Ihr  Bild  gerundet.  Ich  forsche  die- 
sem nach  und  erfahre,  dass  er  Sie  sich  ungefähr  wie  Kietz 
denkt!!  Nur  dass  dessen  trockener  Ernst  auf  Ihrem  Gesicht 
zu  trockener  Komik  erwächst.    Ich  musste  laut  auflachen  und 


188  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

entwarf  ilim  nun  ein  möglichst  lebhaftes  Bild  Ihres  Aeusseren,  wel- 
ches nächstens  noch  durch  einige  Mittheilungen  gehoben  wer- 
den soll.  —  Diese  und  noch  viel  mehr  junge  Leute  waren  am 
Weihnachtsabend  hier.  Felix  hatte  denselben  Tag  eine  aUer« 
liebste  Kindersymphonie  *)  komponirt,  die  zu  allgemeinem  Spass 
zwei  Mal  gespielt  wurde,  ein  grosser  Baumkuchen,  den  Di- 
richlet  zum  Geschenk  erhielt  (er  ist  ein  leidenschaftlicher 
Liebhaber  davon)  und  der  als  Dame  maskirt  ihm  erst  eine 
Liebeserklärung  überreichte,  lieferte  ebenfalls  zu  tausend  Scher- 
zen den  Stoff. 

Felix  hat  viel  und  mancherlei  Allheiten  vor:  Er  bearbeitet 
für  die  Akademie  Acis  und  Galatea,  eine  Händel'sche  Kantate, 
dafür  singt  die  Akademie  ihm  und  Devrient  die  Passion,  die 
im  Laufe  des  Winters  zu  einem  wohlthätigen  Zweck  (dass  der 
Zweck  hier  Mittel  ist  und  das  Mittel  Zweck,  begreifen  Sie) 
aufgeführt  werden  soU.  Zugleich  erscheint  das  Werk  bei  Schle- 
singer, eine  Anzahl  Platten  ist  schon  fertig,  und  wird  das  Jahr 
1829  wohl  Epoche  in  der  Geschichte  der  Musik  machen.  Felix 
hat  sich  noch  eine  Reihe  von  Arbeiten  bis  zu  seiner  Abreise 
vorgesetzt,  diese  wird  im  frühen  Frühling  stattfinden  und  dann 
wird's  nicht  hübsch  in  der  Welt  aussehen  für  mich."  — 

Wilhelm  Hensel  war  im  Oktober  1828  aus  Italien  zurück- 
gekehrt. Es  war  zwischen  ihm  und  Fanny  ein  eigenthünüiches 
Verhältniss:  Als  junge  Leute  von  28  und  17  Jahren  hatten 
sie  sich  kennen  und  lieben  gelernt.  Darauf  war  eine  Pause 
von  fünf  Jahren  eingetreten,  während  der  die  mächtigsten  und 
verschiedensten  Büdungselemente  auf  beide  einwirkten  und  jede 
direkte  Mittheilung  zwischen  ihnen  untersagt  war.  Er  hatte  die 
Zeit  im  sonnigen  Süden  im  Anschauen  und  in  der  Nachbildung  des 
Höchsten,  was  in  seiner  Kunst  geschaffen  worden,  zugebracht ; 
sie  war  in  dem  belebtesten,  geistig  angeregtesten  Familien- 
kreise vom  Kinde  herangereift  zur  Jungfrau.  Nun  fanden  sie 
sich  wieder:  der  Mann  von  drei  und  dreissig  Jahi-en,  das  Mäd- 


*)  Felix  hat  demnach  —  siehe  S.  172  —  zwei  Kindersympho- 
nieen  komponirt.  Nur  die  eine  hat  sich  erhalten,  von  der  zweiten 
war  keine  Spur  aafzufinden. 


Brautzeit  Fannys.  189 

chen  von  zwei  mid  zwanzig',  —  sie  waren  doch  himmelweit  ver- 
scMeden  von  den  Wesen,  die  sich  fünf  Jahr  vorher  getrennt 
hatten;  dieselben  nur  in  ihrer  Liebe  und  in  ihrem  Entschluss 
den  Vereinigungspunkt  für  ihre  verschiedenen  Naturen  zu  fin- 
den. Er,  ein  auf  dem  Höhepunkt  des  Lebens  stehender,  gereifter 
Mann,  dem  die  besten  Jugendjahre  schon  dahingeflossen  waren, 
jetzt  andringend,  mit  dem  Wunsch  des  langersehnten  Besitzes ; 
sie,  schüchtern,  Anfangs  wohl  scheu  über  den  ihr  wieder  un- 
gewohnten und  fremd  gewordenen  Mann,  sich  zurückziehend 
in  den  geliebten  Kreis  der  Eltern,  Geschwister,  Freunde.  Die 
Eltern,  wohl  fühlend,  dass  der  Entscheidungsmoment  nahe, 
dass  sie  bald  die  Tochter  nicht  mehr  allein  besitzen  würden, 
dem  Fremden  vielleicht  nicht  ganz  freundlich  begegnend;  der 
Kreis  der  Freunde,  den  Bruder  an  der  Spitze,  zuerst  mit  der, 
solch  harmonisch  geschlossenem  Kreise  eigenen  Exclusivität 
sich  wehrend  gegen  den  Eindringling,  der  die  Hand  ausstreckte 
nach  einem  Besitz,  den  sich  wohl  mancher  der  Genossen  selbst 
gewünscht  haben  mochte.  Und  es  waren  doch  auch  auf  beiden 
Seiten  Fehler  zu  überwinden.  Hensel  war  anfangs  eifersüchtig 
in  hohem  Grade,  eifersüchtig  auf  alles,  Eltern,  Geschwister, 
Freunde,  Bekannte,  ja  auf  Fanny's  Kunst  selbst.  Er  kam 
fremd  in  einen  Kreis,  der,  wie  es  wohl  immer  zu  geschehen 
pflegt,  mannigfache,  ernsthafte  und  scherzhafte  Beziehungen 
hatte  und  von  diesen  in  einer,  dem  Uneingeweihten  unver- 
ständlichen Coteriesprache  redete.  Dagegen  ist  der  Fremde  in- 
tolerant, er  fühlt  sich  genirt  und  beengt,  er  findet  manchen 
Witz  fade  und  kann  sich  in  den  Gedankengang  nicht  fügen. 
Dem  Kreise  nun  wieder  kommt  der  Fremde  steif  und  hölzern 
vor,  exclusiv  schliesst  er  sich  gegen  ein  neues,  ungewohntes 
Element  ab,  mancher  witzige  Pfeil  wird  abgeschossen,  den  der 
Eindi'ingling  nicht  abwehren  kann,  weil  er  die  Spitze  erst 
fühlt,  wenn  sie  längst  getroffen.  Fanny  dagegen  war  ab  und 
zu  launenhaft,  sie  konnte  sich  ihrerseits  nicht  gleich  in  den 
ihr  fremden,  alles  gar  zu  ernst  und  schwer  nehmenden  Gedan- 
kengang des  Mannes  finden  und  mochte  wohl  manchmal  mit 
einem  Scherz  abgethan  glauben,  was  ihm  ernst  war.  Auf  den 
sonnigen  Höhen  eines   sorgenfreien  Lebens  war  sie  gewandelt, 


190  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

er  hatte   im   harten  Kampf  um  das  Dasein  gedarht.    Und  in 
angeborener    Bescheidenheit,    in   Geringschätzung   des  eigenen 
Werthes,  allerdings  auch  in  ünkenntniss  der  felsenfesten  uner- 
schütterlichen Zuverlässigkeit   von  Fanny's  Natur  fürchtete  er 
doch,  es  möchte  unter  den  andern,  glänzenderen  jungen  Leuten 
des  Mendelssolm'schen  Hauses,    in  den  langen  fünf  Jahren  der 
Abwesenheit,  ihn  der   eine  oder  der  andere  aus  ihrem  Herzen 
verdrängt  haben  und  argwöhnischen  Blickes    musterte   er  an- 
fangs den  ganzen  Kreis.     Aber  das  dauerte  doch  nicht  lange. 
Sie  hatten  beide  den  ernsten  Willen,   sich  gegenseitig  zu  ver- 
stehen und  das  half  über  alles  hinweg,  beiien  war  es  um  volle 
Wahrheit,  um  dauerhafte  Aufstellung  eines  guten  Verhältnisses 
zu  thun,  nicht  um  Vertuschung  und  äusseren  Schein.  Eührend 
schön  sind  Fanny's  Brautbriefe,  die  ein  günstiges  Geschick  ihrem 
Sohn  aufbewahrt  hat,  die  aber  leider  der  Oeff'entlichkeit  vorent- 
halten   bleiben    müssen.      Täglich     Morgens     kam    Hensel's 
Diener  und  brachte  und  holte  ein  Zettelchen  des  Grusses,  oft 
ernsten   Lihaltes;   die  ganzen  Kämpfe  zweier    gewissenhaften 
Naturen  spiegehi  sich    darin  wieder.  —  Nur  ihre  Briefe  sind 
erhalten:  den  Bruder   hält  sie  der  anfänglichen  Eifersucht  ge- 
genüber unerschütterlich  fest,   aber   den  Freundeskreis,  selbst 
die  Kunst  ist   sie  bereit  aufzugeben.     Oft  wird   sie  durch  die 
Gegenwart  gestört,  aber  sobald  sie  allein  ist,  in  der  Stille  der 
Nacht,  nur  dem  ideellen  Bild  des  Geliebten  gegenüber,  wie  sie 
gewohnt  ist,  es  anzuschauen  aus  den  Trennungsjahren  her,  fin- 
det sie  sich  sofort  zurecht,   und   allmälig  gelingt  es  ihr,  Bild 
und  Wii'klichkeit   in  einen  Gesichtspunkt   zu  bringen.    Jenen 
Brief  ilires  Vaters  hat  sie  fest  im  Auge,  der  ihr  die  Hausfrau 
als   den  einzigen  Beruf  des   Mädchens  aufgestellt  hatte,    und 
sie  arbeitet  emsig  daran,  sich  mit  Hinblick  auf  den  Mann  ihrer 
Wahl  dazu  zu  bilden.    Ernstes  Studium  seiner  Natur,  unzwei- 
felhafte Verpflichtung  der  Frau,   in  dieselbe   einzugehn,  dabei 
aber  kein  weichliches   Nachgeben  in  Dingen,  die  sie  nicht  für 
recht  und  gut  erkennen  konnte;   stete  Arbeit  an  der  Lebens- 
aufgabe :  aus  zwei  Natui-en  ein  harmonisches  Ganzes  zu  bilden 
und  dieses  Ganze  im  Zusammenhang  mit  den  Uebrigen  zu  er- 
halten, —  die  Erfüllung  dieser  Pflicht  klingt  aus  allen  diesen 


Brautzeit  Fanny 's.  191 

Brautbriefen,  zieht  sich  wie  ein  rother  Faden  durch  dieselben. 
Und  so  hat  sie  es  erreicht,  dass  er,  der  Anfangs  sie  mit  Aus- 
schluss der  ganzen  übrigen  Welt  allein  besitzen  wollte,  die 
Berechtigung  der  andern  Beziehungen  gelten  liess  und  selbst 
als  geliebtes  und  von  ihr  über  Alles  geliebtes  Mitglied  in  den 
Kreis  eintrat. 

Aber  auch  Hensel  arbeitete  in  seiner  Weise  ebenso  eifrig 
daran.  Zwar  von  seinen  Briefen  ist  aus  der  Brautzeit,  wie 
schon  erwähnt,  nichts  erhalten ;  doch  hat  der  Erfolg  bewiesen, 
dass  er  in  der  Ehe  mindestens  ebensoviel  von  seiner  Natur 
aufgegeben  hat,  als  Fanny  von  der  ihrigen.  Er  erkannte  ihre 
hohen  und  edeln  Eigenschaften  vollkommen  an  und  liess  sie 
ungestört  walten.  Auch  aktiv  betheiligte  er  sich  an  der  Arbeit; 
und  auch  hier  wieder  war  es,  wie  während  des  italiänischen 
Aufenthalts,  seine  Kunst,  die  die  Brücke  wurde  und  Bresche 
für  ihn  schoss  in  Aller  Herzen.  Hauptsächlich  wirkte  dazu 
Felixens  Portrait,  das  Allen  sehr  gefiel,  und  das  jetzt,  wo 
Felix  selbst  im  Begriff  stand,  das  Vaterhaus  zu  verlassen, 
doppelten  Werth  hatte.  Fanny  schreibt  in  ihrem  Tagebuch, 
das  seit  dem  ersten  Januar  1829  bis  zu  ihrem  Tode  vollständig 
vorliegt  und  von  jetzt  ab  Hauptquelle  der  Darstellung  ist: 
^Hensel  brachte  die  Skizze  von  Felix'  Bilde  mit,  die  sehr  hell 
und  schön  und  prächtig  aufgefasst  ist.  Felix  selbst  ist  ganz 
entzückt  davon  und  ich  finde,  dass  er  seit  diesem  Bilde  ganz 
anders  gegen  Hensel  ist."  — 

Hatte  Hensel  durch  dies  Bild  abermals  bewiesen,  was  er 
im  Ernst  zu  leisten  vermöchte,  so  zeigte  er  sich  durch  eine 
kleine  Zeichnung  dem  im  Mendelssolin'schen  Kreis  herrschenden 
witzigen  Coterieton  vollständig  gewachsen.  Dieselbe  ist  zu 
charakeristisch,  um  nicht  einige  Augenblicke  dabei  zu  verweilen. 
Sie  heisst  „das  Rad,"  so  nannten  nämlich  die  Eingeweihten  den 
ganzen  Kreis  nächster  Freunde.  Diesen  Gedanken  fasste  der 
Künstler  auf  und  stellte  nun  die  ganze  Gesellschaft  als  ein 
wirkliches  Rad  dar:  die  Nabe,  um  die  sich  Alles  dreht,  ist 
Felix  in  schottischem  Kostüm,  wegen  der  englischen  Reise, 
und  Musik  machend,  der  die  Delphinen  lauschen,  ein  zweiter 
Arion.    Die  Speichen  des  Rades  sind  Fanny  und  Rebecka,  beide 


192  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

umschlungen  mit  dem  Notenblatt  in  der  Hand  und  unten  in 
Fischottern  endigend  (so  nannte  Felix  die  Schwestern),  und 
eine  grosse  Anzal  von  Personen  aus  dem  Freundschaftskreise 
paarweise  mit  allen  möglichen  Coteriebezeichnungen  in  Tracht 
und  Attributen.  So  steht  das  Rad  in  sich  fest  geschlossen,  ab- 
geschlossen gegen  die  Aussenwelt,  AUes  auf  sich  bezogen.  Von 
Aussen  aber,  gewissermassen  als  Ixion  auf  das  Rad  geflochten, 
gefesselt  an  einer  Kette,  deren  Ende  Fanny  hält,  ist  ein  Fremder, 
im  Begriff,  sich  iu  das  Rad  hineinzuschwingen,  Hensel  selbst. 
Diese  reizend  erdachte  und  reizend  ausgeführte  kleine  Symbolik 
der  Vorgänge  des  Jahres  1829  verfehlte  denn  auch  ihren  Zweck 
nicht.    Das  Rad  öffnete  sich  und  nahm  Wilhelm  Hensel  auf. 

Die  Verlobung  erfolgte  am  22ten  Januar  1829,  und  die 
Brautschaft  und  Felixens  bevorstehende  Abreise  waren  in  der 
nächsten  Zeit  die  hellen  und  dunklen  Fäden,  aus  denen  sich 
das  Gewebe  der  Tage  zusammensetzte.  Gleich  nach  der  Ver- 
lobung fingen  die  Proben  der  Matthäus-Passion  von  Sebastian 
Bach  an,  deren  Aufführung  Felixens  glänzender  Abschied  von 
Berlin  wurde.  Es  war  jener  Zeit  in  den  tiefsten  Meisterwerken 
von  Bach  und  Beethoven  ein  noch  fast  vollständig  unbekannter 
Schatz  vermacht  worden.  Aber  grade  damals  fingen  die  besten 
musikalischen  Köpfe  an,  inne  zu  werden,  dass  für  die  Hebung 
dieses  Schatzes  etwas  geschehen  müsse,  dass  dies  die  vielleicht 
grösste  musikalische  Aufgabe  der  Zeit  sein  werde.  Wie  sie 
in  den  Mendelssohn'schen  Kreisen  gewürdigt  wurde,  konnten 
wir  schon  aus  Aeusserungen  Fanny's  in.  den  Briefen  an  KUnge- 
mann  sehn ;  FeUx  hat  an  dieser  Aufgabe,  neben  eigenem  Schaffen, 
sein  ganzes  Leben  lang  ernst  und  gewissenhaft  gearbeitet,  und 
wenn  Beethoven  und  Bach  jetzt  Gemeingut  der  deutschen  Nation 
sind,  so  ist  dies  zu  einem  guten  Theil  ihm  zuzuschreiben.  Dies- 
mal handelte  es  sich,  wie  gesagt,  um  die  Passionsmusik,  und 
Fanny  berichtet  darüber  an  Klingemaiin  in  folgendem  Brief,  dem 
einige  wenige  Züge  aus  dem  Tagebuch  eingeüochten  sind: 

Berlin,  22.  März  29. 

„ Felix  schicken  wir  Ihnen  nun  bald,  er  hat  sich 

ein  schönes  Gedächtniss  hier  gestiftet  durch  zweimalige  über- 


Erste  Aufführung  der  Matthäuspassion.  193 

füllte  Aufführung  der  Passion  zum  Besten  der  Armen.  Was 
wir  uns  alle  so  im  Hintergründe  der  Zeiten  als  Möglichkeit 
geträumt  haben,  ist  jetzt  wahr  und  wirklich,  die  Passion  ist  in's 
öffentliche  Leben  getreten  und  Eigenthum  der  Gemüther  ge- 
worden. Indem  ich  Ihnen  davon  weiter  erzählen  wiU,  schiebt 
sich  mir  Felixens  Reise  vor  und  die  wird  wiederum  verdrängt 
durch  meine  Brautschaft  und  in  diesem  Cirkel  von  Begeben- 
heiten würde  ich  keinen  Anfang  zu  finden  wissen,  wenn  ich 
nicht  aufs  Gerathewohl  hineingriffe  und  sagte:  Ihr  voriger 
Brief,  in  dem  Sie  so  viel,  ahnungslos  und  unbefangen,  von  den 
Miseren  und  Lächerlichkeiten  des  Brautstandes  erzählen,  hat 
uns  ungemein  ergötzt  und  ich  versichere  Sie,  wir  haben  uns 
nicht  im  Mindesten  getroffen  gefühlt.  Sie  können  sich  darauf 
verlassen,  dass  wir  zu  den  besseren  unseres  (Braut-)Standes 
gehören  und  dass  andere  Leute  dabei  bestehen  können.  Fragen 
Sie  nur  meüie  Geschwister.  Ich  finde  es  übrigens  gar  nicht 
schwer,  äusserlich  heiter  zu  sein,  wenn  man  innerlich  vergnügt, 
ist  und  sich  bei  irgend  einer  Gelegenheit  schicklich  zu  betragen, 
wenn  man  eine  leidliche  Erziehung  genossen  hat,  und  ich  bleibe 
dabei,  die  aus  „Gefühl"  unausstehlichen  Brautpaare  begreife 
ich  nicht.  Uebrigens  kann  und  wül  ich  Ihnen  nicht  verhehlen, 
dass  Ihre  Briefe  Ihnen  Hensel  gewonnen  haben,  der  Sie  vor- 
her wie  die  meisten  Ihrer  entfernten  Bekannten  nicht  kannte. 
Schliesslich  und  letztens  danke  ich  Ihnen,  sich  in  die  Keihe 
meiner  Freundinnen  gestellt  zu  haben,  und  betheure  Urnen, 
dass  an  der  Sache  nichts  geändert  wird,  wie  Ihnen  vorläufig 
meine  rasche  Antwort  beweisen  mag.  Mein  Gedächtniss,  so 
todt  für  Erlerntes,  ist  unerschütterlich  für  Erlebtes  und  alle 
Freunde  und  Genossen  einer  frischen  Jugendzeit  sollen  wahr- 
lich durch  keiae  Verhältnisse  und  Verhängnisse  daraus  ver- 
drängt werden.  Zudem  wird  unsre  Korrespondenz  jetzt  durch 
Felixens  Aufenthalt  dort  einen  neuen  Schwung  erhalten  und 
somit  gebe  ich  Ihnen  zu  bedenken,  welcher  breite  Schatten- 
streif in  die  Sonnenseite  meiner  Brautzeit  fällt.  Ich  weiss, 
Sie  lieben  ihn  für  sich  und  ihn,  lieben  Sie  ihn  aber  noch  mehr, 
da  er  dort  Niemand  hat,  der  ihn  sonst  liebte  und  Sie  der  Erste 
und  Letzte  sind,  der  sich  ihm  und  vor  dem  er  sich  zeigen  darf 

Die  Familie  Mendelssohn.   L  13 


^94  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

und  wird.    Bereiten  Sie  ihm  manche  ruhige  Stunde,  in  der  er 
alte  Jahre  und  neue  Augenblicke  und  tönende  Ahnungen  künf- 
tiger Stunden   ausbreite  und  lenken  Sie  das  Gespräch  oft  auf 
uns,   oder  vielmehr  lenken   Sie  es  nicht  ab,    denn  er  wird  oft 
genug  mit  dem  Herzen  und  seinem  eigenthümlichen,    feucht- 
glänzenden BUck  bei  uns   sein.     Zur  Stunde   weiss  ich  noch 
nicht,  wie  es  sein  wird,  wenn  er  fort  ist,  aber  öde  und  stumm 
denke  ich  mir's  und  ich  würde  mich  vor  meinem  ganzen  früheren 
Leben  schämen,   wenn  Braut-  und  Ehestand  mich  gegen  diese 
Leere  schützen  könnten.     Hegen  und  pflegen  Sie  ihn  (geistig) 
und  lassen  Sie  ihn  für  so  viele  warme  Herzen,  die  er  verlässt, 
eins  wiederfinden.  —   Und  nun  verzeihen  Sie  mir,  dass  ich  so 
weich  vor  Ihnen  geworden,  oder  vielmehr,  dass  ich's  so  grade 
herausgesagt,  denn  Sie  sind's  wohl  nicht  weniger,  aber  ironischer. 
Ein  schönes  Andenken,  was  wir  von  ihm  hierbehalten,  ist  sein 
Bild  von  Hensel,    Lebensgrösse,  Kniestück;    die  Aehnlichkeit 
vollkommen,  wie  man  sie  nur  wünschen  kann,  em  wirklich  er- 
freuUches,  liebenswürdiges  Büd.    Er  sitzt  auf  einer  Gartenbank, 
(der  Hintergrund  eine  Fliederparthie  aus  unserm  Garten),  den 
rechten  Arm  über  die  Lehne  gelegt,  den  Linken  auf  dem  Schooss, 
mit  erhobenen  Fingern;    dem  Ausdruck  des  Gesichts  und  der 
Bewegung  der  Hände   zu  Folge   komponirt  er.   —   Von  der 

Passion  also: 

Felix  und  Devrient  sprachen  schon  lange  von  der  Mög- 
lichkeit einer  Aufführung,  aber  der  Plan  hatte  nicht  Form 
noch  Gestalt,  an  einem  Abend  bei  uns  gewann  er  Beides  und 
den  Tag  darauf  wanderten  die  Zwei  in  neugekauften  gelben 
Handschuhen  (worauf  sie  sehr  viel  Gewicht  legten)  zu  den  Vor- 
stehern der  Akademie.  Sie  traten  leise  auf  und  fragten  be- 
scheidentlich,  ob  man  ihnen  zu  einem  wohlthätigen  Zweck  wohl 
den  Saal  überlassen  würde  ?  Sie  wollten  alsdann,  dadieMusik 
wahrscheinlich  sehr  gefallen  würde,  eine  zweite  Auf- 
führung zu  Gunsten  der  Akademie  veranstalten. 

Aber  die  Herren  bedankten  sich  höflich  und  zogen  vor, 
ein  gewisses  Honorar  von  fünfzig  Thalern  zu  nehmen  und  den 
Concertgebem  die  Verfügung  über  die  Einnahmen  anheim  zu 
stellen.    Beiläufig  gesagt,  kauen  sie  noch  heut  an  der  Ant- 


Erste  Aufführung  der  Matthäuspassion.  195 

wort.  Zelter  hatte  nichts  da'\;sider  einzuwenden  und  so  be- 
gannen die  Proben  am  folgenden  Freitag.  Felix  ging  die  ganze 
Partitur  durch,  machte  einige  wenige  zweckmässige  Abkürzungen 
und  instrumentirte  das  einzige  Recitativ:  „Der  Vorhang  im 
Tempel  zerriss  in  zwei  Stücke."  —  Sonst  ward  Alles  unberührt 
gelassen.  Die  Leute  staunten,  gafften,  bewunderten,  und  als 
nach  einigen  Wochen  die  Proben  auf  der  Akademie  selbst  be- 
gannen, da  zogen  sie  erst  die  längsten  Gesichter  vor  Staunen, 
dass  solch  ein  Werk  existirte,  wovon  sie,  die  Berliner  Akade- 
misten,  nichts  wussten.  Als  das  begriffen  war,  fingen  sie  mit 
wahrem  und  warmem  Interesse  an  zu  studiren  Die  Sache 
selbst,  das  Neue,  Unerhörte  der  Form  interessirte,  ier  Stoff 
war  allgemein  ansprechend  und  verständlich,  Devrient  trug  die 
Recitative  wunderschön  vor;  v^ie  alle  Sänger  schon  von  den 
ersten  Proben  an  ergriffen  waren  und  mit  ganzer  Seele  an  das 
Werk  gingen,  vsde  sich  die  Liebe  und  Lust  bei  jeder  Probe 
steigerte  und  wie  jedes  neu  hinzutretende  Element,  Sologesang, 
dann  Orchester,  immer  vom  Neuem  entzückte  und  erstaunte,  wie 
herrlich  Felix  einstudirte  und  die  früheren  Proben  am  Forte- 
piano  von  einem  Ende  zum  Andern  auswendig  akkompagnirte, 
das  sind  lauter  unvergessliche  Momente.  Zelter,  der  in  den 
ersten  Proben  mitgewirkt  hatte,  zog  sich  nach  und  nach  zurück 
und  nahm  in  den  späteren  Proben,  sowie  in  den  Aufführungen 
mit  musterhafter  Resignation  seinen  Sitz  unter  den  Hörern. 
Nun  verbreitete  sich  durch  die  Akademie  selbst  ein  so  günsti- 
ges Urtheil  über  die  Musik,  das  Interesse  ward  in  jeder  Be- 
ziehung und  durch  alle  Stände  hindurch  so  lebhaft  angeregt, 
dass  den  Tag  nach  der  ersten  Ankündigung  des  Concerts  alle 
Billets  vergriffen  waren  und  in  den  letzten  Tagen  über  tausend 
Menschen  zurückgehen  mussten.  Mitwoch,  den  zehnten  März  *) 
war  die  erste  Aufführung,  die  man,  unbedeutende  Versehen  der 
■Solosänger  abgerechnet,  durchaus  gelungen  nennen  konnte. 
Wir  waren  die  Ersten  auf  dem  Orchester;  gleich  nach  Oeflf- 
nung  der  Thüren  stürtzten  die  Menschen,  die  schon  lange  ge- 
wartet hatten,    hinein   und  der  Saal  war  in  weniger  als  einer 


")  Es  war  der  elfte. 

13* 


196  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

Viertelstunde  voll.  Icli  sass  an  der  Ecke,  dass  ich  Felix  genau 
sehen  konnte  und  hatte  die  stärksten  Altstimmen  neben  mich 
genommen.  Die  Chöre  waren  von  einem  Feuer,  einer  schla- 
genden Kraft  und  wiederum  von  einer  rührenden  Zartheit,  wie 
ich  sie  nie  gehört,  ausser  bei  der  zweiten  Aufführung,  wo  sie 
sich  selbst  übertrafen.  In  der  Voraussetzung,  dass  Ihnen  die 
dramatische  Form  noch  erinnerlich  ist,  schicke  ich  Ihnen  ein 
Textbuch  mit,  wobei  ich  bemerke,  dass  Stümer  die  Erzählung 
des  Evangelisten,  Devrient  die  Worte  Jesu,  Bader  den  Petrus, 
Busolt  den  Hohenpriester  und  Pilatus,  und  Weppler  den  Judas 
sang.  Die  Schätzel,  Milder  und  Türrschmiedt  sangen  die  Sopran- 
und  Altsolos  vortrefflich.  —  Der  überfüllte  Saal  gab  einen  Anblick 
wie  eine  Kirche,  die  tiefste  Stille,  die  feierlichste  Andacht  herrschte 
in  der  Versammlung,  man  hörte  nur  einzelne  unwillkürliche 
Aeusserungen  des  tief  erregten  Gefühls;  was  man  so  oft  mit  Unrecht 
von  Unternehmungen  dieser  Art  sagt,  kann  man  hier  mit  wahrem 
Hecht  behaupten,  dass  ein  besonderer  Geist,  ein  allgemeines, 
höheres  Interesse  diese  Aufführung  geleitet  habe  und  dass  ein 
Jeder  nach  Kräften  seine  Schuldigkeit,  manche  aber  mehr  tha- 
ten.  So  Rietz,  der  das  Ausschreiben  aller  Instrumentalstimmen 
mit  Hülfe  seines  Bruders  und  Schwagers  übernommen  und  denen 
Dreien  man  nach  beendeter  Arbeit  kein  Honorar  aufzudringen 
vermochte;  die  meisten  Sänger  wiesen  die  ihnen  zugedachten 
Freibillets  zurück  oder  bezahlten  sie,  sodass  im  ersten  Concert 
nur  sechs  Freibillets  waren  (wovon  Spontini  zwei  hatte),  im 
zweiten  gar  keins.  Noch  vor  der  Aufführung  war  durch  die 
Vielen,  die  unberücksichtigt  bleiben  mussten,  das  laute  Geschrei 
um  eine  Wiederholung  ertönt  und  die  Erwerbschulen  hatten 
sich  als  Supplikanten  gemeldet,  allein  diesmal  war  Spontini 
erwacht  nnd  bemühte  sich  mit  der  grössten  Freundlichkeit,  die 
zweite  Aufführung  zu  hintertreiben,  Felix  und  Devrient  schlu- 
gen dagegen  den  gradesten  Weg  ein  und  verschafften  sich  Be- 
fehle vom  Kronprinzen,  der  sich  von  Anfang  an  sehr  für  das 
Werk  interessirt  hatte  und  so  ward  es  Sonnabend,  den  ein  und 
zwanzigsten  März,  an  Bach's  Geburtstag  wiederholt:  dasselbe 
Gedränge,  noch  grössere  Fülle,  denn  der  Vorsaal  sogar  war 
eingerichtet  und  alle  Plätze  verkauft,  ebenso  der  kleine  Probe» 


H.  Heine.    Gans.  197 

«aal  hinter  dem  Orchester.  Die  Chöre  waren  fast  noch  vor- 
trefflicher als  das  erste  Mal,  die  Instrumente  herrlich,  nur  ein 
arger  Fehler,  den  die  Milder  machte,  und  andre  kleinere  in 
den  Solostimmen  verdarben  Felix  den  Humor,  im  Ganzen  kann 
man  aber  sagen,  dass  gute  Unternehmungen  sich  keinen  erfreu- 
licheren Erfolg  wünschen  können.  — 

Heine  ist  hier  und  gefällt  mir  garnicht;  er  ziert  sich. 

Wenn  er  sich  gehn  Hesse,  müsste  er  der  liebenswürdigste  un- 
gezogene Mensch  sein,  der  je  über  die  Schnur  hieb,  wenn  er 
sich  im  Ernst  zusammennähme,  würde  ihm  der  Ernst  auch  wohl 
anstehen,  denn  er  hat  ihn,  aber  er  ziert  sich  sentimental,  er 
ziert  sich  geziert,  spricht  ewig  von  sich  und  sieht  dabei  die 
Menschen  an,  ob  sie  ihn  ansehn.  Sind  Ihnen  aber  Heine's 
Reisebilder  aus  Italien  vorgekommen?  Darin  sind  wieder  prächtige 
Sachen.  Wenn  man  ihn  auch  zehnmal  verachten  möchte,  so 
zwingt  er  einen  doch  zum  elften  Mal  zu  bekennen,  er  sei  ein 
Dichter,  ein  Dichter!  Wie  klingen  ihm  die  Worte,  wie  spricht 
ihn  die  Natur  an,  wie  sie  es  nur  den  Dichter  thut. 

Beinahe  hätte  ich  vergessen,  Ihnen  zu  danken,  dass  Sie 
erst  aus  meiner  Verlobungskarte  geschlossen  haben,  ich  sei  ein 
Weib  wie  andere,  ich  meinestheils  war  darüber  längst  im  Kla- 
ren, ist  doch  ein  Bräutigam  auch  ein  Mann  wie  andre.  Dass 
man  übrigens  seine  elende  Weibsnatur  jeden  Tag,  auf  jedem 
Schritt  seines  Lebens  von  den  Herren  der  Schöpfung  vorgerückt 
bekommt,  ist  ein  Pimkt,  der  einen  in  Wuth  und  somit  um  die 
Weiblichkeit  bringen  könnte,  wenn  nicht  dadurch  das  üebel 
ärger  würde.  — 

Hensel  fängt  jetzt  ein  lebensgrosses  Bild,  fast  ganze  Figur, 
von  Gans  an,  der,  überhaupt  halb  Mensch  und  halb  Kind  oder 
Wilder,  eine  unendliche  Freude  hat,  sich  auf  der  Leinewand 
zu  sehen.  Er  kommt  viel  zu  uns  und  findet  grossen  Geschmack 
an  Eebecka,  der  er  auch  eine  griechische  Lehrstunde  aufge- 
zwTingen  hat,  in  der  diese  beiden  gelehrten  Personen  den  Plato 
lesen.  Groteskeres  kenne  ich  nicht.  Dass  man  aus  dieser  pla- 
tonischen Verbindung  eine  reelle  macht  und  sie  in  der  ganzen 
Stadt  versprochen  sagt,  versteht  sich  von  selbst,  es  ist  aber 
garnicht  daran  zu  denken. 


198  Leipziger  Strasse  Nr.  3. 

Und  nun  sagen  Sie  mir,  ob  je  ein  plauderhafterer  Brief 
geschrieben  ward?  Sie  wollten  in  einen  Brautbrief  keine  Zei- 
tungsnachrichten setzen,  ich  bitte  Sie  aber  in  Ihrem  nächsten 
ein  Wort  über  die  Rolle  der  Katholiken-Emancipation  in  der 
Londoner  Gesellschaft  zu  sagen,  davon  wissen  die  Zeitungen 
nichts.  Ich  verfolge  diese  Sache  aufmerksam  und  antheilvoll, 
was  mich  aber  dabei  wie  bei  aller  Politik  ennüyirt,  ist,  dass 
ich  fürchte,  es  kommt  nicht  viel  dabei  heraus;  halbe  Jahre 
lang  sclireien  sie  und  am  Ende  muss  man  die  Resultate  mit 
der  Laterne  suchen.  Uebrigens  interessiren  einen  die  Nachi^ich- 
ten  doppelt,  wenn  sie  aus  einem  Lande  kommen,  wo  man  einen 
Freund  hat.  Ich  meinestheils  kann  nie  die  Ueberschrift  „Lon- 
don" lesen,  ohne  zu  vermuthen,  dass  ich  Ihren  Namen  unter 
denen  der  Peers,  oder  als  Bittsteller  wider  die  Katholiken  oder 
auf  andre  Art  lesen  werde,  und  ich  traue  Ihnen  soviel  Gefühl 
zu,  dass  Sie  bei  der  Lesung  der  Berliner  Zeitung  oft  er- 
warten werden,  mich  als  Inhaberin  des  Rothen  Adlerordens 
oder  als  Hofrath  oder  Auktionskommissarius  figuriren  zu 
sehen."  — 

In  dieser  Zeit  verkehrte  eine  grosse  Menge  der  interessan- 
testen Personen  im  Mendelssohn'schen  Hause :  ausser  H.  Heine 
zeigt  der  Band  VITL.  der  Portraitsammlung  Hensel's  noch  die 
wohlgetroffenen  Bilder  von  Paganini,  der  Müder,  des  Dichters 
Ludwig  Robert  und  seiner  berühmt  schönen  Frau  Friderike 
Robert  und  Hegels ;  Alexander  von  Humboldt,  der  damals  sich 
viel  mit  Magnetbeobachtungen  beschäftigte,  hatte  hinten  im 
Garten  ein  eigenes  Observatorium  wegen  der  dort  herrschenden 
Stille  und  Ruhe,  und  er  und  Professor  Encke  waren  so  fast 
tägliche  und  manchmal  auch  nächtliche  Besucher  des  Gartens, 
wenn  die  Beobachtungen  es  erforderten.  —  Es  gab  dabei  ein- 
mal einige  Jahre  später    eine  sehr  komische  Scene,  die  Fanny 

Hensel    folgendermassen    beschreibt:  ^ Eine    romantische 

Geschichte,  die  neulich  hier  vorgefallen  ist,  muss  ich  Euch  doch 
erzählen.  Ich  höre  in  der  Nacht,  dass  Jemand  zu  einer  Seite 
der  Schlafstube  hereintritt  und  zu  der  anderen  wieder  hinaus- 
geht, ich  rufe  —  keine  Antwort  —  Wilhelm  wacht  auf  und 
schreit:   In's    drei  Teufels  Namen,  wer  ist  da?  und  herein  mit 


Nachtabenteuer  von  Professor  fincke.  199 

bedächtigem  Schritt  Luise  *)  tritt  und  sagt,  wie  sie  schon  eine 
ganze  Weile  Diebe  im  Saal  höre,  sie  seien  auch  mit  der  La- 
terne in  den  Garten  gegangen  und  sie  habe  es  für  ihre  Schul- 
digkeit gehalten,  zu  wecken,  sie  habe  aber  bloss  das  Mädchen 
wecken  wollen  und  es  sei  ihr  leid,  uns  gestört  zu  haben. 
Wilhelm  steht  auf,  nimmt  die  rothe  Bettdecke  um,  lässt  sich 
von  Luisen  in  Nachtjacke  und  Mütze  vorleuchten  und  marscliirt 
mit  gezogenem  Säbel  dem  Saal  zu.  Die  Thüre  wird  aufgerissen 
und  es  war  auch  hohe  Zeit,  denn  eben  war  der  Dieb  mit  der 
Laterne  im  Begriff,  nach  der  Gartenseite  zu  entweichen.  Als 
er  aber  Geräusch  hört,  sieht  er  sich  um  und  wie  er  einen 
blossen  Säbel  erblickt,  läuft  er  fort.  Wilhelm  ihm  nach.  Der 
Dieb  musste  aber  sehr  gut  Bescheid  wissen,  denn  er  nimmt 
seinen  Weg  grade  nach  des  Gärtners  Wohnung  hin.  Erst  als 
sich  Beide  in  seiner  Stube  befinden,  stehen  sie  still  und  Ver- 
folger und  Verfolgter  brechen  in  ein  lautes  Gelächter  aus: 
Herr  Professor  Hensel  — Herr  Professor  Encke  sind  Sie's? 
Bitte  tausendmal  um  Vergebung,  ich  habe  Sie  für  einen  Eäuber 
gehalten  —  und  meine  Schwester  Sie  für  einen  Dieb.  Wie 
Luise  mit  ihrer  Wachsamkeit  geneckt  worden  ist,  könnt  Ihr 
Euch  denken."  — 


")  Hensel's  Schwester  und  damalige  Hausgenossin. 


Felix  in  England  1829. 


Am  10.  April  1829  reiste  Felix  nach  England  ab,  sein 
Vater  und  Eebecka  begleiteten  ihn  bis  Hambui'g  und  dahin 
richtete  Fanny  folgenden  Abschiedsbrief: 

Den  15.  April  1829. 

„Obschon  wir  erst  gestern  geschrieben  haben,  treibt  mich 
doch  die  Lust,  Dir  am  letzten  Tage  vor  Deiner  Einschiffung 
noch  ein  paar  Zeilen  zu  schicken.  Nenne  es,  wie  Du  ^vollst, 
nenne  es  meinetwegen  Sentimentalität,  ärger  kannst  Du  es 
doch  nicht  nennen  und  es  macht  mir  Vergnügen,  aus  unserer 
jetzigen  Zweisamkeit  hinüberzugucken  in  Dein  jetzt  vielfach 
bewegtes  Leben,  wenn  Du  auch  weit  entfernt  bist,  in  diesem 
Augenblicke  Zeit  für  meine  Anschaulichkeit  zu  haben,  so  thut 
das  nichts,  es  ist  schon  eine  alte  Rede:  jeder  schreibt  an  sich; 
ich  schreibe  an  mich. 

Also  wenn  Du  diesen  Brief  bekommst,  so  heisst  es:  mor- 
gen nach  England.  Du  hast  es  mir  einmal  bei  einer  Gelegen- 
heit gesagt,  wie  man  sich  leicht  überwältigt  fühlt,  wenn  man 
so  ein  Stück  Leben  in  der  Hand  hält,  so  ist  es  jetzt  wieder. 
Oiebt  es  wohl  eiuen  grösseren  Buchdruckerstock,  als  dies  zwar 
verbindende,  aber  denn  doch  sehr  scheidende  Meer,  das 
eigentliche  Scheidewasser,  die  Chemie  sage  was  sie  wolle.  Und 
da  so  allein,  frei,  jung  zu  sein^  mit  Deinen  Kräften  und  mit 
Deinen  Aussichten.     Es   ist   gewiss   unser   eigenster  Vortheil 


Abschiedsbrief  an  Felix.  201 

und    eine    nicht    genug    zu   berücksichtigende   Artigkeit   vom 
Himmel,  dass  Du  Du  bist  und  so  möge  es  denn  bleiben.  — 

Was  Dich,  und  wärest  Du  eben  spleenisch  trotz  dem 
besten  Engländer,  zum  Lachen  bringen  muss,  ist,  dass  die 
Milder  gestern  Deine  Arie  mit  mir  im  Nebenzimmer  probirte 
und  sehr  entzückt  davon  ist,  —  dass  ich  sie  ihr  aber  dennoch 
punktiren  soll.  Giebt  es  etwas  Tolleres?  Ich  fand  die  Zu- 
muthung  lächerlich  genug,  werde  sie  aber  dennoch  erfüllen, 
da  ich  an  der  Handschrift  der  Partitur  untrüglich  erkannt 
habe,  wie  Dir  die  Sache  zum  Halse  herauswuchs. 

Ich  adressire  den  Brief  an  Dich,  o  Beckchen,  damit  Du, 
im  Falle  er  Felix  nicht  mehr  trifft,  damit  verfahren  mögest, 
wie  Du  meinst.  — 

Tausend  Grüsse  an  Vater  von  mir  und  Mutter,  die  in  den 
Garten  gegangen  ist,  um  es  grün  werden  zu  sehen.  Ach! 
dass  man  das  Alles  jetzt  ohne  Dich  (ich  meine  Felix)  gemessen 
soU!"  — 

Fanny. 

London,  2L  April  1829. 

Liebster  Vater  und  liebstes  Beckchen! 

^Soeben  in  London  glücklich  angekommen,  will  ich  nichts 
Anderes  eher  thun,  als  Dir  von  meiner  Ankunft  sogleich  Nach- 
richt zu  geben.  Unsere  Fahrt  war  nicht  schön  und  sehr  lang, 
denn  wir  sind  erst  heute  (Dienstag)  um  12  Uhr  im  Cmtom- 
hotise  gelandet,  von  Sonnabend  Abend  bis  Montag  Nachmittag 
hatten  wir  den  Wind  entschieden  entgegen  und  solchen  Stui^m, 
dass  die  ganze  Schiffsgesellschaft  seekrank  wurde;  wir  mussten 
einmal  des  dicken  Nebels  wegen,  ein  andermal,  um  die  Maschine 
in  Ordnung  zu  bringen,  einige  Zeit  still  liegen;  noch  vorige 
Nacht  mussten  die  Anker  an  der  Mündung  der  Themse  ge- 
worfen werden,  um  nicht  auf  andere  Schiffe  zu  stossen ;  dazu 
nimm,  dass  ich  von  Sonntag  früh  bis  Montag  Abend  mich  von 
Ohnmacht  zu  Ohnmacht  schleppte,  vor  Ekel  an  mir  selbst  und 
an  allen  Uebrigen  auf  Dampfschiff,  England  und  namentlich 
auf  meine«  Meeresstille  fluchend,   den  Auf  Wärter  nach  Kräften 


202  Felix  in  England  1629. 

scheltend  und  ihn  endlich  Montag  Mittag  fragend,  ob  man  nun 
endlich  London  sehen  könne,  worauf  er  gleichgültig  erwiderte, 
dass  wir  vor  Dienstag  Mittag  nicht  daran  zu  denken  hätten, 
dann  aber,  um  auch  von  der  Lichtseite  zu  sprechen,  gestern 
Abend  den  Mondschein  auf  dem  Meere,  und  viele  Hunderte 
von  Schiffen  um  uns  herumschleichend,  heute  früh  die  Falirt 
auf  der  Themse,  zwischen  grünen  Wiesen,  rauchigen  Städten, 
mit  zwanzig  Dampfbooten  um  die  Wette  rennend,  alle  Kähne 
bald  überflügelnd  und  endlich  der  fürchterlich  massenhafte  An- 
blick der  Stadt!  Meine  Ideen  sind  noch  so  ungeordnet,  wie 
die  vorige  Phrase,  und  ich  schreibe  diesen  Brief  nur,  um  Dich 
von  meiner  glücklichen  Ueberfahrt  zu  benachrichtigen,  drum 
mach  auch  weiter  keine  Ansprüche  daran;  ich  will  sogleich 
nach  Berlin  schreiben,  weil  eine  Post  über  Eotterdam  in  vier 
Tagen  da  ankommt,  muss  auch  nach  meiner  Wohnung  gehen 
(denn  ich  sitze  hier  noch  in  Klingemann's  Stube,  den  Geschäfte 
abhalten,  sich  eigenhändig  zu  empfehlen),  muss  Moscheies  auf- 
suchen, der  mich  erwartet,  muss  zu  Mittag  essen,  was  ich 
seit  drei  Tagen  nicht  gethan  habe  (o  ich  bin  sehr  elend),  muss 
mich  rasiren  lassen,   kurz,  muss    erst  wieder  Menschengestalt 

annehmen.    Auf  Wiedersehen." 

Felix. 

London,  25.  April  29. 

^Es  ist  entsetzlich!  Es  ist  toll!  Ich  bin  confus  und  ver- 
dreht! London  ist  das  grandioseste  und  complicirteste  Unge- 
heuer, das  die  Welt  trägt.  Wie  kann  ich  in  einen  Brief 
zusammendrängen,  was  ich  in  drei  Tagen  erlebt  habe  ?  Kaum 
weiss  ich  mich  noch  der  Hauptsachen  zu  entsinnen  und  doch 
darf  ich  kein  Tagebuch  führen,  sonst  würde  ich  wieder  etwas 
weniger  erleben  müssen ;  das  will  ich  aber  nicht,  sondern  Alles 
mitnehmen,  was  sich  mir  darbietet.  Es  geht  um  mich  herum 
wie  in  einem  Strudel  und  dreht  sich  und  reisst  mich  fort,  im 
letzten  halben  Jahre  in  Berlin  habe  ich  nicht  so  viel  Contraste 
und  so  viel  Verschiedenes  gesehen,  als  in  den  drei  Tagen.  Aber 
geht  nur  einmal  von  meiner  Wohnung  rechts  ab  Regent  Street 
hinunter,    seht  die  glänzende,  breite,  mit  Säulenhallen  besetzte 


Erster  Eindruck  von  London.  203 

Strasse  (leider  liegt  sie  heut  schon  wieder  im  dicken  Nebel) 
und  seht  die  Läden  mit  mannshohen  Inschriften  und  die  stage 
coaches^  auf  denen  die  Menschen  sich  aufthürmen,  und  wie  hier 
eine  Reihe  Wagen  von  den  Fussgängern  hinter  sich  gelassen 
wird,  weil  es  sich  dort  vor  eleganten  Equipagen  gestopft  hat, 
und  wie  sich  hier  ein  Pferd  hochbäumt,  weil  der  Reiter  Be- 
kannte in  jenem  Hause  hat,  und  wie  die  Menschen  gebraucht 
werden,  um  Ankündigungszettel  herumzutragen,  auf  denen  man 
uns  die  graciösen  Kunstleistungen  gebildeter  Katzen  verheisst 
und  die  Bettler  und  die  Mohren  und  die  dicken  John  BuUs 
mit  ihren  dünnen,  schönen  zwei  Töchtern  an  den  Armen.  Ach 
diese  Töchter!  üebrigens  seid  ruhig,  es  ist  keine  Gefahr  in 
dieser  Hinsicht,  weder  in  dem  damenreichen  Hydepark,  wo  ich 
gestern  fashionabler  Weise  mit  Mad.  Moscheies  umherfuhr, 
noch  in  den  Concerten,  noch  in  der  Oper  (denn  da  war  ich 
schon  überall),  nur  an  den  Ecken  und  Querstrassen  ist  Gefahr 
und  ich  sage  mir  da  oft  mit  wohlbekannter  Stimme  leise  vor: 
nehmen  Sie  sich  in  Acht,  dass  Sie  nicht  unter  die  Wagen 
kommen.  Das  Gewirre!  Der  Strudel!  Ich  will  nur  historisch 
werden  und  ruhig  erzählen,  sonst  erfahrt  Ihr  gar  nichts,  aber 
könntet  Ihr  mich  nur  sehen,  neben  dem  himmlischen  Flügel, 
den  mir  Clementi's  eben  für  die  Dauer  meines  Hierseins  ge- 
schickt haben,  am  lustigen  Kaminfeuer  in  meinen  vier  Pfählen, 
mit  Schuhen  und  grau  durchbrochenen  Strümpfen  und  oUven- 
farbenen  Handschuhen  (denn  ich  muss  nachher  Besuche  machen) 
imd  nebenan  mein  immenses  Himmelbett,  in  dem  ich  Nachts 
spazieren  liegen  kann,  mit  den  bunten  Gardinen  und  alter- 
thümlichen  Möbeln,  meinen  Frühstücksthee  mit  trockenem  toast 
noch  vor  mir,  die  servant  girl  mit  PapiUoten,  die  mir  eben 
meine  neugesäumte  schwarze  Binde  bringt  und  nach  Befehlen 
fragt,  worauf  ich  englisch  höflich  mit  dem  Kopf  nach  hinten 
zu  nicken  versuche  und  die  vornehme,  in  Nebel  gehüllte  Strasse, 
und  könntet  Ihr  nur  die  erbärmliche  Stimme  hören,  mit  der 
dort  unten  eben  ein  Bettler  sein  Lied  anstimmt  (er  wird  aber 
von  den  Verkäufern  fast  überschrien),  und  könntet  Ihr  ahnen, 
dass  man  von  hier  nach  der  city  drei  viertel  Stunden  fährt 
und  nun  auf  dem  ganzen  Weg  und  bei  allen  Durchsichten  nach 


204  Felix  in  England  1829. 

den  Querstrassen  denselben  und  noch  weit  grösseren  Skandal 
erlebt  und  dass  man  dann  etwa  ein  Viertel  des  bewohnten 
London  erst  durchschnitten  hat,  so  mögt  Ihr  Euch  erklären, 
dass  ich  halb  verrückt  bin.     Aber  historisch! 

Nachdem  ich  den  letzten  maladen  Brief  an  Euch  abge- 
schickt hatte,  führte  mich  Klingemann  vor  Allem  nach  einem 
englischen  Kaffeehaus  (denn  hier  ist  Alles  englisch),  natürlich 
las  ich  gleich  die  Times,  und  da  ich  als  guter  Berliner  zuerst 
nach  dem  Theater  sah,  erfuhr  ich,  denselben  Abend  sei  Othello, 
und  die  f,rst  appearance  der  Mde.  Malibran;  trotz  Müdigkeit 
und  Seekrankheit  entschloss  ich  mich  also  hinzugehen ;  Klinge- 
mann lieh  mir  die  nöthigen  grauen  Strümpfe,  da  ich  die 
meinigen  in  der  Eile  nicht  finden  konnte  und  doch  in  der  Ita- 
liänischen  Oper  in  vollem  Staat  mit  schwarzer  Binde  erscheinen 
musste,  wie  alle  noble  Welt ;  dann  gings  nach  meiner  Wohnung, 
von  da  nach  der  Italiänischen  Oper  kings  theatre,  wo  ich  in 
den  pits  Platz  fand  (kostet  eine  halbe  Guinee).  Grosses  Haus, 
ganz  mit  purpurnem  Zeuge  besetzt,  sechs  Reihen  Logen 
übereinander,  mit  pui'purnen  Vorhängen,  aus  denen  die  Damen- 
gesichter herausschauen,  mit  weissen  grossen  Federn,  Ketten, 
Juwelen  aller  Art  überdeckt,  ein  Geruch  von  Pomade  und 
Parfüms  strömt  einem  beim  Eintreten  gleich  entgegen  und 
machte  mir  Kopfschmerzen,  in  den  pits  alle  Herren  mit  neu- 
frisirten  Backenbärten,  überall  gedrängt  voll,  das  Orchester 
recht  gut,  dirigirt  von  Herrn  Spagnoletti  (im  December  will 
ich  ihn  nachmachen,  es  ist  zum  Todtlachen),  Donzelli  (Othello) 
voll  Bravour,  sinnreichen  Verzierungen,  schreit  und  stösst 
schrecklich  in  die  Stimme,  singt  fast  immer  ein  wenig  zu 
hoch,  aber  mit  unendlichem  haut  goüt  (dahin  rechne  ich  z.  B., 
dass  er  in  der  letzten  Wuthscene,  wenn  die  Malibran  fast  un- 
angenehm stark  schreit  und  raset,  alle  Schlussfälle  der  Reci- 
tative,  die  er  sonst  heraustrompetet,  nur  ganz  matt  und  leise 
und  kaum  hörbar  hinwirft  und  dergl.).  Die  Malibran,  eine 
junge,  schöne,  herrlich  gewachsene  Frau  mit  toupirten  Scheiteln, 
voll  Feuer,  Kraft,  Coquetterie  dabei,  die  Verzierungen  theils 
sehr  gewandt  und  neu  erfunden,  theils  der  Pasta  nachgeahmt 
(so  "v^Tirde  mir  ganz  wunderlich,    als  sie  die  Harfe  nahm  und 


Italiänische  Oper.  205 

ich  merkte,  wie  sie  der  Pasta  alles  in  der  Scene  genau  nach- 
sang und  endlich  auch  die  sehr  umherschweifende  Stelle  am 
Ende,  die  Dir,  lieber  Vater,  gewiss  noch  im  Gedächtniss  sein 
muss),  dabei  spielt  sie  schön,  macht  gute  Stellungen,  nur  über- 
treibt sie  alles  das  leider  sehr  oft  und  grenzt  oft  an  das 
Lächerliche  und  Unangenehme.  Doch  will  ich  sie  immer  hören, 
nur  morgen  nicht,  weil  sie  wieder  Othello  giebt,  und  den  werde 
ich  nur  hören,  wenn  die  Sonntag  etwa  drin  auftritt,  die  man 
in  diesen  Tagen  erwartet.  Levasseur  ist  übrigens  ein  ziem- 
licher Bierbass  und  Curioni  ein  Halbbiertenor,  doch  wird  Alles 
wüthend  applaudirt,  mit  Händen  und  Füssen.  Nach  dem  zweiten 
Akt  kam  ein  langes  Divertissement  mit  Sprüngen  und  Abge- 
schmacktheiten, ganz  wie  bei  uns,  das  dauerte  bis  halb  zwölf 
Uhr,  ich  war  halb  todt  vor  Müdigkeit,  hielt  aber  doch  aus  bis 
ein  Viertel  auf  eins,  wo  die  Malibran  eben  abgestochen  wurde 
und  dabei  widrig  ächzte  und  schrie,  da  hatte  ich  genug  und 
ging  nach  Hause.  Aber  das  Theater  war  noch  lange  nicht 
aus,  denn  es  kam  nachher  noch  das  berühmte  Ballet  la  somnam- 
lule:  ich  hatte  mich  aber  inzwischen  immer  an  der  Bank  fest- 
gehalten, weil  mir  noch  war,  als  schaukelte  das  ganze  Haus 
hin  und  her,  und  dies  Gefühl  hat  mich  bis  gestern  nicht  ver- 
lassen und  mich  heut  Nacht  zuerst  nicht  im  Schlafe  gestört. 
Tags  drauf,  als  ich  noch  fest  schlafe,  fasst  mich  eine  weiche 
Hand  leise  und  sehr  bedächtig  an,  und  das  konnte  Niemand 
sein  als  Moscheies,  der  wohl  eine  Stunde  vor  meinem  Bette 
sass  und  mir  alle  möglichen  Nachweisungen  gleich  gab  .... 
Wie  sich  Moscheies  und  seine  Frau  gegen  mich  benehmen, 
dafür  kann  ich  keinen  Ausdruck  finden;  was  mir  nur  irgend 
angenehm,  nützlich,  ehrenvoll  sein  kann,  wissen  sie  mir  zu 
verschaffen ;  er  fuhr  gestern  Vormittag  trotz  seiner  überhäuften 
Geschäfte  mit  mir  herum,  zu  Latour,  Gramer,  Clementi's,  Neu- 
komm, und  da  ich  gestern  Abend  bei  ihm  durchaus  meine  Cello- 
Variationen  spielen  musste  und  mit  der  Abschrift  der  Stimmen 
nicht  ganz  fertig  geworden  war,  so  schiieb  er  mir  die  fehlende 
Hälfte  dazu,  während  ich  zum  Essen  aus  war;  sie  führte  mich 
gestern  in  ihrem  eleganten  Cabriolet  nach  Hyde  Park,  heut 
will  sie  mir   ebenso  Regents  Park    zeigen;    denkt  Euch  mich 


206  Felix  in  England  1829. 

in  einem  Cabriolet  mit  einer  Dame  spazieren  fahrend!  mich! 
(in  meinem  neuen  Dress  verstellt  sich).  Dann  brachte  sie 
mich  zu  Bülow,  und  als  ich  die  lange  Visite  beendigt  hatte 
und  herunterkam,  hatte  sie  im  Wagen  auf  mich  gewartet,  weil 
ich  den  Weg  nicht  allein  finden  könne;  kurz,  Beide  sind  die 
Freundlichkeit  selbst."  — 

1.  Mai  1829. 

„Es  geht  mir  übrigens  sehr  gut,  die  Lebensweise  bekommt 
mir  vortrefflich,  die  Stadt  und  die  Strassen  finde  ich  ganz  \^Tin- 
derschön,    auch    bekam    ich    wieder    einigen    Respekt,    als  ich 
gestern  im  offnen   Cabriolet  nach  der  City  auf  einem  andern 
Wege  fuhr  und  überall  dasselbe  Leben  fand,  überall  die  Häuser 
von  oben  bis  unten  mit  grünen,  gelben,  rothen  Zetteln  beklebt, 
oder  mit  mannshohen  Buchstaben  bemalt,  überall  das  Geschrei 
und  der  Rauch,  überall  das  Ende  der  Strassen  in  Nebel  gehüllt 
und    alle  Augenblicke    eine  Kirche,   oder    ein  Markt,  oder  ein 
grüner  square,    oder  ein  Theater,  oder  eine  Durchsicht  auf  die 
Themse,  auf  der  die  Dampfschiffe  jetzt  durch  die  Stadt  fahren 
können,  unter  allen  Brücken  fort,  weil  man  die  Erfindung  ge- 
macht  hat,    die    grossen  Röhren  -  Schornsteine  wie  einen  Mast 
niederzulassen.    Gucken  nun  noch  die  Mastbäume  aus  den  West- 
indischen Docks  hinüber,   und  sieht  man  einen  Hafen,  etwa  so 
gross    wie    der    Hamburger,    hier    als    Teich    behandelt,    mit 
Schleusen  versehen,  und  die  Schiffe  nicht  einzeln,  sondern  nur 
haufenweise    geordnet,   wie    die    Regimenter  aufmarschirt,   so 
muss    man  sich  freuen   über  die  grosse  Welt.  —  Neulich  war 
ich  im  Kabinet  des  Dr.  Spurzheim,  das  ein  junger  Arzt  zeigte. 
Eme  Partie  Mörder  gegen  eine  Partie  Musiker  gehalten,  inter- 
essirte    mich    sehr,    und    meine    Physiognomik    erhielt   starke 
Bestätigung ;  auch  ist  wirklich  der  Unterschied  zwischen  Gluck's 
Stirn  und  der   eines  Vatermörders   höchst  auffallend  und  wohl 
nicht  zu  bezweifeln.    Wenn  aber  die  Leute   nun  so  in's  Detail 
gehen,  mir  zeigen  zu  w^ollen,    wo  Gluck's  Musik  sitzt  und  wo 
seine   Erfindungskraft,    oder    wo  des  Sokrates    Philosophie  am 
Schädel  sich  zeigt,    so  ist  das  zwar  sehr  precär  und  (wie  mir 
scheint)  unwissenschaftlich,  führt  aber  doch  zu  sehr  interessanten 


Ball  bei  dem  Herzog  von  Devonshire.  207 

Resultaten,  nämlich  zu  folgenden:  eine  junge  hübsclie  Englän- 
derin, mit  der  ich  da  war,  bekam  Lust  zu  wissen,  ob  sie  zum 
Stehlen  oder  sonst  zu  Missethaten  Neigung  habe,  und  es  kam 
dahin,  dass  die  ganze  Gesellschaft  sich  phrenologisch  untersu- 
chen liess ;  wie  nun  der  Eine  gutmüthig  befunden  wurde  und  der 
Andere  kinderliebend,  jene  Dame  muthig,  diese  habsüchtig,  und 
wie  besagte  Engländerin  sich  die  langen  blonden  Haare  auflö- 
sen musste,  weil  der  Doktor  sonst  kein  Organ  fühlen  konnte, 
und  wie  sie  dabei  sehr  hübsch  aussah  und  sich's  dann  vor  dem 
Spiegel  wieder  ordnete,  so  liess  ich  die  Phrenologie  sehr  hoch 
leben  und  lobte  Alles  ungemein.  Dass  ich  Musiksinn  haben 
musste  und  Einbildungskraft,  konnte  nicht  fehlen;  der  Doktor 
fand  später,  ich  sei  ziemlich  habsüchtig,  liebe  die  Ordnung  und 
kleine  Kinder  und  machte  gern  die  Cour;  die  Musik  sei  aber 
vorherrschend.  Uebrigens  muss  ich  am  Dienstag  von  meinem 
ganzen  Kopf,  mit  Schädel,  Gesicht  und  Zubehör,  die  Maske  in 
Gips  nehmen  lassen  und  dann  will  ich  Hensel's  Aehnlichkeit 
kontrolliren!" 

London,  15.  Mai. 

^ Montag   Abend   Ball   in  Devonshirehouse  beim 

Herzog  von  Devonshire;  die  Pracht  aus  den  morgenländischen 
Märchen  kommt  zur  Erscheinung;  was  Reichthum,  Luxus,  Ge- 
schmack an  Schönheiten  für  ein  Fest  erlinden  können,  ist  da 
gehäuft.  Mit  meinem  hack  kam  ich  an  die  Reihe  der  Equipagen, 
die  fast  die  ganze  Piccadilly  herunterstanden,  daher  zog  ich's 
vor,  zu  Fuss  einzuziehen ;  kam  in  den  Saal,  wo  der  Herzog  die 
Gäste  freundlich  empfing;  ich  hatte  auf  der  Treppe  hinter  mir 
Leute  hmaufgehen  hören,  mich  aber  nicht  umgesehn,  jetzt 
gewahrte  ich  zu  meinem  Schrecken,  dass  es  Wellington  und 
Peel  gewesen  waren.  Im  Haupttanz saal  war  statt  des  Kron- 
leuchters ein  dicker  breiter  Kranz  von  rothen  Rosen,  etwa 
vierzehn  Fuss  im  Durchmesser,  der  zu  schweben  schien, 
weü  die  dünnen  Fäden,  die  ilin  hielten,  sorgfältig  versteckt 
waren ;  auf  dem  Kranze  brannten  nun  kleine  Lichter  zu  Hun- 
derten, an  den  Wänden  lauter  Portraits  in  Lebensgrösse  und 
ganzer  Figur  von  van  Dyk,   rings  umher  eine  Erhöhung,  auf 


208  Felix  in  England  1829. 

der  die  alten  Damen,  mit  Brillanten,  Perlen  und  allen  Edel- 
steinen überladen,  Platz  nahmen;  in  der  Mitte  tanzten  die 
schönen  jungen  Mädchen,  unter  denen  man  die  himmlischsten 
Gestalten  sieht;  ein  Orchester  mit  einem  eigenen  Direktor 
spielt  dazu;  die  Nebenzimmer  waren  geöffiiet,  deren  Wände 
mit  Tizian's,  Correggio's,  Leonardo's  und  Niederländern  behängt 
sind;  unter  den  schönen  Bildern  nun  die  schönen  Gestalten 
sich  bewegen  zu  sehn  und  unter  all  dem  Treiben  und  in  der 
allgemeinen  Aufregung  ganz  ruhig  und  sehr  unbekannt  überall 
herumzuschleichen  und  Vieles  ungesehn  und  unbemerkt  zu  sehn 
und  zu  bemerken  —  es  war  einer  der  schönsten  Abende,  die 
ich  erlebt.  Das  Bild  eines  jungen  Mannes  von  Tizian  und  das 
einer  jungen  Frau  von  Leonardo  ergriffen  mich  sehr  und 
rührten  mich  etwas.  Nirgends  findet  Ihr  im  ganzen  Palast 
etwas  Unvollkommenes,  Ungeordnetes,  die  Bibliothek  war  ge- 
öffnet und  Prachtwerke  lagen  auf  den  Tischen  umher;  ein 
kleines  Treibhaus  wurde  neben  dem  Tanzsaal  aufgemacht  und 
verbreitete  den  Duft  und  die  Kühlung!  Alle  Früchte  aller 
Jahreszeiten  im  Uebermass  auf  den  Büffets  gehäuft;  und  nun 
die  Adligen  raspeln  zu  sehn,  und  wie  sie  so  schlecht  walzten, 
und  wie  die  Damen  auf  den  Tischen  sassen  und  die  Herren 
auf  den  Sophas  mit  den  Füssen  lagen  und  sich  dehnten  während 
einer  zarten  Conversation  mit  Damen!  Auf  einer  ebenso  grossen 
Fete  war  ich  gestern  beim  Marquis  of  Landsdowne,  der  arme 
Mann  hatte  seinen  Antikensaal  aufgemacht  und  empfing  darin 
die  Gesellschaft.  Ein  grosser  gewölbter  Saal,  an  dessen  zwei 
Enden  zwei  Rotunden  sind,  die  von  oben  her  erleuchtet  waren ; 
in  den  Eotunden  nun  purpurne  Nischen,  in  deren  jeder  eine 
grosse  graue  antike  Statue  steht  und  droht.  Zu  deren  Füssen 
sassen  hier  die  alten  Damen  im  Halbkreise  und  in  der  Mitte 
des  Saals  drängten  sich  die  Leute  hin  und  her.  Ln  Neben- 
zimmer war  eine  neugekaufte  Landschaft  von  Claude  Lorrain 
ausgestellt,  der  Aufgang  der  Sonne  über  einem  Meereshafen. 
Die  Treppe  ist  so  gelegt,  dass  man,  wie  in  den  Hamburger 
Häusern,  bis  unter  das  Dach  sehn  kann,  und  sie  war  ganz 
dick  mit  Blumen  überkleidet,  unter  denen  liegende  oder  schla- 
fende Statuen  vorsahen.    Tausend  Einzelheiten  will  ich  Euch 


Erstes  öffentliches  Auftreten  in  England.  209 

einst  mündlich  mittheilen,  ich  werde  sie  nicht  aus  dem  Ge- 
dächtniss  verlieren,  denn  mir  war  Alles  so  neu  und  bewunde- 
rungswürdig, dass  es  einen  tiefen  Eindruck  auf  mich  gemacht 
hat,  der  sich  nicht  leicht  verwischen  kann.  Dass  solche  Herr- 
lichkeit in  unserer  Zeit  wirklich  bestehn  könnte,  hatte  ich 
nicht  geglaubt.  Es  sind  das  keine  Gesellschaften,  es  sind 
Feste  und  Feierlichkeiten." 

London,  26.  Mai  1829. 

^ Als  ich  zur  Probe  meiner  Symphonie  in  die  Argyll 

rooms  trat  und  das  ganze  Orchester  versammelt  fand,  und  gegen 
zweihundert  Zuhörer,  meistens  Damen,  aber  lauter  Fremde, 
und  man  erst  die  Symphonie  von  Mozart  aus  es  probirte,  um 
dann  die  meinige  vorzunehmen,  so  wurde  mir  zwar  nicht  ängst- 
lich, aber  sehr  gespannt  und  aufgeregt  zu  Muthe;  ich  ging 
während  des  Mozart'schen  Stücks  in  Regent  Street  etwas  spa- 
zieren und  sah  mir  die  Leute  an;  als  ich  wiederkam,  war 
Alles  bereit  und  man  wartete  auf  mich.  Ich  stieg  dann  aufs 
Orchester,  zog  meinen  weissen  Stock  aus  der  Tasche,  den  ich 
mir  ausdrücklich  dazu  habe  machen  lassen  (der  Riemer  dachte, 
ich  sei  ein  Alderman  und  wollte  durchaus  eine  Krone  darauf 
befestigen),  und  der  Vorgeiger  Fr.  Gramer  zeigte  mir,  me  das 
Orchester  stände,  die  Hintersten  mussten  aufstehn,  damit  ich 
sie  sehen  könne,  und  stellte  mich  ihnen  Allen  vor,  und  wir 
begrüssten  uns,  einige  lachten  wohl  ein  bischen,  dass  ein  kleiner 
Kerl  mit  dem  Stocke  jetzt  die  Stelle  ihres  sonst  immer  ge- 
puderten und  perrückten  Conductors  einnähme.  Dann  ging's 
los.  Es  ging  für  das  erste  Mal  recht  gut  und  kräftig  und 
gefiel  den  Leuten  schon  sehr  in  der  Probe.  Nach  jedem  Stück 
applaudirte  das  ganze  zuhörende  Publikum  und  das  ganze 
Orchester  (das  zum  Zeichen  des  Beifalls  mit  den  Bogen  auf 
die  Listrumente  schlägt  und  mit  den  Füssen  trampelt),  nach 
dem  letzten  Stück  machten  sie  einen  grossen  Lärm,  und  da 
ich  das  Ende  musste  repetiren  lassen,  weil  es  schlecht  gegangen 
war,  machten  sie  denselben  Lärm  wieder ;  die  Direktoren  kamen 
zu  mir  an's  Orchester,  und  ich  musste  herunter,  eine  Menge 
Diener  machen,  J.  Gramer  war  ganz  erfreut  und  überschüttete 

Die  Familie  Mendelssohn.  I.  14 


210  Felix  in  England  1829. 

mich  mit  Lob  nnd  Komplimenten,  ich  ging  anf  dem  Orchester 
umher  und  musste  an  zweihundert  verschiedene  Hände  schüt- 
teln —  es  war  einer  der  glücklichsten  Momente  meiner  Er- 
innerung, denn  alle  die  Fremden  waren  mir  m  einer  halben  Stunde 
zu  Bekannten  und  zu  Befreundeten  umgewandelt.  Der  Erfolg 
nun  gestern  Abend  im  Concert  war  grösser,  als  ich  ihn  mir 
je  hätte  träumen  lassen.  Man  fing  mit  der  Symphonie  an; 
der  alte  J.  Gramer  führte  mich  an's  Ciavier,  wie  eine  junge 
Dame,  und  ich  wurde  mit  laut  und  lange  anhaltendem  Beifall 
empfangen.  Das  Adagio  verlangten  sie  da  capo,  ich  zog  vor, 
mich  zu  bedanken  und  weiter  zu  gehn,  aus  Furcht  vor  Langer- 
weile ;  das  Scherzo  wurde  aber  so  stark  noch  einmal  verlangt, 
dass  ich  es  wiederholen  musste,  und  nach  dem  letzten  applau- 
dirten  sie  fortwährend,  so  lange  ich  mich  beim  Orchester  be- 
dankte und  hands  shakte,  bis  ich  den  Saal  verlassen  hatte.*  — 

Fanny  an  Klingemann. 

Berlin,  4.  Juni  1829. 

j, Sie  werden  es  nicht  missverstehen,  wenn  ich  Urnen 

sage,  dass  Felixens  Erfolg  mich  nicht  überrascht,  nicht  ver- 
blendet oder  erschüttert  hat,  dass  ich  überhaupt,  was  ihn  be- 
trifft, einen  an  Bornii'theit  grenzenden  Prädestinationsglauben 
habe;  das  Alles  ist  schön  und  gut  und  so  ein  Brief  wie  sein 
gestriger  und  Ihr  heutiger  ist  doch  eine  unendliche  Freude 
und  eine  ebensolche  ist's,  zu  sehen,  dass  Sie  ihn  genau  so 
hätscheln  und  verziehen,  wie  ich's  wünsche  und  Sie  in  einem 
(wenn  mir  recht  ist,  ziemlich  jämmerlichen)  Briefe  darum  bat. 
Nun  abermals  eine  kleine  Bitte:  Felix  erhält  mit  nächster  Ge- 
sandtschaftsgelegenheit ein  Päckchen,  kleine  Sentimentalitäten 
und  Entfernungsanstalten  enthaltend.  Sein  Sie  so  freundlich 
und  bringen  es  ihm  selbst  und  sehen  zu,  dass  es  ihn  in  guter 
Laune  antreffe,  und  sollte  ihm  gerade  ein  Notenschreiber  oder 
eine  Fliege  Verdruss  gemacht  haben,  so  behalten  Sie's  lieber 
zurück  bis  auf  einen  besseren  Tag.  Ach!  bester  Klingemann, 
je  mehr  Sie  seine  Anwesenheit  empfinden  und  das  Leben,  das 
er  überall  hinträgt,  je  mehr  müssen  Sie  begreifen,   wie  wir 


Concert  in  Argyll  Eooms.  211 

die  Lücke  empfinden  und  je  mehr  bitten  wir,  schreiben  Sie  uns 
recht  oft,  denn  Ihre  Briefe  sind  wahre  Speise  für  die  Hungrigen, 
und  wie  es  uns  krank  macht,  etwas  Liebes  von  Anderen  ver- 
spottet zu  sehen,  so  ist  es  stärkend  und  erfreulich,  über  Ge- 
liebte Liebes  zu  hören,  die  eigene  üeberzeugung  sei  so  fest 
wie  sie  wolle,  die  fremde  thut  doch  wohl."  — 


Felix  an  die  Familie. 

7.  Juni  1829. 

„ Sonnabend  sollte  ich  im  Concert  auftreten  und  hatte 

auf  dem  wildfremden  neuen  Clementi'schen  Flügel,  den  mir  die 
Fabrik  geschickt  hatte,  noch  nie  gespielt.  Ich  ging  in  den 
leeren  Saal,  wo  die  Leute  meine  Symphonie  aufgeführt  haben 
und  wo  nun  jeder  Fusstritt  stark  hallte  und  wo  ich  etwas  ge- 
rührt wurde ;  das  Piano  war  geschlossen ;  man  musste  nach  dem 
Schlüssel  schicken,  er  kam  aber  nicht;  unterdessen  setzte  ich 
mich  an  das  alte  graue  Instrument,  worauf  sich  die  Finger 
mehrerer  Generationen  mögen  getummelt  haben,  und  wollte 
mein  Stück  sehr  exercieren,  verfiel  aber  unmerklich  in  sonder- 
liche Phantasieen  und  blieb  darin  so  lange,  bis  Leute  kamen, 
die  mich  durch  üire  Gegenwart  erinnerten,  dass  ich  hätte  stu- 
diren  sollen;  aber  der  grosse  Saal  hatte  mich  zerstreut  ge- 
macht, kurz  die  Concertstunde  (zwei  Uhr)  kam  und  ich  hatte 
nie  auf  dem  Instrument  gespielt.  Ich  blieb  aber  ganz  wohl- 
gemuth  und  zog  meinen  grossen  Dress  an  (für  Beckchen'a 
Modejournal:  weisse,  sehr  lange  Beinkleider,  braune  seidene 
Weste,  schwarze  Binde  und  blauer  Frack).  Als  ich  aber  aufs 
Orchester  kam  und  es  ganz  mit  Damen  gefüllt  fand,  die  im 
Saal  keinen  Platz  mehr  hatten,  und  nun  den  Saal  so  voll  sah, 
wie  noch  nie  seit  ich  hier  bin,  lauter  bunte  Damenhüte  und 
sclireckliche  Hitze  und  das  unbekannte  Listrument,  da  überfiel 
mich  ein  panischer  Schrecken  und  ich  hatte  bis  zum  Augen- 
blick, wo  ich  vortrat,  die  längsten  Manschetten  und  Mohren, 
ja  ich  glaube,  dass  ich  Fieber  besass;  da  mich  selbige  bunten 
Hüte  nun  aber  gleich  beim  Kommen  empfingen  und  klatschten,  da 
eie  selir  aufmerksam  still  waren  (was  beim  plaudernden  Concert- 

14* 


212  Felix  in  England  1829. 

pnblikum  hier  eine  Seltenheit  ist)  und  da  ich  das  Instrument 
sehr  trefflich  und  leicht  zu  spielen  fand,  so  verlor  ich  obige 
Mohren,  bekam  Pomade  und  amüsii'te  mich  nun  prächtig,  wie 
die  Hüte  bei  jeder  kleinen  Verzierung  sehr  sich  bewegten,  wobei 
mir  und  vielen  Eecensenten  das  Gleichniss  vom  Wind  und 
Tulpenbeet  in  den  Sinn  kam,  und  wie  einige  Damen  auf  dem 
Orchester  sehr  hübsch  waren,  und  wie  Sir  George,  den  ich  ge- 
rührt anblickte,  eine  Prise  nahm.  Es  ging  ziemlich  gut  und 
sie  machten  grossen  Lärm,  als  es  aus  war;  auch  haben 
mich  die  Times,  die  ich  beim  Thee  des  Morgens  studire,  sehr 
gepriesen  (Paul  kann  mit  Eietz  zu  Stehely  gehen,  wofür  ich 
ihm  bei  meiner  Eückkunft  Sixpence  verspreche,  und  daselbst 
solche  Times  vom  Montag,  1.  Juni,  nachlesen).  Mich  freute 
es  höllisch,  dass  mir  das  Publikum  hier  gut  ist  und  mich 
leiden  mag,  und  dass  ich  meiner  Musik  nun  viel  mehr  Be- 
kanntschaften danke,  als  meinen  Empfehlungsbriefen,  die  doch 
wahrhaftig  kräftig  und  zahlreich  genug  waren  —  kurz,  ich  war 
sehr  froh  am  Sonnabend  und  auf  dem  Diner,  nach  dem  ich  nun 
ging,  habe  ich  mich  betrunken,  aber  nur  in  zwei  sehr  bedeutend 
braunen  Augen,  wie  sie  die  Welt  noch  nicht  sah  oder  nur 
selten.  Sie  hier  zu  beschreiben  oder  zu  loben  ist  unnöthig; 
denn  wenn  sie  Euch  gefallen,  bin  ich  par  distance  eifersüchtig 
und  wenn  sie  Euch  missfallen,  ärgerlich.  Letzteres  ist  aber 
unmöglich.  Die  Dame  neben  mir  hatte  besagte  braune  Augen 
und  diese  sind  wunderschön  und  heissen  Luise  und  sprachen 
englisch  und  zogen  sich  beim  Käse  zurück,  worauf  ich  un- 
mittelbar Ciaret  trank,  denn  ich  bekam  nun  nichts  mehr  zu 
sehen,  sondern  musste  fort  aufs  Land,  fand  keinen  Wagen  und 
musste  in  der  Kühle  zu  Fusse  gehn;  mir  fiel  manches  Musi- 
kalische ein,  das  ich  mir  laut  vorsang,  denn  ich  ging  einen 
Wiesenweg,  wo  mir  kein  Mensch  begegnete ;  der  ganze  Himmel 
war  grau,  mit  einem  Purpurstreif  am  Horizont,  und  die  dicke 
Eauchwolke  lag  hinter  mir.  Sobald  ich  nur  zu  Euhe  komme, 
sei  es  hier  oder  in  Schottland,  da  will  ich  mancherlei  schreiben 
und  der  schottische  Dudelsack  existirt  nicht  umsonst.  Die  Nacht 
blieb  ich  auf  dem  Lande  und  fuhr  nun  mit  G.  am  frischen 
feuchten  Morgen   nach  Eichmond   in  einem  kleinen  Cabriolet. 


Festlied  für  Ceylon.    Bildergallerie.  213 

Der  Weg  ging  über  die  hängende  eiserne  Brücke,  durch  Dörfer, 
an  deren  Häusern  man  statt  der  Weiiistöcke  hochstämmige 
Rosen  hinaufzieht,  so  dass  sich  die  frischen  Blumen  auf  den 
rauchigen  Mauern  seltsam  ausnehmen.  Und  in  Richmond, 
auf  einem  Hügel,  der  die  Aussicht  auf  die  unermessliche  grüne 
Ebene  hat,  die  mit  Bäumen  besäet,  in  der  Nähe  blendend, 
warm,  grün  und  gleich  darauf  in  einer  Ferne  von  tausend 
Schritt  blau,  duftig  und  verschwimmend  ist,  und  wo  Windsor 
auf  der  einen  Seite,  London  auf  der  andern  in  Nebel  steht,  da 
lagerten  wir  uns  uud  brachten  unsern  Sonntag  sehr  still  und 
sehr  feierlich  zu. 

Ich  habe  einen  Auftrag  erhalten,  über  den  Dir  Euch  todt- 
lachen  werdet  und  der  mich  freut,  weil  er  ein  unicum  ist  und 
nur  in  London  möglich.  Ich  componire  ein  Festlied  für  eine  Feier, 

-die  in Ceylon  stattfinden  wird.  Die  Eingeborenen  sind 

vor  einiger  Zeit  emancipirt  worden  und  begehen  den  Jahrestag 
dieses  Ereignisses,  dazu  soUen  sie  nun  ein  Lied  singen  und  Sir 
Alexander  Johnston,  der  Gouverneur  ist,  hat  mir  den  Auftrag 
gegeben.  Es  ist  wirklich  sehr  toll  und  komisch,  ich  habe  zwei 
Tage  lang  innerlich  darüber  gelacht."  — 

London,  19.  Juni  2ö. 
^ Bilder  giebt  es  hier,  wie  die  Welt  sie  nicht  gese- 
hen hat!  Die  Privatleute  haben  eben  einige  ihrer  Schätze  zu- 
sammengestellt und  da  siad  in  drei  Sälen  die  göttlichen  Gestalten 
vereinigt;  ich  kann  Euch  nicht  beschreiben,  wie  es  da  aussieht. 
Rubens  hat  den  Zinsgroschen  gemalt  und  Tizian  seine  junge 
Tochter ;  der  alte  Kerl  mag  sich  viel  dabei  gedacht  haben,  wie 
das  blonde  Kind  so  artig  und  gerade  dasteht  und  so  hübsch 
nachlässig  geputzt  ist  und  einen  Apfel  in  der  Hand  hält  und 
eben  an  gar  nichts  denkt.  Auch  giebt's  zwei  Prachtstücke  von 
Vandyck  und  eiue  Menge  Rembrandt's,  Mui'ülo's,  Ruisdal's  und 
Claude's,  dass  es  eüie  Lust  ist.  Tizian  hat  den  Ignaz  Loyola 
aufgefasst,  dass  einem  katholisch  zu  Muth  wird,  wenn  man's 
ansieht,  er  sieht  sehr  finster,  schwarz  und  ernsthaft  aus  dem 
Bude  heraus  und  die  Juden  von  Rubens  süid  wie  losgelassene 
Bären  und  Wölfe.  —  Lebt    wohl.    Mittwoch   spiele   ich   zum 


214  Felix  in  England  1829. 

Schrecken  aller  Musiker  das  es-dur-Concert  von  Beethoven,  ich 
bin  des  trockenen  Tons  nun  satt,  muss  wieder  mal  den  Beetho- 
ven spielen. 

London,  25.  Juni. 

,Ich  sehne  mich  nach  Euch!  Und  namentlich  heute.  Es  ist 
Sommer  und  die  Saison  geht  zu  Ende;  der  erste  Abend,  den 
ich  nun  allein  auf  meiner  Stube  sitzen  kann,  drum  will  ich  ihn 
auch  anwenden,  mit  Euch  einen  Congress  zu  halten.  Draussen 
gehen  die  lieute  spazieren,  pfeifen  aus  der  Stummen  von  Portici 
und  dem  Freischütz  und  die  Wagen  in  Regentstreet  rasseln 
heftig.  Ihr  sitzt  in  den  Ecken  des  Sophas,  ich  klemme  mich 
in  die  Mitte  und  nun  geht's  los.  Das  Tagebuch  wird  ein  Ta- 
geblatt und  folgt  auf  der  nächsten  Seite.  Aber  vor  allen 
Dingen:  was  ist  Eure  Meinung  über  das  Programm  zur  sil- 
bernen Hochzeit  im  December?  Schickt  mir  umgehend  Eure 
Ideen  darüber;  wenn  die  Sache  aber  nicht  wenigstens  so  glän- 
zend wird,  wie  Euer  kaiserlicher  Einzug,  so  sage  ich  mich  von 
Allem  los  und  feiere  nicht  mit.  Eine  grosse  Musik  mit  neuen 
schottischen  Compositionen ,  wozu  Du,  o  älteste  Otter,  auch 
etwas  schreiben  musst,  fhear,  hear!  cheers,  hurray  —  Order y 
Order!)  schlage  ich  unmassgeblich  vor;  auch  kann  Braham  eine 
Arie  singen  und  Neate  ein  Concert  spielen  etc. ;  auch  kann 
Nichts  ohne  Comödie,  Maskerade,  Diner  und  einen  Ball  (die 
linke  Seite  hear)  geschehen;  wenn  ich  auch  stiUe  Hochzeiten 
lobe,  so  müssen  silberne  Hochzeiten  doch  laut  sein.  Braucht 
Ihr  eine  Dampfmaschine  dazu,  so  kann  ich  sie  Euch  mit  der 
Gesandtschaft  schicken,  die  Kosten  sind  imbedeutend,  da  seit 
kurzem  hier  eine  Dampfmaschine  eingerichtet  ist,  die  Dampf- 
maschinen fabricirt;  oder  wollen  wir  einen  kleinen  Ostindien- 
fahrer Vätern  verehren?  Oder  wollen  wir  den  Hof  heimlich 
chaussiren  oder  makadamisiren  lassen?  Fanny:  „Hätte  nur 
Einer  statt  der  zwanzig  dummen  Vorschläge  einen  vernünftigen 
etc."  Macht  letzteren,  Ihr  Volk!  Und  schreibt  mii'  eine  ordent- 
liche Uli  mit  a,  b,  c  und  1,  2,  3,  kurz  einen  systematischen 
Feierplan.  Ich  brüte  Grosses,  kaijn's  Euch  nur  heut  aber  nicht 
mittheilen,  denn  ich  bin  so  müde,  dass  Ihr  mich  über  den  Hof 


Hamletaufführung.  215 

führen  und  dann   vom   offnen  Fenster  wegweisen  müsstet,  das 
kommt  aber  vom  Tanzen.  —  — 

Abends    ging  ich  mit  Rosen,  Mühlenfels  und  Klin- 
gemann nach  Coventgarden :  Hamlet.   Ich  glaube,  Kinder,  dass 
Jener  Recht  hatte,   der   behauptete,  die  Engländer  verständen 
den  Shakespeare  zuweilen  nicht.   Wenigstens  diese  Vorstellung 
war  toll  und  doch  spielte  Kemble  den  Hamlet   und  sogar  gut 
in  seiner  Art,  leider  ist  diese  Art  aber  verrückt,  hebt  das  ganze 
Stück  auf.    Dass  er  z.  B.  mit  einem  gelben  und  einem  schwarzen 
Bein  erscheint,  um  Tollheit  anzudeuten,  dass  er  vor  dem  Geist 
auf  die  Knie   fällt,    um   eine    Stellung  zu  fischen,  dass  er  das 
Ende    jeder    kleinen    Phrase    in    dem    bekannten,    Beifall  er- 
pressenden,   hohen   Tone   herausstösst,  dass  er  sich  überhaupt 
beträgt,  wie  ein  in  Oxford  studirender  John  Bnll  und  nicht  wie 
ein  dänischer   Kronprinz,   das   möchte  noch  hingehen,  dass  er 
aber  die  ganze  Intention  vom   armen   Shakespeare,    mit   dem 
beabsichtigten  Königsmorde,    garnicht   anerkennt  und  deshalb 
z.  B.  die  Scene,  wo  der  König  betet  und  Hamlet  währenddessen 
ungesehen   erscheint   und  wieder,    ohne    entschlossen   zu  sein, 
weggeht  (für  mich  eine  der  schönsten  Stellen  des  Stücks),  ohne 
Weiteres   herausstreicht,    dagegen    sich   fortwährend   wie   ein 
hravado  beträgt,  namentlich   den  König  so  behandelt,  dass  der 
ihn   auf   der   Stelle    müsste  todtschiessen    lassen,  dass  er  ihm 
z.  B.  während  des  Schauspiels  auf  dem  Theater  fortwährend  mit 
der  Faust  droht  imd  ihm  die  Worte,  die  er  hinwerfen  sollte,  in's 
Ohr    schreit,    das    ist  doch  unverzeihlich.     Natürlich  springen 
Laertes  und  Hamlet  nicht  in  das  Grab  der  Ophelia  und  ringen 
da,  denn  sie  sind   weit  entfernt   zu  ahnen,    was  das  bedeuten 
soll;  und  am  Ende,  als   Hamlet  hinfällt  und  eben  gesagt  hat, 
„der  Rest  ist  Schweigen"    und  ich  einen   Trompetenstoss  und 
Fortinbras  erwartete,  so  lässt  Horatio  den  Prinzen  liegen,  kommt 
eilig    an  die    Lampen    und    spricht:  Ladies  and  Genthmen^  to- 
morrow  evening  the  deviVs  elixir.  —    So  endigte    der  Hamlet  in 
England.    Von  dem,  was    sie  auslassen  oder  abkürzen,  könnte 
man  eine  Tragödie  für  sich  machen;   die  Lehren  des  Polonius, 
der  Abschied  des  Laertes  von  der  Opheüa,  ein  halber  Monolog 
des  Hamlet  u.  s.  w.  kommen    garnicht  vor.     Einzelnes  gaben 


216  Felix  in  England  1829. 

sie  aber  vortrefflich,  z.  B.  die  Todtengräberscene.  Der  alte 
Clown  machte  göttlich  grobe  Spässe  und  sang  sein  Lied  im 
Grabe  sehr  unmusikalisch  und  sehr  schön,  auch  sang  Ophelia 
im  Wahnsinn  einmal  ganz  toll;  sie  mui-melte  während  des 
Sprechens  der  Anderen  leise  eine  Melodie;  endlich  machten  sie 
das  Fechten  und  den  Rappierwechsel  geschickt.  Aber  was 
will  das  sagen?  Es  ist  wenig  Poesie  in  England.  Wahr- 
haftig." — 

London,  10.  Juli  29. 

„ Was  mich  fast  ausschliesslich  in  dieser  Zeit  be- 
schäftigt, ist  das  Concert  für  die  Schlesier ;  es  wird  der  Wahl 
der  Stücke  nach  unstreitig  das  glänzendste  des  Jahres;  was 
irgend  in  der  Saison  Aufsehen  erregt  hat,  wirkt  mit,  die 
meisten  unentgeltlich ;  viele  Anerbietungen  von  guten  performers 
haben  müssen  abgewiesen  werden,  weil  es  ohnehin  schon  bis 
den  andern  Tag  dauern  wird.  Den  unermesslichen  Zettel  schickt 
Euch  Klingemann,  er  ist  wahrlich  interessant.  Meine  Ouvertüre 
zum  Sommernachtstraum  macht  den  Anfang,  auf  Begehren,  und 
dann  spiele  ich  das  Doppelconcert  aus  E  mit  Moscheies.  Gestern 
hatten  wir  in  der  Clementi'schen  Fabrik  die  erste  Probe, 
Mad.  Moscheies  und  Herr  Collard  hörten  zu,  und  ich  amüsirte 
mich  himmlisch  dabei,  denn  man  hat  keinen  Begriff  von  unsren 
Coquetterien ,  und  wie  Einer  den  Andern  fortwährend  nach- 
ahmte, und  wie  süss  wir  waren.  Das  letzte  Stück  spielt 
Moscheies  ungeheuer  brillant,  er  schüttelt  die  Läufe  aus  dem 
Aermel.  Als  es  aus  war,  meinten  sie  Alle,  es  sei  so  schade, 
dass  wir  keine  Cadenz  machten,  und  da  buddelte  ich  gleich 
im  letzten  Tutti  des  ersten  Stücks  eine  Stelle  heraus,  wo  das 
Orchester  eine  Fermate  bekommt,  und  Moscheies  musste  nolens 
volens  einwilligen,  eine  grosse  Cadenz  zu  komponiren.  Wir 
berechneten  nun  unter  tausend  Possen,  ob  das  letzte  kleine 
Solo  stehn  bleiben  könnte,  da  die  Leute  doch  applaudiren 
müssten.  „Wir  brauchen  ein  Stück  Tutti  zwischen  der  Cadenz 
und  dem  Schlusssolo ",  sagte  ich.  „Wie  lange  Zeit  sollen  sie 
denn  klatschen?"  fragte  Moscheies.  „Zehn  Minuten,  I  dare  sai/"^ 
sagte  ich.    Moscheies  handelte  herunter  bis  auf  fünf.    Ich  ver- 


Concertprobe  für  die  Schlesier.  217 

sprach,  ein  Tutti  zu  liefern,  und  so  haben  vdr  förmlich  Maass 
genommen,  gestickt,  gewendet  und  wattirt,  Aermel  ä  la  mameluke 
eingesetzt  und  ein  brillantes  Concert  zusammengeschneidert. 
Heut  ist  wieder  Probe,  da  giebt's  ein  Musikpicnic,  denn  Moscheies 
bringt  die  Cadenz  mit  und  ich  das  Tutti.  Morgen  um  zwei  ist 
die  grosse  Instrumentalprobe,  nachher  habe  ich  Plaisir  vor.  Ich 
bin  nämlich  in  StamfordhiU,  einem  grasigen  Dorf  voll  Bäume, 
Gärten  und  Rosen,  bei  einem  Herrn  Richmond  mit  vielen 
Töchtern  zu  Mittag  und  Abend;  Rosen  und  Mühlenfels  mit 
mir;  da  wir  drei  nun  an  demselben  Ort  zu  Frühstück  des 
Sonntags  bei  einem  andern  Bekannten  sein  sollen,  so  wurde 
gestern  beschlossen,  die  Nacht  in  dem  Wirthshaus  des  Dorfs 
zuzubringen,  dann  Morgens  früh  in's  Feld  zu  gehen  und  die 
Leute  durch  unsere  frühe  Gegenwart  in  Staunen  zu  setzen, 
das  wird  ausgeführt,  und  wir  werden  uns  als  ächte  Londoner 
höllisch  vornehm  in  solcher  Kneipe  betragen. 

Sonnabend  ist  der  Tag  der  allgemeinen  Abreise  nach 

allen  vier  Weltgegenden :  Klingemann  und  ich  nehmen  den  Weg 
nach  Norden;  Rosen  geht  nach  dem  Rhein,  und  Mühlenfels 
geht  —  nach  Berlin.  —  Ja,  ja!  Der  kriegt  Euch  eher  zu 
sehn  als  ich.  Bitte,  habt  ihn  lieb  und  seid  freundlich  zu  ihm. 
Wenn  ich  Euch  sage,  dass  er  mir  hauptsächlich  die  Lücke,  die 
durch  das  erste  Alleinsein  und  den  Mangel  an  vertraulicher 
Mittheilung  entsteht  und  die  durch  Gesellschaften  und  Zer- 
streuungen nur  noch  grösser  wird,  ausgefüllt  oder  doch  weniger 
fühlbar  gemacht  hat;  dass  ich  ihm  hauptsächlich  das  gesunde 
und  frohe  Gefühl  verdanke,  welches  mich  bis  jetzt  hier  auch 
in  dem  grössten  Lärm  und  Gewirr  selten  verlassen  hat,  so  bia 
ich  gewiss,  Ihr  werdet  Euch  freuen,  wenn  er  hineinkommt, 
und  werdet  ihm  auch  gut  sein.  Er  ist  ein  kräftiger,  tüchtiger 
und  aufrichtiger  Kerl.  Viel  lustige  Geschichten  wird  er  Euch 
aus  dieser  Zeit  erzählen,  denn  wü'  sind  reich  daran  und  haben 
uns  vorgenommen,  uns  in  den  wenigen  Tagen,  die  wir  noch 
zusammen  bleiben,  recht  an  einander  zu  freuen.  Neulich  gingen 
wir  drei  von  einem  höchst  diplomatischen  Diner  bei  Bülow 
zurück  und  waren  satt  an  fashionablen  Speisen,  Gesprächen 
und  Thaten.    Da  kamen  wir  bei  einem  appetitlichen  Wurst- 


218  Felix  in  England  1829. 

laden  vorbei,  in  welchem  German  samage  für  two  pence  aus- 
gestellt war;  der  Patriotismus  überkam  uns,  Jeder  kaufte  sich 
eine  lange  Wurst,  wir  flüchteten  uns  in  die  weniger  belebte 
Portlandstreet  und  verzehrten  da  unsern  Einkauf,  indem  wir 
vor  Lachen  kaum  die  dreistimmigen  Lieder  begleiten  konnten, 
die  Mühlenfels  im  Bass  anstimmte.  Beide  Professoren  hatten 
ihre  Vorlesungen  denselben  Tag  geschlossen  und  brauchten  also 
nichts  zu  fürchten.     Rosen  wird  zu  Zeiten  ganz  wild." 

Das  Jahr  1829  zeichnete  sich  durch  Unglücke  mannigfacher 
Art  in  Folge  elementarer  Ereignisse  aus.  Namentlich  die 
Danziger  Gegend  und  Schlesien  waren  schwer  heimgesucht. 
Nathan,  der  jüngste  Sohn  Moses  Mendelssohn's,  der  in  Schlesien 
lebte,  hatte  über  die  dort  herrschende  Noth  an  seinen  Bruder 
Abraham  geschrieben,  und  dieser  Felix  in  London  davon  Mit- 
theilung gemacht.  Das  wui'de  die  Veranlassung  des  Concerts 
für  die  Schlesier,  von  dessen  Probe  oben  die  Rede  war,  und 
dessen  Erfolg  Felix  in  folgendem  Brief  an  Nathan  beschreibt: 


London,  den  16.  Juli  29. 

„Lieber  Onkel!  Es  ist  lange  her,  dass  ich  Dir  nicht 
geschrieben  habe.  Um  so  mehr  freue  ich  mich,  die  Gelegen- 
heit jetzt  ergreifen  zu  können,  um  Dir  Angenehmes  und  Tröst- 
liches zu  melden.  Deine  Landsleute  haben  Deinem  Briefe  an 
meinen  Vater,  worin  Du  das  Unglück  durch  V^^olkenbruch  und 
Ueberschwemmung  beschreibst,  eine  sehr  beträchtliche  Unter- 
stützung zu  danken,  die  in  wenigen  Wochen  auf  offiziellem 
Wege  dort  anlangen  wird.  Ich  kann  Dir  nicht  sagen,  wie 
herzlich  lieb  es  mir  ist,  dass  sie  es  zunächst  Deinem  Schreiben 
schuldig  sind,  und  dass  ich  auch  Gelegenheit  hatte,  dazu  be- 
hülflich  zu  sein.  Es  verhält  sich  so  mit  der  Sache:  Die  Sontag 
hatte  auf  vieles  Zureden  versprochen,  im  Mai  ein  Concert  für 
die  Danziger  zu  geben,  es  schien  ihr  aber  die  Lust  zu  fehlen, 
denn  sie  verschob  es  auf  den  Juni,  dann  auf  den  Juli,  und 
endlich,  da  ihr  Benefiz  so  schlecht  ausfiel,  dass  sie  noch  Geld 
zusetzen  musste,   gab  sie  es  gänzlich  auf;  mir  that  es  leid,  ich 


Concert  für  die  Schlesier.  219 

ging  mehreremal  zu  ihr,  sprach  mit  ihrem  komme  d^  affaires  und 
ihrer  Gesellschaftsdame  (denn  sie  ist  ordentlich  von  einem 
kleinen  Hofstaat  umgeben,  und  man  wii'd  selten  vorgelassen), 
beide  erldärten  sich  aber  so  entschieden  dagegen  und  wurden 
am  Ende  so  unhöflich,  dass  ich  fortging,  mit  dem  Vorsatz,  nie 
wieder  zu  kommen.  Tags  darauf  erhielt  ich  den  Brief  meiner 
Eltern  mit  der  Abschrift  des  Deinigen,  und  ich  weiss  nicht, 
wie  es  kam,  aber  ich  schwor  mir  zu,  es  sollte  und  müsste 
nun  gehn  und  das  Concert  müsse  gegeben  werden.  Mir  kam 
dabei  in  den  Sinn,  wie  Du  mir  einmal  Geld  liehest  für  den 
Ealgentreter  an  der  Orgel  in  Eeinerz  und  es  nicht  wieder- 
nehmeu  wolltest;  wie  Du  erst  sagtest,  meine  Musik  habe  Dir 
für  acht  Groschen  Vergnügen  gemacht,  und  nachher  ernsthaft 
zusetztest,  wenn  ich  mir  durch  mein  Spiel  mal  was  verdienen 
könnte,  möchte  ich's  an  die  Armen  geben.  Auch  wie  wir  so 
vergnügt  damals  zusammen  gewesen  sind  und  vieles  Andre 
kam  mir  in  den  Sinn,  und  ich  lief  sogleich  zur  Sontag,  liess 
mich  nicht  abweisen,  weigerte  mich,  den  homme  d'affaires  und 
die  Dame  zu  sprechen,  setzte  ihr  sehr  arg  zu,  versicherte,  sie 
müsse  nun  ein  Concert  geben,  da  es  in  der  Staatszeitung  ge- 
standen habe,  und  die  Schlesier  hätten  es  nöthiger  als  die 
Danziger,  kui^z,  sie  entschloss  sich,  es  zu  unternehmen.  Nur 
sie  mit  ihi-en  ausgebreiteten  Connexionen,  bei  ihrer  Beliebtheit 
unter  allen  Ständen  konnte  es  wagen,  den  Engländern  in  einem 
Augenblick,  wo  das  Elend  in  London  entsetzlich  gross  ist  und 
wo  man  nicht  weiss,  wie  es  zu  erleichtern  oder  ihm  abzuhelfen 
sei,  ein  Concert  fiir  fremde  Verunglückte  anzukündigen.  Alles 
war  dagegen;  die  Musiker  prophezeiten,  zumal  bei  dem  vor- 
gerückten Sommer,  einen  leeren  Saal,  benahmen  sich  zum  Theil 
sehr  kalt  und  unfreundlich,  machten  auf  die  Kosten  aufmerk- 
sam, die  man  nicht  herausbringen  würde ;  ich  trieb  aber  immer- 
fort; es  \vurde  angezeigt;  eine  Menge  hoher  Herrschaften 
nahmen  die  Patronage  an,  alle  ausgezeichneten  Sänger  mussten 
schon  honoris  causa  umsonst  singen,  viele  Instrumental- Spieler 
hatte  die  Sontag  sich  verpflichtet,  viele  thaten  es  mir  zu  Ge- 
fallen, kein  Name,  der  nur  liegend  in  der  Saison  geglänzt  hatte, 
fehlte   auf  dem   Programm,    und   auf  einmal  war   die   Sache 


220  Felix  in  England  1829. 

fasJiionalle.    Von  nun  an  war   der  gute  Ausgang  entscMeden, 
die  ganze  Stadt  sprach  davon.    Als  icli  eine  Stunde  vor  dem 
Anfang  des  Concerts  am  vorigen  Montag  vor  den  Argyll  rooms 
(die  der  Besitzer  gleichfalls  umsonst  gab)  vorbei  kam  und  die 
Menschenmasse  sah,   die  mit  ihren  fremden  Gesichtern  hinein- 
strömte und  sich  drängte,  als  ich  dann  später  aufs  Orchester 
ging  und  das  ganze  Orchester  mit  schönen,  geputzten  Damen 
besetzt,   alle  Logen  gefüllt,   die  Vorsäle  sogar  voll  Menschen 
fand,   so  war  mir  unbeschreiblich  froh  und  freudig  zu  Muthe, 
und  es  that  mir  nur  leid,  dass  man  hier  keinen  grössern  Con- 
certsaal  hat,   denn  an  hundert  Menschen  mussten  abgewiesen 
werden.    Es  sind  zwischen  250  und  300  Guineen  eingekommen, 
die  dem  preussischen  Gesandten  hier  übergeben  und  durch  ihn 
nach  Schlesien  geschickt  werden.    Wie  die  Sache  entstanden 
sei,  konnten  sich  die  Engländer  nicht  erklären.    Auf  dem  Zettel 
stand,   die  Sontag  hätte  von  vielen  hohen  Personen  in  ihrem 
Vaterlande  Brief  und  Aufforderung  erhalten:  das  warst  Du. 
Die  Times  merkten  gar,  dass  der  König  von  Preussen  sich  an 
die  Sontag  gewendet  habe:  das  warst  wieder  Du.    Bei  den  Ein- 
ladungen  an  die  Patronages  wurden  lebhafte  Beschreibungen 
der  Verwüstungen  beigelegt,  wörtlich  in's  Englische  übersetzt, 
aus  dem  Bericht  eines  Augenzeugen:  das  warst  Du  auch.    Mit 
einem  Wort,   es  ist  in  die  Trompete   ganz   gehörig  gestossen 
worden,  und  es  ist  geglückt.    Das  Concert  war  unstreitig  das 
beste  im  ganzen  Jahi-e;   zu   einer  Arie  war  nicht  Zeit;    die 
vielen  Sänger  konnten   nur  in  Quartetten  u.  dergl.  verwendet 
werden,    und  dennoch   dauerte  es  beinah  vier  Stunden.    Die 
Sontag  hat   sechs  Mal    gesungen,   Drouet   flötete,    Moscheies 
spielte   ein  Concert  für  zwei  Claviere  von  meiner  Composition 
mit  mir,  meine  Ouvertüre  zum  Sommernachtstraum  kam  auch 

vor  etc.  etc. 

Genug  davon;  das  Beste  ist,  dass  es  gewesen  und  voll 
gewesen  ist.  Bitte,  lieber  Onkel,  schreib  mir  einmal  ein  paar 
W^orte;  mein  Vater  wird  sie  mir  schon  nach  dem  schottischen 
Hochlande,  wohin  ich  in  ein  paar  Tagen  gehe,  zukommen 
lassen.  Lass  mich  von  Dir  wissen,  und  von  allen  den  Deinigen, 
wie  Ihr  lebt  und  ob  Arnold  noch   immer  Lust  und  Liebe  zur 


Concert  für  die  Schlesier.    Edinburg,  221 

Musik  zeigt  und  ausbildet.  Grüss  sie  mir  Alle  recht  herzlich 
und  bleibe  mir  gut.    Lebe  wohl. 

Dein 
Felix  Mendelssohn  Bartholdy. 

P.  S.  Nimm  nicht  übel,  dass  in  dem  Briefe  eigentlich  nichts 
steht,  als  Concert  und  wieder  Concert.  Es  ist  das  Neueste 
und  hat  mich  so  lebhaft  beschäftigt,  und  wess  das  Herz  voll 
ist  etc.  Seit  dem  Anfang  der  Geschichte  habe  ich  mich  dar- 
auf gefreut,  Dir  diesen  Brief  schreiben  zu  können.  Da  ist 
er  nun." 

Auch  die  Briefe  an  die  berliner  Familie  sind  voll  davon. 
Folgende  Episode  soll  nicht  unerwähnt  bleiben: 

17.  Juli  29. 

„ Das  Concert  für  die  Schlesier  war  prächtig,  das 

beste  in  der  Saison;  Damen  guckten  hinter  den  Contrabässen 
hervor,  als  ich  aufs  Orchester  kam,  Hessen  mich  Johnston's 
Ladies  rufen,  die  zwischen  die  Fagotten  und  das  Basshorn 
gerathen  waren,  und  fragten  mich,  ob  sie  da  wohl  gut 
hören  könnten;  eine  Dame  sass  auf  einer  Pauke,  die  Eoth- 
schild  und  die  K.  Antonio  campirten  auf  Bänken  im  Vorsaal, 
kurz,  die  Sache  war  äusserst  brillant." 

Edinburg,  28.  Juli  29. 

„In  Edinburg  ist  es  Sonntag,  wenn  man  eben  ankommt; 
da  geht  man  denn  über  die  Wiesen  auf  zwei  höllisch  steile 
Felsen  zu,  die  Arthur's  Sitz  heissen,  und  klettert  hinauf.  Unten 
gehn  die  buntesten  Menschen,  Frauen,  Eünder  und  Kühe  im 
Grün  herum,  weit  umher  breitet  sich  die  Stadt  aus,  wo  in 
der  Mitte  die  Burg  wie  ein  Vogelnest  am  Abhang  steht,  über 
die  Burg  hinweg  seht  Ihr  Wiesen,  dann  Hügel,  dann  einen 
breiten  Fluss,  über  den  Fluss  hinweg  wieder  Hügel,  dann 
kommt  ein  ernsterer  Berg,  auf  dem  Stü'lings  Gebäude  er- 
scheinen, das  ist  schon  blaue  Ferne,  dahinter  steht  ein 
schwacher  Schatten,  den  sie  Ben  Lomond  nennen.  Alles  das 
ist  aber  nur  die  eine  Hälfte  von  Arthur's  Sitz;   die  andi-e  ist 


222  Felix  in  England  1829. 

einfach  genug,  es  ist  die  hohe,  blaue  See,  unermesslich  weit, 
bedeckt  mit  weissen  Segeln,  schwarzen  Dampfschornsteinen, 
kleinen  Insekten  von  Kähnen  und  Böten,  Felsinseln  und  der- 
gleichen. Was  soll  ich's  beschreiben?  Wenn  der  liebe  Gott 
sich  mit  Panoramen  malen  abgiebt,  so  wird's  etwas  toll.  Wenige 
Schweizer  Erinnerungen  können  dies  schlagen,  es  sieht  Alles 
60  ernsthaft  und  kräftig  hier  aus,  es  liegt  Alles  halb  im  Duft 
oder  Rauch  oder  Nebel;  dazu  ist  gar  morgen  ein  Wettstreit 
der  Hochländer  auf  der  Bagpipe^  und  so  kamen  Viele  m  üirem 
Anzug  aus  den  Kirchen,  führten  ihre  geputzten  Mädchen  sieg- 
reich am  Arm,  sahen  stattlich  und  wichtig  in  die  Welt  hiuein; 
mit  den  langen,  rothen  Barten,  den  bunten  Mänteln  und  Feder- 
hüten, den  nackten  Knieen  und  ihre  Sackpfeife  in  der  Hand, 
gingen  sie  ganz  ruhig  vor  dem  halbzerstörten  grauen  Schloss 
auf  der  Wiese  vorbei,  wo  Maria  Stuart  glänzend  gelebt  hat 
und  wo  sie  Rizzio  hat  ermorden  sehn.  Es  kommt  mir  vor, 
als  ginge  die  Zeit  sehr  schnell,  wenn  ich  soviel  Vergangenheit 
neben  der  Gegenwart  vor  mir  habe. 

Es  ist  aber  hier  schön !  Abends  weht  kalte  Luft  von  der 
See  her,  und  dann  sehn  alle  Gegenstände  höchst  scharf  und 
klar  aus,  schneiden  sich  gegen  den  grauen  Himmel  deutlich 
ab,  die  Lichter  aus  den  Fenstern  blinken  sehr  hell,  imd  so 
war  es  gestern,  als  ich  mit  Herrn  Ferguson,  einem  Edinburger 
friend  of  mine,  an  den  mich  Herr  Droop,  ein  Londoner  frimi 
of  mine,  empfohlen  hat,  die  Strassen  auf-  und  abging  und  mir 
auf  der  Post  Euren  Brief  vom  loten  holte,  den  las  ich  mit 
besonderem  Behagen  auf  Princes'  Street  in  Edinburg  mir  durch. 
In  Edinburg  ein  Brief  vom  Taxus  her  aus  der  Leipziger  Strasse ! 
—  Ebenso  behaglich  war  es  mir,  als  ich  heut  in  die  See  hin- 
einschwamm  und  nun  ein  paar  Augenblicke  allein  im  Meer 
mich  herumtrieb  und  dabei  dachte,  wie  genau  wir  doch  eigent- 
lich mit  einander  bekannt  wären,  und  doch  steckte  ich  tief  im 
schottischen  Meer,  das  sehr  salzig  schmeckt,  Dobberan  ist 
Limonade  dagegen. 

Ob  ich  Sir  Walter  Scott  hier  sehn  werde,  ist,  obwohl  ich 
einen  Brief  an  ihn  von  einem  seiner  genauen  Freunde  aus 
London  habe,  noch  ganz   ungewiss,   doch   hoffe  ich's,  meistens 


Edinburg.  223 

tun  von  Dir,  liebe  Mutter,  nicht  gar  zu  sehr  ausgescholten  zu 
werden,  wenn  ich,  ohne  den  Hon  gesehen  zu  haben,  wieder- 
komme. Auch  den  Blumensamen  kann  ich  erst  nach  der  Reise 
besorgen,  ich  schäme  mich  ordentlich,  ihn  nicht  geschickt  zu 
haben,  statt  Scheeren,  Nadeln  und  dergleichen,  aber  man  ver- 
gisst  am  Ende  in  London  wirklich,  dass  eine  Natur  in  der 
Welt  ist,  und  sowie  man  fest,  kalt  und  menschengleichgültig 
da  wird,  beim  Feuerlärm  nur  aus  dem  Fenster  nach  der  Flamme 
aussieht,  aber  ruhig  weiterschläft,  wenn  sie  nicht  in  der  Nähe 
scheint,  so  fällt  es  auch  Keinem  ein,  dass  Blumen  zur  Welt, 
oder  gar  Samen  zu  den  Blumen  gehören,  man  riecht  daran, 
steckt  sie  in's  Knopfloch  und  vergisst  sie.  — 

Die  Hochlandsfahrt  geht  so :  über  Stirling,  Perth,  Dunkeid 
und  die  Wasserfälle  nach  Blair  Atholl;  von  da  zu  Fuss  über 
die  Berge  nach  Inverary,  nach  Glencoe,  der  Insel  Staffa  und 
der  Insel  Isla;  hier  wird  ein  Paar  Tage  geblieben,  weil  mir 
Sir  Alexander  Johnston  noch  ein  Empfehlungsschreiben  an  Sir 
Walter  CampbeU  nachgeschickt  hat,  den  Herrn,  Besitzer  und 
Tyrannen  der  Insel,  den  ein  Wort  von  Johnston  zähmt  und 
zum  Führer  macht.  Von  da  den  Clyde  hinauf  nach  Glasgow, 
dann  nach  Ben  Lomond,  weil  es  mit  Loch  Lomond  die  Hoch- 
lands lions  sind,  nach  Loch  Earn,  Ben  Vorlich,  Loch  Katrin, 
dann  heraus  nach  Cumberland.  Was  soU  ich  weiter  erzählen  ? 
—  Die  Zeit  und  der  Raum  gehen  zu  Ende  und  Alles  läuft 
wieder  auf  den  Refrain  hinaus:  wie  freundlich  die  Menschen 
und  wie  freigebig  der  liebe  Gott  in  Edüiburg  sind.  Auch  sind 
die  Schottländerüinen  zu  beachten,  und  wenn  Mahmud  Vaters 
Bath  befolgt  und  ein  Christ  wird,  so  werde  ich  an  seiner 
Statt  ein  Türke  und  lasse  mich  in  der  Nähe  hier  nieder."  — 


Edinburg,  30.  Juli  1829. 
Ihr  Lieben! 
„Es  ist  jetzt  Nachts  spät  und  heut  war  mein  letzter  Tag 
in  dieser  Stadt;  morgen  früh  gehen  wir  nach  Abbotsford  zu 
Sir  Walter  Scott,  übermorgen  in  die  Hochlande.    Die  Fenster 


224  Felix  in  England  1829. 

stehen  offen,  denn  es  ist  schön  Wetter  und  Sternhimmel, 
Klingemann  schreibt  neben  mir  in  Hemdsärmeln;  so  weit  die 
Scene. 

Der  Euch  den  Brief  bringt,  das  ist  ein  junger  Mann, 
J.  Thompson,  der  mir  hier  viel  Freundlichkeit  erwiesen  hat 
und  mit  dem  ich  oft  und  gern  mich  bei  einem  gemeinschaft- 
lichen Bekannten  traf.  Ich  bitte  Euch  herzlich,  ihm  die  grosse 
Unbequemlichkeit  seines  Aufenthaltes  zu  erleichtem,  soweit  es 
geht;  er  spricht  leider  weder  Deutsch  noch  Französisch,  Ihr 
müsst  also  mal  thun,  als  ob  Ihr  in  Edinburg  wäret  und  drauf 
los  Englisch  konversiren  durch  Dick  und  Dünn.  Er  liebt  die 
Musik  sehr,  ich  kenne  von  seiner  Composition  ein  hübsches 
Trio  und  Gesangstücke,  die  mir  ganz  gut  gefallen  haben,  und 
er  unterzieht  sich  der  Unannehmlichkeit,  nach  einem  Lande 
zu  gehen,  dessen  Sprache  er  nicht  kennt,  nur  um  sich  an  dem 
Guten,  was  wir  dort  haben,  zu  ergötzen.  Ich  bitte  Euch  um- 
somehr,  ihm  recht  freundlich  zu  sein,  und  glaube  umsomehr, 
dass  Ihr  meine  Bitte  erfüllen  wollt,  da  ich  nun  aus  Erfahrung 
weiss,  wie  tröstlich  es  ist,  in  der  Fremde  zuvorkommend  und 
herzlich  empfangen  zu  sein  und  da  das  namentlich  einem  Eng- 
länder fast  unentbehrlich  ist,  der  den  grössten  Unterschied 
zwischen  seinem  abgeschlossenen  Land  und  einem  fremden 
stündlich  fühlen  muss,  den  daher  jede  Ausgleichung  doppelt 
freut  und  der  gewohnt  ist,  Fremde  in  seinem  Wohnort  gast- 
frei aufzunehmen. 

Zeigt  ihm,  was  ihn  interessirt  und  was  ihm  gefallen  kann; 
Fanny  mag  ihm  viel  vorspielen,  er  muss  ihre  Lieder  von  Beck- 
chen performed  hören,  gebt  Ihm  einen  guten  Begriff  von  der 
Musik  abroad;  Vater  tadelte  mich  einmal  in  Paris,  dass  ich 
gegen  Fremde  nicht  freundlich  genug  sei  und,  ich  glaube,  mit 
Recht.  Aber  ich  habe  den  Fehler  abgelegt,  seit  ich  von  Euch 
entfernt  bin;  man  lernt  es  da  schätzen.  Drum  habe  ich  ihm 
auch  die  Briefe  nach  Berlin  angeboten,  um  die  er  mich  nicht 
bat;  setzt  Ihr  nun  weiter  fort. 

In  der  tiefen  Dämmerung  gingen  wir  heut  nach  dem 
Palaste,  wo  Königin  Maria  gelebt  und  geliebt  hat;  es  ist  da 
ein  kleines  Zimmer  zu  sehen,  mit  einer  Wendeltreppe  an  der 


Besuch  bei  Walter  Scott.  225 

Thür ;  da  stiegen  sie  liinanf  iind  fanden  den  Rizzio  iin  kleinen 
Zimmer,  zogen  ihn  heraus,  und  drei  Stuben  davon  ist  eine 
finstere  Ecke,  wo  sie  ihn  ermordet  haben.  Der  Kapelle  daneben 
fehlt  nun  das  Dach,  Gras  und  Epheu  wachsen  viel  darin,  und 
am  zerbrochenen  Altar  wurde  Maria  zur  Königin  von  Schott- 
land gekrönt.  Es  ist  da  Alles  zerbrochen,  morsch  und  der 
heitere  Himmel  scheint  hinein.  Ich  glaube,  ich  habe  heut  da 
den  Anfang  meiner  Schottischen  Symphonie  gefimden.  Nun 
lebt  wohl."  — 

Klingemann  schreibt: 

Abbotsford,  31.  Juli  29. 
Staunendste! 

„Unt^r  uns  schnarcht  der  gTOSse  Mann  —  seine  Doggen 
schlafen  und  seine  gewappneten  Eitter  wachen  —  es  ist  12 
Uhr  und  die  süsseste  Geisterstunde,  die  ich  je  erlebt,  denn 
Miss  Scott  bereitet  die  göttlichste  Marmelade  —  die  Bäume 
des  Parks  rauschen  —  die  Wellen  des  Tweed  flüstern  dem 
Barden  die  Geschichten  der  Vorzeit  und  das  Geheimniss  der 
Gegenwart  —  und  Harfentöne,  von  zarter  Hand  geg-riffen,  klingen 
dazwischen  in's  fi'emde,  alterthümliche  Gemach  hinein,  in  das 
der  Gefeierte  uns  gelagert,  —  mit  walirerem  Hochgeschmack 
ist  überhaupt  nie  ein  Brief  begonnen  worden  und  auf  Europa 
wird  sehr  herabgesehen.  Schon  wie  mr  heut  Morgen  fünf  und 
dreiviertel  Uhr  aus  Edinburg  schlaftrunken  abfuhi-en,  tönte  es 
närrisch  um  uns  herum  —  die  Stage  war  schon  in  Bewegung 

—  ich  voran  ihr  nach  —  ein  Eckensteher  —  immer  ein 
Highlander  hier  —  brachte  sie  zum  Stehen  nnd  rief  mit  Eifer: 
Run  my  man^  run  my  man,  ü  wonH  wait!  Was  bedeuten  denn 
ferner  vierzig  Meilen,  wenn  man  dabei  die  Quellen  des  Nil 
entdeckt?    Wir  waren  in  Melrose,  Felix  fuhr  nach  Abbotsford, 

—  ich  blieb  zurück,  als  einer  ohne  letter  of  Introduction,  der 
nachkommen  könne,  wenn  der  Walter  den  Andern  durchaus 
nicht  fahren  lassen  wollte.  Melrose  Abbey  ist  eine  Ruine  voll 
Erhaltung  und  Unterhaltung,  der  König  David  (von  Schott- 
land) und  der  Zauberer  Scott  (Michael,  nicht  Walter)  sind  da 
in  Stein  und  die  ganze  Gegend  ist  von  Sagen  und  alten  Feen- 
reigen durchwoben  —  Thomas  tJie  Rymer  und  die  Feenkönigin 

Die  Familie  Mendelssohn.  I.  15 


226  Felix  in  England  1829. 

haben  im  dimkelii  Glen,  etwas  weiter  hinauf,  Tänze  gehalten, 
und  sogar  im  Kastellan  springt  noch  was  davon,  wenn  er  wie 
ein  Gems  auf  die  höchsten  Pfeilerruinen  klettert.  Man  wird 
80  hungrig  in  solchen  Ruinen,  die  einem  dui'ch  Kontrast 
zuletzt  sehr  die  Gegenwart  auf  die  Nase  stossen,  dass  ich  mich 
in  die  Kneipe  zurückzog  zu  Brot  und  Käse  und  Ale  und  einer 
Zeitung  —  so  lag  ich  geniessend  und  ruhend  auf  dem  Sopha 
—  da  kam  die  Kutsche  zui'ück,  man  stüi^mte  in  unser  Zimmer ; 
ich  dachte  nur  an  Felix  und  sagte  Skurriles.  Da  unterschied 
ich  einen  ältlichen  Mann:  0  Sir  Walter!  rief  ich  aufspringend 
und  fügte  erröthend,  entschuldigend  hinzu:  Nur  ähnliche  Kupfer- 
stiche entschuldigen  ähnliche  Vertraulichkeit!  y^Nemr  mind!"" 
so  erwiderte  er,  der  so  sehr  als  breit  veiTufene,  kurz,  — 
„werther  zukünftiger  Parnassbruder  und  Historien  Romancier, 
ich  freue  mich  Ihi*er  Begegnung:  Ihr  Freund  hat  mir  schon 
und  schön  auseinandergesetzt,  was  und  wieviel  Sie  alles  noch 
schreiben  werden,  wo  nicht  geschrieben  haben!"  Dabei  wurden 
Hände  aus-  und  wieder  eingeschwenkt,  und  wir  Alle  zogen  im 
überseligen  Taumel  nach  Abbotsford.  Noch  heute  Abend  schrieben 
Felix  und  ich  Töne  und  Verse  in  ein  grosses  Stammbuch  mit 
Zittern,  ich  Folgendes: 

Hohe  Berge  steigen  himmelaufwärts 
Und  die  Moore  liegen  rabenschwarz  dazwischen, 
Felsen,  Schluchten,  Schlösser,  Trümmer  reden  von 

uralter  Vergangenheit, 
Und  sinnverwirrend  umrauscht  es  die  Neuen, 
Die  davon  träumen,  ohne  es  zu  verstehn,  — 
Aber  an  den  Pforten  des  Landes  wohnt  Einer, 
Der,  ein  Weiser,  der  Räthsel  kundig  ist 
Und  der  alles  Alte  neu  an's  Licht  bringt  — 
Nun  ziehen  die  Frohen 
Und  rauschen  und  lauschen 
Und  reisen  und  weisen, 
Verstehen  imd  sehen 

Die  Felsen  und  Schluchten  und  Schlösser  und  Trümmer.  — 
Der  Weise  aber  hebet  noch  immer  die  Schätze 
Und  münzt  sie  ein  in  goldne,  klingende  Batzen! 

Dies  zum  Andenken  von  etc.  etc. 


Im  Hochland.  227 

Nachschrift  von  Felix:  „Klingemann  lügt  obea  wie 
gedruckt  Wir  fanden  Sir  Walter  Scott  im  Begriffe,  Abbots- 
ford  zu  verlassen,  sahen  ihn  an  wie  ein  neues  Thor,  fuhren 
achtzig  Meilen  und  verloren  einen  Tag  um  eine  halbe  Stsmde 
unbedeutender  Conversation,  Melrose  tröstete  wenig,  wir  ärgerten 
uns  über  grosse  Männer,  über  uns,  über  die  Welt,  über  Alles. 
Der  Tag  war  schlecht.  Heut  war  ein  Tag!!  Wir  haben  des 
gestern  vergessen  und  lachen  darüber." 


Felix: 

Blair  Atholl,  3.  August, 

„Heut  ist  der  trübste,  ti*aurigste  Regentag.  Aber  wir 
helfen  uns,  so  gut  es  geht.  Das  ist  freilich  schlecht  genug. 
Granz  durchnässt  ist  Erde  und  Himmel,  imd  Regimenter  von 
Wolken  ziehen  noch  in  Reih'  und  Glied  heran.  Greatem  war 
ein  wunderschöner  Tag;  wir  gingen  von  Felsen  zu  Felsen, 
viel  Wassei^älle,  schöne  Thäler  mit  Flüssen,  dunkler  Wald 
und  Haide  mit  rothem  Kraut ;  wir  fuhren  im  offenen  Einspänner 
des  Morgens  und  gingen  später  einundzwanzig  (englische) 
Meilen  zu  Fuss.  Ich  zeichnete  sehr  viel  und  Klingemann  kam 
auf  den  göttlichen  Gedanken,  der  Euch  gewiss  grosse  Freude 
geben  wird,  an  jeder  Stelle,  die  ich  zeichnete,  einige  Zellen  in 
Knittelversen  zu  entwerfen,  und  das  haben  wir  denn  auch 
gestern  und  heut  ausgefiihrt.  Es  geht  ganz  prächtig,  er  hat 
schon  wundemiedliche  Sachen  gedichtet. 


Abends  3.  August,  an  der  Tummelbrücke. 

Wilde  Wirthschaft.  Der  Sturm  heult,  saust  und  pfeift 
draussen  hin  und  her,  schlägt  unten  die  Thüren  zu  und  die 
Fensterladen  auf,  ob  der  Wasserlärm  vom  Regen  oder  dem 
reissenden  Schaumstrom  herkommt,  kann  man  nicht  wissen, 
weil  beide  zusammen  wüthen ;  wü'  sitzen  hier  ruhig  am  Kamin- 
feuer, das  schüre  ich  von  Zeit  zu  Zeit  an,  dann  flackert  es  auf; 

15* 


228  Felix  in  England  1829. 

übrigens  ist  der  Saal  gross  und  leer,  an  einer  Wand  tröpfelt's  nass 
herunter;  der  Fussboden  ist  dünn,  da  hallt  das  Gespräch  aus 
der  Knechtstube  unten  herauf,  die  singen  betrunkene  Lieder 
und  lachen ;  dazu  Hundebellen,  zwei  Betten  mit  purpurnen  Vor- 
hängen, an  unsern  Füssen  statt  der  englischen  Pantoffeln 
schottische  Holzschuh,  Thee  mit  Honig  und  Kartoffelkuchen, 
eine  enge,  gewundene  Holztreppe,  auf  der  uns  die  Magd  mit 
Schnaps  entgegenkam,  trostloser  Wolkenzug  am  Himmel,  und 
trotz  alle  des  Wind-  und  Wasserlärms,  trotz  des  Knecht- 
gesprächs und  Thüi'klappens  ist  es  still!  Still  und  sehr  ein- 
sam !  Ich  möchte  sagen,  dass  die  Stille  durch  den  Lärm  durch- 
klingt. Eben  geht  die  Thür  von  selbst  auf.  Es  ist  Hoch- 
landsschenke. Die  kleinen  Jungen  mit  dem  Plaid  und  den 
nackten  Knieen  und  bunten  Mützen,  der  Aufwärter  im  Tartan, 
alte  Leute  mit  Zöpfen  sprechen  alle  unverständlich  Gaelisch 
durcheinander.  Das  Land  ist  weit  und  breit  dick  bewachsen 
und  belaubt,  von  allen  Seiten  stürzen  reiche  Wasser  unter  den 
Brücken  vor,  wenig  Korn,  viel  Haide  mit  braunen  und  rothen 
Blumen,  Schluchten,  Pässe ,  Kreuzwege,  schönes  Grün  überall, 
tiefblaues  Wasser,  aber  alles  ist  ernst,  dunkel,  sehr  einsam. 
Was  soll  ich's  beschreiben?  Fragt  Droysen  danach,  der  kennt 
es  besser  und  kann  es  malen,  wir  haben  uns  immer  Zeilen 
seines  „Hochlands"  hergesagt.  Lieber  Droysen,  woher  kennst 
Du  Schottland?  Es  ist  so,  wie  Du  sagst.  — 

Ich  lese  heut  Abend  noch  in  den  Flegeljahren,  denn  die 
gehn  mit,  und  die  Schwestern  gucken  mich  sonderlich  an.  *) 
Hensel  hat's  los,  er  kann  Gesichter  sehen  und  festhalten.  Aber 
das  Wetter  ist  trostlos.  Ich  habe  mir  eine  eigne  Manier  zu 
zeichnen  dafür  erfunden,  und  habe  heut  Wolken  gewischt  und 
graue  Berge  gemalt  mit  dem  Bleistift;  KHngemann  reimt  mun- 
ter und  ich  führe  im  Regen  weiter  aus." 


*)  Die  Schwestern  hatten  Felix  nach  England  die  Jean  Paul- 
schen  Flegeljahre,  sein  Lieblingsbuch,  geschickt,  in  das  Hensel  sio 
als  Titelblatt  gezeichnet  hatte. 


Auf  den  Hebriden.  229 

Klingemann: 

Gegeben  in  den  Hebriden,  am  7.  A.ug, 

„Die  Jugend  von  Tobermory,  der  Hauptstadt  der  Insel 
Mull,  lärmt  vergnüglich  am  Hafen,  das  atlantische  Meer,  in  dem 
sich  reichlich  Wasser  zu  befinden  scheint,  liegt  ganz  still  vor 
Anker,  gleich  unserm  Dampfschiff,  wir  sind  in  ein  respektables 
Privathans  einquartiert  und  stiften  nnserm  Tagwerk  gern  ein 
erquicklich  Denkmal ,  indem  wü-,  gleich  Napoleon ,  nnsre  Armee- 
bülletins  immer  nur  von  bedeutenden  Punkten  aus  erlassen. 
Ordentlich  reizend  ist's  hier,  ich  habe  von  jeher  die  Hebriden 
mit  den  Hesperiden  verwechselt  und  das  macht's,  —  fanden 
sich  auch  die  Orangen  nicht  an  den  Bäumen,  so  lagen  sie  doch 
im  Whisky-Punsch.  —  Gestern  zogen  wir  bergauf,  bergab,  der 
Karren  meist  zur  Seite  und  wir  nebenhersteigend,  durch  Haiden 
lind  Moore  und  Pässe  aller  Art,  —  die  Natur  hat  hier  so  sehr 
für  Letztere  gesorgt,  dass  das  Gouvernement  weiter  garkeine 
fordert,  —  unter  Wolken  nnd  im  dichten  Staubregen  dnrch's 
Hochland,  räucherige  Hütten  klebten  auf  Abhängen,  hässliche 
Weiber  schauten  durch  die  Fensterlöcher,  Viehheerden  mit 
Bob  Roy's  sperrten  zu  Zeiten  unsern  Lauf,  gewaltige  Berge 
steckten  bis  auf  die  Kniee,  im  Hochlandskostüm  in  den  Wolken 
imd  guckten  wohl  oben  wieder  heraus,  —  man  sah  aber  manch- 
mal wenig.  Gestern  Abend  spät  aber  fielen  wir  ganz  unverhofft 
wieder  in  einige  Kultui-,  nämlich  in  eine  Strasse,  aus  der  das 
Fort  William  besteht,  und  heute  Morgen  warfen  wir  uns  der 
neuesten,  nämUch  dem  Dampf,  in  die  Arme,  waren  wieder 
unter  vielen  Menschen  und  schlürften  Sonnenschein  mit  Meer- 
grün, weite  Seelinien,  die  Felsen  in  bescheidener  Entfernung, 
gute  Kost  und  mancherlei  Gesellschaft,  ein  neuer  Freund  er- 
zählt uns  gleich,  wie  das  junge  Ehepaar  dort  seinen  Eoney- 
moon  verreise,  und  wie  er  sie  auf  dem  Ben  Lomond,  kurz  nach 
der  Hochzeit,  einen  Scotch  Reel  hätte  tanzen  sehen,  die  Braut 
mit  Abschiedsthränen  in  den  Augen,  —  am  Hafen  von  Oban 
steht   Bruce's   Felsen,    wo  er  irgend  eine  That  verrichtet,  — 


230  Felix  in  Ecgland  1829. 

der  Laird  Mac  Donald  geht  mit  seinen  Damen  nach  seinem 
Hanse,  einem  neuen,  das  hinter  den  Ruinen  des  alten  Castle's 
steht  und  worin  noch  eine  silberne  Broach  von  Bruce  auf- 
bewahrt wird,  —  unser  Edinburger  Freund,  der  Seekapitain 
Nelson,  mit  dem  wir  auf  dem  Schuf  zusammentreffen,  und  Eand% 
shdkm  erzählt  wunderliche  Geschichten  darüber,  wie  diese 
Reliquie  verloren  gewesen  und  theuer  wieder  erkauft  sei,  — 
sie  sei  einmal  geraubt  mit  anderen  Sachen  und  habe  sich  zu- 
letzt im  Besitz  einer  Dame  gefunden,  die  von  Rob  Roy 
abstamme." 


Glasgow,  10.  August. 

„Da  liegen   wieder   Meere   dazwischen,    an   jenem   7ten 
musste  Ruhe  gesammelt  werden,   um  am  nächsten  Morgen  um 
fünf  Uhr  wieder  in  See  zu  stechen.    Wenn  man,  wie  wir  jetzt, 
im  besten  Wirthshause  einer  Handelsstadt  von  hundertsechzig- 
tausend  Einwohnern  sitzt,   die  eine  Universität  und  Kattun- 
fabriken hat  und  Kaffee  und  Zucker  aus  der  ersten  Hand,   so 
schaut  man  mit  Behagen  auf  erlittenes  Ungemach  zurück,  — 
die  Hochlande  und    das  Meer   brauen   sich    aber  Nichts  wie 
Whisky  und  schlecht  Wetter.    Hier  ist's  anders  und  glatt,  aber 
comfortable;   mit  blauem  Himmel  über  sich  und  gutem  Soplia 
unter  sich,  geniessbaren  Victualien  vor  sich  und  dienstbaren 
Geistern  um  sich  bietet  man  aUen  Gefaliren  Trotz,   besonders 
aber  den  überstandenen.    Am  besagten  frühen  Morgen  wui'deu 
die  angenehmen  Dampfpersonen,    die  zuerst    mit  lauter  Oel- 
blättem  auf  uns  zugeflogen  waren,   immer  niedriger,  je  tiefer 
der  Barometer  fiel  und  je  höher  die  See  ging.    Das  that  näm- 
lich die  Atlantische  —  das   reckte   seine   tausend  Fülilfädeii 
immer  ungeschlachter  und   quiiite  immer   mehr  —  die  Schiffs- 
regierung  behielt  ihr  Frühstück  fast  allein,  denn  AVenige  ver- 
mochten die  Tassen  zu  handhaben,   und  überhaupt  fielen  die 
Ladies  um  wie  die  Fliegen,  und  ein  und  der  andre  Gentleman 
that's  ihnen  nach ;  ich  wollte,  mein  Reisepechbruder  wäre  nicht 
unter  ihnen   gewesen,   aber  er  verträgt  sich  mit   dem  Meere 


Auf  den  Hebviden.  231 

besser  als  Künstler,  denn  als  Mensch  oder  als  Magen;  zwei 
hübsche  kalte  Töchter  eines  hebridischen  Aristokraten,  auf  die 
Felix  wüthen  mag,  blieben  allein  mhig  oben  sitzen  und  machten 
sich  nicht  einmal  viel  ans  der  Seekrankheit  ihrer  Mutter ;  noch 
sass  eine  zweiundachtzigjährige  Frau  gelassen  an  der  Dampf- 
maschine und  wärmte  sich  im  kalten  Winde.  Die  Frau  hat 
mich  sechsmal  gerührt  und  siebenmal  geärgert  —  sie  wollte 
Staffa  noch  sehen  vor  ihrem  Ende.  Staffa,  mit  seinen  närrischen 
Basaltpfeilern  und  Höhlen,  steht  in  allen  Bilderbüchern;  wir 
wurden  in  Böten  ausgesetzt  und  kletterten  am  zischenden 
Meere  auf  den  Pfeüerstümpfen  zur  sattsam  berühmten  Fingals- 
höhle. Ein  grüneres  Wellengetose  schlug  allerdings  nie  in 
eine  seltsamere  Höhle  —  mit  seinen  vielen  Pfeilern  dem  Innern 
einer  ungeheuren  Orgel  zu  vergleichen,  schwarz,  schallend  und 
ganz,  ganz  zwecklos  für  sich  allein  daliegend  —  das  weite 
graue  Meer  darin  und  davor.  Da  kletterte  mühsam  die  alte 
Frau  hart  am  Wasser,  sie  wollte  doch  noch  vor  ihrem  Ende 
die  Höhle  von  Staffa  gesehen  haben.  Sah  sie  auch.  Wir 
Anderen  kehrten  im  kleinen  Boot  zum  Dampfschiff,  zum  un- 
erquicklichen Steam-Duft  zurück.  Beim  zweiten  Boot,  was 
ankam,  sah  ich  erst,  wie  wahr  Theater  in  Opern  das  Auf-  und 
Abschwanken  eines  Kahns,  in  dem  der  Geliebte  die  Werthe 
aus  einiger  Noth  errettet,  darzustellen  vermögen.  —  Es  ge- 
währte einigen  Trost,  dass  die  beiden  vornehmen  Gesichter 
doch  blass  geworden  waren,  so  sah  ich's  durch  meinen  schwarzen 
Brill.  Aber  die  zweiundachtzigjährige  Alte  sass  auch  darin 
und  zitterte,  das  Boot  schwankte,  mit  Mühe  hob  man  sie 
heraus  —  sie  hatte  doch  vor  ihrem  Ende  Staffa  noch  gesehen ! 
Das  Vergnügen  wurde  immer  ernsthafter,  da  wo  gestern  nett 
conversirt  war,  wurde  mehr  geschwiegen  heute,  der  blanke 
Mohr,  der  auf  dem  Verdeck  sass  und  mit  Tambourin  und  Wald- 
pfeife den  Jägerchor  im  Atlantischen  vortrug,  wenn  er  nicht 
rauchte,  und  der  Abends  pfeifend  die  Jugend  von  Tobermory 
mit  sich  henunzog,  war  dort  geblieben;  der  gelbe  Mulatten- 
koch, dessen  gleissendes  Calibansgesicht  wir  gestern  mit  Jubel 
zwischen  Kesseln  und  Heringen  und  Zugemüse  hatten  herum- 
hantieren  sehen,  briet   heute  alten  Schinken  und  brachte  mit 


232  Felix  in  England  1829. 

diesem  Grernch  einzelne  leidende  Seefalirer  zui*  Verzweiflung, 
wo  nicM  zu  was  Schlimmerem;  die  noch  lebenden  Passagiere 
verschworen  sich  gegen  den  Kapitän,  der  dem  Sir  James  zu 
Grefallen  den  alten  längeren  Weg  zuiiick  nehmen  wollte,  statt 
auf  einem  kürzeren  um  Jona  hemm  nach  Oban  zu  gehen. 
Jona,  eine  von  den  Hebridenschwestern,  klingt  doch  wohl  sehr 
ossianisch  und  weichmüthig,  und  es  ist  was  dran  —  sitze  ich 
mal  in  einer  toll- vollen  Assemble'e  mit  Musik  und  Tanz  und 
ich  habe  Lust,  mich  in  die  ödeste  Einsamkeit  zu  begeben,  so 
denke  ich  an  Jona,  woselbst  die  Ruinen  einer  Cathedrale, 
die  mal  geglänzt  hat,  die  Reste  eines  Nonnenklosters  und  die 
Gräber  der  alten  schottischen  Könige  und  älterer  nordischer 
Seefürsten  sind ;  auf  manchen  Denksteinen  sind  zwischen  groben 
Verzierungen  Schiffe  ausgehauen.  Wohnte  ich  aber  gar  auf 
Jona  und  lebte  dort  von  Melancholie,  wie  Andre  von  ihren 
Renten,  so  wäre  mein  dunkelster  Augenblick  der,  wo  ich  im 
weiten  Räume,  der  Nichts  fiihrt  als  Klippen  und  Möven,  mit 
einem  Male  einen  Schnörkel  von  Dampf  sähe,  dann  das  Schiff 
selber  und  zuletzt  eine  bimte  Gesellschaft  in  Schleiern  und 
Fräcken  heranträte,  sich  eine  Stunde  lang  die  Ruinen  und  die 
Gräber  und  die  di'ei  kleinen  Hütten  für  die  Lebendigen  ansähe 
und  dann  wieder  davon  zöge  —  und  dieser  höchst  unmotivirte 
Spass  sich  nun  wöchentlich  zweimal  erneuerte,  als  das  Einzige 
beinahe,  woran  zu  erkennen  ist,  dass  es  eine  Zeit  und  Uhren 
in  der  Welt  giebt;  es  müsste  sein,  als  zögen  die  alten  Be- 
grabenen in  einer  possenhaften  Vermummung  um.  Jona  gegen- 
über liegt  eine  Felseninsel,  die  sieht  zum  Ueberfluss  noch  aus 
wie  eine  zerstörte  Stadt. 

Nach  und  nach  genasen  die  Seeleidenden,  ein  Segel  wurde 
über  dem  Verdeck  ausgespannt,  weniger  gegen  die  Sonne,  als 
gegen  die  Feuchtigkeit,  über  die  wir  Pechbrüder  immer  im 
Streit  liegen,  weil  FeUx  es  Regen  nennt,  ich  aber  „Mist*'*), 
und  man  hielt  im  Angesicht  sämmtlicher  Seeungeheuer  offene 
Tafel  im  Atlantischen,   selbst  Felix  biss   wieder  ein  und  um 


*)  Englisch;  Nebel. 


Auf  den  Hebriden.  233 

sich,  der  Sir  trank  Wein  mit  Denen,  die  nicht  über  und  gegen 
ihn  gemurrt  hatten  —  wir  entzogen  uns  dem.  Um  sieben  Uhr 
Abends  hätten  wir  wieder  in  Oban,  unserem  Continent,  sein 
sollen,  wir  kamen  aber  blos  bis  Tobermory,  Einzelne  landeten, 
der  Mohr  zog  nicht  lustig  mit  der  Inseljugend  umher;  denn 
es  regnete,  und  er  hätte  keine  geneigten  Gehöre  gefunden.  Es 
\mrde  Nacht  und  dunkel,  der  Capitain  legte  in  irgend  einem 
Winkel  ruhig  vor  Anker  und  wir  uns  in  die  Cajüte  —  Betten 
gab's  nicht,  und  Heringe  wohnen  in  römischen  Sälen  gegen 
uns  —  ich  wollte  in  der  Schlaftrunkenheit  zu  Zeiten  Fliegen 
aus  meinem  Gesicht  vertreiben,  und  es  waren  nur  die  gereiften 
Locken  des  greisen  Schotten;  wäre  der  Papst  dabeigewesen, 
so  hätte  ihm  ein  und  der  andere  Protestant  unbesehens  den 
Pantoffel  geküsst;  denn  man  machte  oft  unbekannte  Stiefel  zu 
seinem  Kopfkissen.  Es  war  ein  wüstes  Gelag  ohne  Trinken, 
zu  dem  Regen  und  Wind  abgeschmackte  Lieder  sangen. 

Um  halb  sieben  Uhr  Morgens  am  Sonntag  landeten  wir  in 
Oban  unter  Regen;  eine  gälische  Predigt  wollten  wir  nicht 
hören  und  setzten  uns  also,  vom  Regen  beschattet,  auf  eins 
der  liebenswürdigen  Fuhrwerke  von  offenem  Bergcharakter,  die 
CaHs  heissen;  zuletzt  aber  schien  die  Sonne  und  erwärmte 
Herzen  und  trocknete  Mäntel.  In  Inverary  war  ein  treffliches 
Wii'thshaus  und  braves  Unterkommen;  eine  schwarzlockige, 
schöne  Wirthstochter  schaute  als  Schild  über  dem. Schilde  in 
den  Hafen  hinein,  in  dem  die  frischesten  Heringe  um  neun 
Uhr  Morgens  noch  lebendig  schwimmen,  um  eine  Viertelstunde 
darauf  schon  gebraten  in  den  Kaffee  getunkt  zu  werden. 
Künftige  Reisegefähi-ten  fragten  uns  theilnehmend  unsere  ge- 
habten Leiden  und  zerrissenen  Stiefel  ab.  Das  Schloss  des 
Herzogs  von  Argyll  schaute  stolz  aus  den  hohen  Bäumen 
heraus,  und  von  allen  Bergen  ringsum  besprachen  sich  die 
belaubten  Bäume  oben  mit  den  behauenen  Verwandten  unten, 
die,  schon  im  Schiffswesen  angestellt,  im  Wasser  umher- 
schwammen. 

Unsere  Sehnsucht  nach  Kultur  und  Briefen  trieb  uns 
hierher  nach  Glasgow  in  wunderbarer  Fahrt  diuxh  verschiedene 


234  Felix  in  England  1829. 

„Löcher",  nämlich  Seen,  und  über  Land.  Aus  einem  Dampf- 
hoot,  in  das  wir  stiegen,  während  die  schwarzlockige  Wirths- 
tochter  Klavier  schlug,  sollten  wir  in  eine  Dampfkutsche  ge- 
setzt werden,  wir  wurden  aber  von  Pferden  gezogen  und 
erstere  stand  schon  gehraucht,  aber  noch  nicht  ganz  prakti- 
kabel, müssig  am  Wege,  ein  lächerliches  Fuhrwerk  mit  einem 
hohen  Schornstein  und  einem  Steuer.  Dann  wurden  wir  wie- 
der in  ein  Dampfschiff  gesetzt,  was  von  Eisen  sein  sollte,  die 
Wände  aber,  an  die  wir  klopften,  waren  von  Holz ;  dann  fuhren 
wir  abermals  eine  Strecke  zu  Lande,  bis  wir  wieder  an  einen 
Loch  Heck  kamen,  da  abermals  in  ein  Dampfboot  abgesetzt 
wurden,  das  uns  zu  endlicher  guter  Letzt  an  ein  letztes  ab- 
gab, an  der  Mündung  des  Clyde,  mit  dem  wir  nach  Glasgow 
den  Clyde  hinauffahren.  Prächtige  Fahrt,  keine  oder  kleine 
Wellen,  Seeörter  am  Fluss  mit  grossen  Seeschiffen,  Möven, 
vorübersausende  Dampfschiffe,  Landhäuser,  ein  Felsen  mit  Dum- 
barton  Castle  und  einem  Blick  in's  Helle,  Weite,  vom  blauen 
thürmenden  Ben  Lomond  stattlich  beschlossen  —  wir  be- 
grüssten  ihn  zum  ei*sten  Mal.  Das  Land  wui'de  flacher  und 
sanfte  Kornfelder  nickten  uns  nach  den  langen,  stolzen,  schwei- 
genden Bergen,  wie  alte  Bekannte  vertraulich  zu,  Alles  war 
dabei  still  und  friedlich.  Dreierlei  Stillen  regieren  hier  über- 
haupt —  in  den  Bergen  rauscht's  voll  Wasser,  aber  es  ist 
ernsthaft  still  —  im  Meere  zwischen  den  Inseln  schlagen  die 
Wellen,  aber  es  ist  trostlos  still  —  in  den  vollen  Ebenen 
fliegen  die  Dampfschiffe,  aber  es  ist  sanft  und  in  Erholung  still 
—  das  erste  sind  wüste  Gesellen,  die  wollen  nichts  lernen 
und  nicht  arbeiten,  das  zweite  sind  abgesetzte  Götter,  die 
schmollen,  das  letzte  sind  fromme  Kinder  nach  gutem  Tage- 
werk. Li  Glasgow  aber  sind  siebenzig  Dampfböte,  von  denen 
täglich  vierzig  auslaufen  und  viele  lange  Schornsteine  dampfen, 
ein  treffliches  Wirthshaus  erquickt  uns,  in  dem  aber  noch  die 
Au%ärter  mit  zwei  Händen  und  ebensoviel  Füssen  bedienen, 
weil's  mit  Dampf  noch  nicht  ausgefonden  ist. 

Am  Uten,  Morgen,  geht's  zum  Loch  Lomond  und  zu  den 
übrigen  Punkten,  die  eigentlich  als  Beilagen  zu  Walter  Scott's 


GlaBgow.  235 

sämmtlichen  Werken  ausgegeben  und  verpackt  werden  sollten. 
Einstweilen  ist  Glasgow  besehen  und  vortrefflich.  Heute  Mor- 
gen waren  wir  in  einer  stupenden  Baumwollenspinnerei  voll 
tollen  Lärmens,  so  vielem,  wie  bei'm  göttlichen  Wasserfall 
von  Monass,  wo  sitzt  denn  der  Unterschied  für's  Ohr?  Eine 
alte  Arbeiterin  bei  dem  Kratzfache  hatte  einen  Baumwollen- 
kranz auf  und  eine  andere  hatte  ihr  Zahnweh  damit  verbun- 
den. Hunderte  von  kleinen  Mädchen  quälen  sich  da  früh  und 
sehen  gelb  aus.  Aber  poetisch  bleibt  solche  Geschichte 
immer.  Die  Ordnung  wird  erhaben  und  das  Ganze  verschlingt 
sich  wie  Jahreszeiten  und  Vegetation.  Ich  spasse  wenig  und 
bewundere  viel  —  die  Zeiten  sind  gamicht  so  schlecht,  wo 
Alles,  es  mag  wollen  oder  nicht,  weiter  muss  und  Bewegung 
ist  die  beste  Verdauung.  Die  Zeit  eilt  schrecklich  und  vom 
Hochland  ist  noch  Alles,  die  Weite  und  die  Enge,  nachzuholen, 
aber  man  ist  zu  weit  voraus,  beste,  ja  noch  bessre  Gedanken- 
und  Briefquadern  haben  wir  aller  Orten  und  Ecken  liegen 
lassen  müssen  und  die  Hochländer  verstehen's  nun  nicht  und 
doch    verdienten    Sie    Alle    unser    Bestes   und    nicht    unser 

Eiligstes." 

Klingemann. 


Felix: 

Auf  einer  Hebride,  den  7.  August  1829. 

„Um  Euch  zu  verdeutlichen,  wie  seltsam  mir  auf  den 
Hebriden  zu  Muthe  geworden  ist,  fiel  mir  eben  Folgendes  bei: 
(Siehe  folgende  Seite.) 


Glasgow,  11.  August. 

„Was  liegt  da  Alles  dazwischen,  die  grässlichste  See- 
krankheit, Staffa,  Gegenden,  Eeisen,  Menschen,  Klingemann  hat 
AUes  beschrieben  und  Dir  werdet  mich  entschuldigen,  wenn  ich 
mich  kurz  fasse,  auch  steht  das  Beste,  was  ich  zu  melden  habe, 
genau  in  den  obigen  Musikzeilen." 


236 


Felix  in  England  1829. 


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Glasgow.  237 

Felix: 

Glasgow,  13.  August. 

,,Hier  ist  denn  das  Ende  unserer  Hochlandsreise  und  der 
letzte  unserer  Doppelbriefe.  Wir  waren  froh  zusammen,  haben 
munter  gelebt,  und  sind  so  vergnügt  durch  die  Gegend  gewan- 
dert, als  ob  der  Sturm  und  Eegen,  von  dem  alle  Zeitungen 
berichten  (und  vielleicht  endlich  auch  die  Berliner),  garnicht 
da  wäre.  Er  war  aber  da,  Wetter  hatten  wii^  dass  die  Bäume 
und  die  Felsen  krachten.  Noch  vorgestern  auf  dem  Loch,  Lo- 
mond  sassen  wir  in  der  tiefen  Dämmerung  auf  einem  kleinen 
Euderboot,  woUten  über's  Wasser  kreuzen,  weil  ein  Lichtchen 
blinkte,  das  uns  einlud,  da  stiess  der  Wind  aus  der  Bergecke 
sehr  rauh  und  heftig,  das  Ding  fing  an  so  arg  zu  schwanken, 
dass  ich  meinen  Mantel  zusammennahm,  um  mich  zum  Schwim- 
men fertig  zu  machen,  dass  aUe  unsere  Sachen  durcheinander 
fielen  und  Klingemann  mich  ängstlich  anfuhr:  „Eühr  dich! 
Rühr  dich!"  Doch  kamen  wir  glücklich  durch,  wie  wir  denn 
überhaupt  Trefier  haben,  mussten  mit  einem  fluchenden,  jungen 
Engländer,  der  halb  Jäger,  halb  Bauer,  halb  Gentlemann  und 
ganz  unausstehlich  war,  sowie  mit  drei  anderen  gleichen  Ka- 
libers in  einem  Zimmer  wohnen  und  in  einem  anderen  Hause 
unter  dem  Dach  schlafen,  so  dass  wir  von  der  Wohn-  zur 
Schlafstube  mit  Regenschirm,  Mantel  und  Mütze  gingen.  Das 
Elend,  die  unwohnliche,  ungastliche  Einsamkeit  des  Landes  zu 
heschreiben  reicht  aber  Zeit  und  Raum  nicht  zu;  wir  wander- 
ten zehn  Tage,  ohne  einem  einzigen  Reisenden  zu  begegnen; 
was  auf  der  Karte  als  Städte  oder  doch  Dörfer  angegeben, 
sind  einzelne  Ställe  nebeneinander,  in  denen  Thür,  Fenster 
und  Schornstein  aus  einer  Oeffnung  bestehn,  die  Menschen, 
Vieh,  Licht  und  Rauch  zugleich  ein-  und  auslässt,  in  de- 
nen Ihr  auf  aUe  Fragen  ein  dürres  „Nein"  hört,  in  denen 
dunstiger  Branntwein  das  einzig  bekannte  Getränk  ist,  ohne 
Kirche,  ohne  Strasse,  ohne  Gärten,  die  Stuben  pechfinster  am 
hellen  Tag,  Kinder   und  Hühner   auf  einem  Strohlager,   viele 


238  Felix  in  England  1829. 

Hütten  ohne  Dach,  viele  noch  unfertig  daliegend,  mit  zer- 
bröckelten Manern,  viele  Brandstellen;  und  diese  Wohnplätze 
sind  nur  sparsam  einzeln  zerstreut  über  das  Land ;  sehr  lange, 
ehe  Ihr  ankommt,  hört  Ihr  von  solchem  Ort  sprechen,  der  Rest 
ist  Haide  mit  rothem  oder  braunen  Kraut,  abgestorbenen 
Fichtenästen  und  weissen  Steinen  dazwischen,  oder  schwarzer 
Moor,  in  dem  sie  Trappen  schiessen.  Dann  ündet  Ihr  auch 
wohl  schöne  Par-ks,  aber  unbesucht,  breite  Seen,  abea:  un- 
beschifft;  die  Landstrassen  verödet,  und  nun  über  alles  das  der 
Glanz  der  reichen  Sonne  gebreitet,  die  die  Haide  tausendfarbig 
verändert  und  alles  so  göttlich  bunt  und  warm  beleuchtet,  und 
die  Wolkenschatten,  die  sich  hin  und  her  jagen.  Es  ist  kein 
Wunder,  wenn  die  Hochlande  melancholisch  genannt  sind. 
Gehn  aber  zwei  Gesellen  so  lustig  durch,  lachen,  wo's  nur 
Gelegenheit  giebt,  dichten  und  zeichnen  zusammen,  schnauzen 
einander  und  die  Welt  an,  wenn  sie  eben  verdriesslich  sind, 
oder  nichts  zu  essen  gefunden  haben,  vertilgen  aber  alles 
Essbare  und  schlafen  zwölf  Stunden:  so  sind  das  eben  wir  und 
vergessen  es  im  Leben  nicht." 


Klingemann: 

Glasgow,  14.  August. 

^Mein  Gegenüber  hat  nicht  allein  die  Seite,  sondern  auch 
das  Hochland  so  gründlich  beschrieben,  dass  ich  mich  schäme, 
anzufangen  und  höchstens  ein  Stück  Oatcahe^)  liierher  nageln 
möchte,  als  schlagendes  Aktenstück  und  niederschlagendes 
Wahrzeichen,  ünvergessliches  Land!  das  Gedächtniss  der 
Nase  ist  bekannt,  und  so  gut  wie  Walt**)  Aurikelngeruch 
nicht  vergessen  konnte,  wird  der  Hochlandsgeruch  in  uns  fort- 
wohnen —  eine  gewisse  räucherige  Atmosphäre,  die  jeder 
Bergschotte  um  sich  hat.  Ich  schloss  unterwegs  einmal  die 
Augen  und  meldete  darauf,   fünf  Hochländer  seien  vorüberge- 


♦)  Hafermehlbrot.    **)  Flegeljahre  von  J.  PauL 


Schilderung  des  Hochlands.  239 

gangen  —  meine  Nase  hat's  gesehen.  Die  Häuserzahl  dort 
ist  gleichfalls  danach  bequem  zu  bestimmen.  Im  Uebrigen  ist 
das  Land  gar  so  übel  nicht,  wie  es  gewisse  Leute  aus  grossen 
Residenzen  machen  wollen,  —  es  hat  sich  fast  ausschliesslich 
aufs  Bergfach  gelegt  und  leistet  doch  darin  Einiges  —  Abends, 
wenn  es  dunkel  wird  und  der  Stunn  sich  aufmacht,  findet  man 
doch  ein  Wirthshaus  mit  Betten  und  einen  Raum,  den  man 
nicht  gerade  mit  den  Viehtreibem  zu  theilen  braucht,  sondern 
mit  schiessenden  John  Bulls  —  läuft  auch  mal  ein  Huhn  durch 
die  Stube,  schreit  auch  mal  unt^r  uns  ein  Schwein,  so  beweist 
das  doch,  dass  man  am  nächsten  Morgen  ein  frisches  Ei  und 
etwas  Schinken  zum  Fiühstück  haben  wird,  —  stösst  der 
Karren,  auf  dem  man  ächzt,  auch  etwas  mörderlich,  so  ist  das 
doch  nur  etwas  mehr  Aufmunterung  zum  Fusswandem,  —  findet 
sich  auch  gerade  kein  industriöser  Kerl,  der  die  Sachen  trägt, 
wenn  man  gern  zu  Fuss  gehen  will,  so  ist  das  nur  ein  freund- 
licher Wink,  dass  man  sich's  bequem  machen  möge  und  fahren 
—  hat  man  einmal  nichts  weiter  als  frischen  Hering  und  schöne 
fette  Sahne,  so  bedeutet  das  den  patriarchalischen  Urzustand, 
den  wir  Neueren  immer  im  Munde  haben  —  machen  die  Leute 
etwas  ungeschickt  Anstalten  zu  Mehrerem,  mit  versetztem  Wein 
und  übersetzten  Rechnungen,  so  ist  das  doch  ein  erfreulicher 
Ansatz  zur  Kultur,  sowie  überhaupt  die  einzelnen  Wirthshäuser, 
die  auf  den  Karten  als  Städte  aufgeführt  sind,  wohl  nichts 
weiter  vorstellen,  als  eben  Samenkörner  zu  jenen,  hier  und  da 
iR  die  weite,  breite  Moorerde  gesteckt,  die  schon  einmal  auf- 
laufen werden.  — 

Und  nun  kamen  wir  heraus  aus  den  Hochlanden,  denn 
wir  sehnten  uns  nach  der  warmen  Sonne,  die  wir  seit  Tagen 
nicht  gesehen,  wir  wiegten  uns  in  gutem  Fuhrwerk,  das  wir 
lange  nicht  gekostet,  durch  ebene  Gegend  und  muntere  Dörfer, 
in  denen  wir  lange  nicht  gewesen,  die  Sonne  schien  draussen 
wirklich  im  blauen  Himmel,  nur  über  dem  Hochlande  lagen 
noch  schwarze  Wolken,  je  länger  und  öfter  wir  aber  zurück- 
schauten, desto  blauer  und  duftiger  wurden  die  Berge,  zu  deren 
Füssen  wir  gelegen,  alle  tiefen  Farben  spielten  und  wir  hätten 
sehnsüchtig  werden  und  uns  nach  ihnen  zurückwünschen  mögen, 


240  Felix  in  England  1829. 

wenn  wir  nicht  gewnsst  hätten,  dass  es  drinnen  doch  grau 
und  kaltmajestätisch  hergehe.  Anf  alle  Fälle  war's  aber  doch 
ein  süsses  Ade  von  jenen  Höhen,  die  wir  verlänmden  nnd 
lieben."  — 


Felix: 

19.  August,  Liverpool. 

„Da  flog  man  weg  von  Glasgow,  oben  auf  der  Mail,  zehn 
Meilen  die  Stunde,  durch  Wiesen  und  Schornsteine,  die  beide 
dampfen,  in  die  Cumberland-Seen,  nach  Keswick,  Kendal,  den 
niedlichsten  Städten  und  Dörfern,  das  ganze  Land  ist  wie  eine 
Wohnstube,  Felswände,  aber  wohltapeziert  mit  Büschen,  Moos 
und  Tannen,  die  Bäume  sorgfältig  in  Epheu  gewickelt,  keine 
Mauern  oder  Zäune,  nur  hohe  Hecken,  und  diese  bis  auf  die 
flachen  Berggipfel  hinauf,  von  aUen  Seiten  fliegen  Wagen  mit 
Eeisenden  über  den  Weg,  Korn  steht  in  Garben  aufgepflanzt, 
und  Abhänge,  Hügel,  Schluchten,  alles  mit  dem  warmen,  dicken 
Grün  bedeckt,  darauf  gleich  wieder  die  dunkelblaue  engUsche 
Ferne,  manche  alte  Adelsburg  dazwischen,  so  ging's  bis  Am- 
bleside,  da  wurde  der  Himmel  wieder  finster.  Regen  und  Sturm, 
wir  aussen  auf  der  Stage^  durch  die  Hohlwege,  an  den  Seen 
vorbei,  bergauf,  bergab  wie  toU  jagend,  so  in  die  Mäntel  und 
Schirme  gehüllt,  dass  wir  nur  die  vorüberfliegenden  Gitter, 
Steinhaufen  oder  Gräben  zählen  konnten,  dann  wieder  hinaus- 
guckend auf  veränderte  Berge  und  Seen,  mit  den  Regen- 
schirmen an  die  Häuserdächer  zuweilen  anstossend,  durch  und 
durch  nass  in  ein  schlechtes  Wirthshaus  mit  hohem  Kaminfeuer 
und  englischen  Gesprächen  von  Fussgehen,  Steinkohlen,  Abend- 
brot, Wetter  und  Bonaparte  handelnd,  dann  gestern  durch  Zu- 
fall auf  getrennten  Ä^ay^plätzen,  so  dass  ich  Klingemann  kaum 
sprach,  denn  in  vierzig  Sekunden  ist  umgespannt,  ich  auf  dem 
Bock  neben  dem  Kutscher,  der  mich  frug,  ob  ich  viel  die  Cour 
machte  und  sich  Manches  erzählen  liess,  während  ich  die  Pferde- 
sprache von  ihm  lernte,.  Klingemann  neben  zwei  alten  Weibern, 
denen  er  ein  Stück  Schirm  abtrat,  wieder  Fabriken,  Wiesen, 
Parks,  Landstädte,  hier  ein  Canal,  da  eine  Eisenbahn,  dahinter 


Liverpool.  241 

das  Meer  mit  ScMffen,  sechs  volle  Kutschen  mit  anfgethürmten 
Menschen  nacheinander,  Abends  dicker  Nebel,  die  Stages  rasen, 
wenn's  dnnkel  wird,  durch  den  Nebel  am  Horizont  weit  und 
breit  Laternen  zerstreut,  Windmühlenflügel,  Fabrikenrauch  von 
allen  Seiten,  einzelne  Herren  zu  Pferde  vorübersprengend,  das 
erste  StagehoTR  tutet  iu  b-,  das  zweite  in  d-dur,  noch  andre  aus 
der  Feme  hinterher,  und  da  sind  wir  nun  iu  Liverpool.  — 

Heut  Abend  geht  Klingemann  nach  London,  ich  nach  Holy- 
well,  die  Schottische  Reise  ist  vorüber,  es  geht  Alles  sehr 
schnell,  viel  ist  mir  seit  Kurzem  vorbeigezogen  und  es  steht 
noch  nicht  stül.  Wir  gehn  nun  auseinander  und  legen  schöne 
Zeit  zur  Vergangenheit."  — 


Klingemann: 

Liverpool,  19.  Aug.,  Abends  halb  zehn. 

„Um  zehn  Uhr  ist  das  Vergnügen  aus,  ich  setze  mich, 
nachdem  sich  zwei  nachdenkliche  Reisegesellen  auseinander- 
gesetzt, auf  die  Maü  und  fahre  nicht  fort,  wie  ich  gewollt, 
im  Briefe,  sondern  nach  London!  Darum  hier  kurzer  warmer 
Abschied  von  Doppelcorrespondenzgenossen  und  all'  dem  grünen, 
bergigen  Durcheinander,  nach  einem  Tage,  wie  dem  heutigen, 
im  Städtchen  Liverpool,  wo  wir  uns  auf  Börse  und  im  Hafen, 
auf  neuen  Kirchhöfen  und  in  Rathhaussälen  haben  herumtreiben 
müssen  und  sogar  noch  für  unser  Dinner  zu  guter  Letzt  im 
Dampfboot  über  die  rauhe,  regnigte  Mersey  schiffen,  von  wo 
wir  eben,  in  dunkler  Kajüte  sitzend,  zwischen  unsichtbaren, 
schweigenden,  schwatzenden,  angetrunkenen,  nüchternen  Liver- 
poolern zurückkommen,  und  mit  Packen  und  Berechnen  den 
vierwöchentlichen  nassen  aber  tapfem  Festtag  ausläuten.  So 
mögen  denn  die  Glocken  kHngen  und  stille  fortbrummen,  bis 
das  wunderliche  Schicksal  sich's  'mal  wieder  in  den  Kopf  setzt, 
Leute,  Gott  weiss  wie,  auseinanderzubringen  und  Gott  weiss 
wo  zusammenzuführen.  Auf  einem  närrischen  Umwege  reden  sich 
Leute,  die  sich  auf  mehr  wie  eine  Weise  gegenübersitzen,  an, 

Die  Familie  Mendelssolm.  L  16 


242  Felix  in  England  1829. 

wenn  sie  sich  in  einem  Doppelbrief  anschreiben  und  etwa  sagen: 
Gottlohn  und  schönen  Dank  für  geleistete  gute  Gesellschaft! 
Wir  zogen  in  der  That  ehi'lich  und  wacker  genug  durch  Hoch- 
und  Tieflande,  wehe  aber  all  den  schlechten  Inn's  und  alle 
den  Regenschauern,  die  uns  so  oft  zum  Schweigen  gebracht 

haben! Basta!    Felix  beneidet  mich  jetzt  um  das  elende 

Fleckchen  Platz,  was  ich  noch  habe,  weil  ich  nun  unter  vielen 
andern  pikanten  Dingen  noch  das  herausheben  kann,  wie  wir 
heute  an  Bord  eines  amerikanischen  Schiffes  waren,  von  New- 
York,  das  „Napoleon"  heisst,  und  auf  dem  sich,  ausser  allem 
erdenklichen  Mahagonicomfort,  auch  ein  Piano  von  Broadwood 
befand,  zum  Trost  für  lange  See-Augenblicke,  und  wie  er,  im 
Hafen  von  Liverpool,  unfern  des  Atlantischen,  sich  hinsetzte 
und  mir  aus  dem  ersten  Satz  Ihrer  Ostersonate,  o  Fräulein 
Braut,  vorspielte,  von  der  wir  früher  bloss  gesprochen,  —  die 
kalte  Luft  wehte  dazu  von  oben  herein,  und  Matrosen  sangen 
von  Weitem  zur  Ai'beit  ein  eintönig  Moll-Lied.  —  Adieu.  — " 


Felix: 

LI  angollen,  den  25.  Aug.  29. 

„Nur  keine  Nationalmusik!  Zehntausend  Teufel  sollen 
doch  alles  Volksthum  holen!  Da  bin  ich  hier  in  Welschland, 
und,  0  wie  schön,  ein  Harfenist  sitzt  auf  dem  Flur  jedes  Wirths- 
hauses  von  Ruf  und  spielt  in  einem  fort  sogenannte  Volks- 
melodieen,  d.  h.  infames,  gemeines,  falsches  Zeug,  zu  gleicher 
Zeit  dudelt  eben  ein  Leierkasten  auch  Melodieen  ab,  zum 
ToUwerden  ist  es,  Zahnschmerzen  habe  ich  leider  davon;  die 
Schottischen  Dudelsäcke,  die  Schweizer  Kuhhörner,  die  Wel- 
schen Harfen,  die  alle  den  Jägerchor  mit  Variationen  als 
Improvisationen  von  grässlicher  Art  vortragen,  ferner  die 
schönen  Gesänge  auf  dem  Flur,  überhaupt  alle  ihre  reelle 
Musik!  Es  ist  über  die  Begriffe!  Wenn  man  wie  ich  Beet- 
hoven's  Nationallieder  nicht  ausstehen  kann,  so  gehe  man  doch 
hierher  und  höre  diese  von  kreischenden  Nasenstimmen  ge- 


Schlimme  Musik. 


243 


grölilt,  begleitet  von  tölpelliaften  Stümperfingern,  und  schimpfe 
nicht.  Während  aller  dieser  Zeilen  spielt  der  Kerl  auf 
dem  Flur: 


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und  das  varürt  er  und  dazwischen  spielt  der  Leierkasten  ein 
geistliches  Lied  aus  Es-dur.  Ich  werde  toll  und  muss  das 
Schreiben  auf  nachher  lassen.  —  — 

D.  26.  Aug.  Und  daran  that  ich  auch  Eecht;  icb  ging 
in  Verzweiflung  gestern  Abend  zu  den  drei  Wirthstöcbtern, 
die  ein  Klavier  haben,  und  bat  sie,  mir  darauf  etwas  vorzu- 
spielen; sie  sind  recht  hübsch  und  thaten's,  Leiermann  und 
Harfenist  (letzterer  ist  übrigens  zugleich  der  Barbier,  wie  ich 
heut  früh  sah)  verstummten,  die  Töchter  orgelten  los,  ich  war 
selig,  die  mttette  de  Fortid,  einige  Quadrillen  thaten  mir  wohl, 
nachher  baten  sie  mich,  sie  zu  „begünstigen"  und  darauf  be- 
günstigte ich  denn  nach  Herzenslust,  raste  umher  und  spielte 
mir  Zahnschmerzen  fort;  der  Abend  war  ganz  angenehm  und 
ich  kam  zu  spät,  um  zu  schreiben,  nach  meinem  Zimmer  zurück. 
Dazu  war  ich  gestern  auf  einen  hohen  Berg,  mit  den  Trüm- 
mern einer  Nonnenburg  auf  seinem  Gipfel,  geklettert,  hatte 
mich  von  da  weit  umgesehen,  in  die  blaue  Ebene,  und  in 
dunkle,  einsame  Thäler  am  Fuss;  war  gleich  in  eins  dieser 
stillen  Thäler  hinabgestiegen,  in  dem  die  Mauern  und  Fenster 
einer  alten  Abtey  von  zarten  grünen  Bäumen  verdeckt  und 
ausgefüllt  werden,  die  Abtey  liegt  am  lärmend  laufenden  Bach, 
Berg-  und  Felssteine  liegen  umhergestreut,  der  Chor  der  Kirch© 

16* 


244  Felix  in  England  1929. 

ist  znm  Stall,  der  Altar  zur  Küche  verwandelt,  über  die 
Spitzen  der  Fensterzierrathen  ragen  weit  die  Gipfel  der  Buchen, 
die  im  sonstigen  Kapitel  stehen,  und  der  Himmel  war  ruhig 
grau;  ich  componirte  ein  wenig,  statt  zu  zeichnen  in  Hensel's 
Weihnachtsbuch ;  es  war  ein  hübscher  Tag. 

Blauer  Himmel  und  Sonnenschein  thuen  mir  herzinnig 
wohl  und  sind  mir  so  unentbehrlich !  Hier  sind  sie  nicht.  Das 
macht  mich  eigentlich  ernsthaft  oder  fast  betrübt.  Der  Sommer 
ist  fort,  und  ohne  einen  Sommertag  gesendet  zu  haben.  Gestern 
war  ein  guter  Tag,  d.  h.  ich  wurde  nur  dreimal  nass,  behielt 
den  Mantel  fortwährend  um  die  Schultern  und  sah  die  Sonne 
ein  paarmal  durch  die  Wolken;  von  schlechten  Tagen  nun 
hat  man  keine  Vorstellung;  ein  wüthend  pfeifender  Sturm  weht 
mit  wenig  Unterbrechung  seit  vier  Wochen,  dazu  fallen  die 
Wolken  herunter  und  würden  schrecklich  regnen,  wenn  der 
Sturm  sie  ruhig  fallen  Hesse ;  der  fängt  sie  aber  auf,  wirft  sie 
in  der  Luft  umher,  peitscht  sie  als  Wasserstaub  in's  Gesicht, 
es  ist  nichts  dagegen  zu  thun,  als  still  in  den  Häusern  liegen 
zu  bleiben;  statt  der  sonstigen  munteren  Eeisegespräche  hört 
Ihr  um  Euch  nur  einzelne  verdriessliche  Worte:  seit  Menschen- 
gedenken, oder  überschwemmter  Weg,  oder  Ausbleiben  der 
Posten  und  Schiffe,  verdorbener  Eeiseplan.  Und  so  ist  auch 
meiner  nun  verdorben,  heut  wollte  ich  den  letzten  Versuch 
machen,  und  im  Fall  blauer  Himmel  wäre,  noch  einmal  in  die 
Berge  gehen,  aber  es  ist  wieder  der  Regensturm  oder  Sturm- 
regen und  ich  gebe  es  heute  auf.  Die  Eeise  nach  Irland  ging 
mir  in  Bangor  und  auf  der  Insel  Anglesea  zu  nichte,  trotz 
aller  Nässe  dacht  ich  noch  daran,  es  auf  ein  Paar  Tage  drüben 
zn  versuchen;  da  kam  aber  das  Dampf boot,  war  statt  sechs 
Stunden  fünfzehn  gegangen,  und  wie  die  einzelnen  seekranken 
Passagiere  nass,  schwach  und  fluchend  umherwankten,  da  liess 
ich  mich  zur  Kutsche  in's  Land  einschreiben.  Ich  habe  mit 
dem  Wetter  gekämpft,  wie  man  nur  kann,  bin  fast  täglich 
bis  auf  die  Haut  durchnässt  gewesen,  habe  die  Berge  gesehen 
wie  Möbel,  Kronleuchter  und  Teppiche  eines  alten  Palastes, 
mit  grauen  Leinwandüberzügen  zugedeckt,  nur  einzelne  Pracht- 
spitzen unverhüllt,  nun  aber  ist  es  aus.    Morgen  geh  ich  zu 


Abschied  von  Klingemann.    Liverpooler  Tannel.  245 

meiner  Familie  auf  s  Land  (siehe  unten)  und  Mitte  der  nächsten 
Woche  bin  ich  wieder  in  London. 

Dazwischen  stehen  aber  zwei  helle,  frohe  Tage  wie  Son- 
nenschein, und  sonderbar,  dass  alles  so  anders  kommt,  als  man 
sich's  ausmalt,  es  waren  grade  die  beiden  ersten,  wo  ich  so 
ganz  aUein,  ganz  in  der  Fremde  war.  Am  Abend,  wo  ich  den 
vorigen  Brief  schrieb,  hatte  Klingemann  gepackt,  sich  fertig 
gemacht  und  ich  begleitete  ihn  in  der  Nacht  durch  den  rasen- 
den Regensturm  nach  dem  Posthause,  er  stieg  aufs  Deck,  wir 
sprachen  noch  einzelne  deutsche  Worte  herab  und  hinauf,  dann 
stiess  der  guard,  gräulich  in  die  Trompete,  die  stage  rasselte 
ab,  mir  kam  London  so  heimisch  vor,  als  sei  es  die  Vaterstadt, 
und  ging  nun  allein  in  die  leere  Stube  durch  den  Regen  zurück 
und  legte  mich  im  Zimmer  mit  zwei  Betten  schlafen ;  aUes  das 
war  noch  vor  einer  Viertelstunde  anders  gewesen,  kurz,  denkt 
Euch  den  schlechtesten  Abend  und  Ihr  kommt  nicht  an  die 
Wirklichkeit.  Dazu  schlechte  Wirthsleute,  theure  Rechnungen, 
eine  verunglückte  Zeichnung  und  dergleichen  Kleinigkeiten.  — 
Am  andern  Morgen  reiste  ich  erst  um  Zwei  ab,  ging  also  doch, 
um  etwas  zu  thun,  nach  der  Eisenbahn,  die  nach  Manchester 
fünfunddreissig  Meilen  weit  führt,  und  kam  an  die  beiden 
Tunnels,  fing  an  spazieren  drin  zu  gehen  und  wie  ich  vom 
grossen  das  Ende  durchaus  nicht  absehen  konnte,  imponirte  mir 
das  Ding  ein  wenig,  ich  redete  den  Aufseher  an  und  brachte 
ihn  endlich  durch  Vorstellungen  und  Bitten  dahin,  dass  er  mir 
einen  Wagen  erlaubte,  um  unter  Liverpool  durch  bis  an  den 
Hafen  zu  fahren;  der  schwere  Wagen  kam,  hinten  auf  stieg 
ein  Arbeiter  und  los  ging's,  fünfzehn  Meilen  in  der  Stunde  war 
die  Geschwindigkeit,  kein  Pferd,  keine  Maschine  ist  da,  der 
Wagen  läuft  von  selbst  und  treibt  sich  nach  und  nach  zur 
tollsten  Schnelligkeit ;  das  kommt,  weil  es  ein  wenig,  ganz  un- 
merklich, bergab  geht,  zwei  Lichter  brannten  vorne,  das  Tages- 
licht verschwand,  der  Zug  blies  die  Lichter  aus  und  nun  war 
dichte  Finsterniss,  ich  habe  zum  ersten  Male  in  meinem  Leben 
nichts  gesehen,  dazu  raset  der  Wagen  immer  schneller  und 
rasselt  stärker,  es  war  etwas  für  meinen  Magen.  In  der  Mitte 
des  Ganges  kamen  wir  an  einem  Kohlenfeuer  vorbei,  da  hielt 


246  Felix  in  England  1829. 

der  Arbeiter  still  und  steckte  sich  eine  Lampe  an,  streng 
kalt  war  es  auch  im  Gang,  dann  kam  das  rothe,  warme  Ta- 
geslicht von  fern  geströmt  und  ich  stand  am  Hafen,  als  ich 
herausstieg.  Es  stärkte  mich  sehr,  und  als  ich  auf  dem  Heim- 
weg durch's  Marktgebäude  ging,  so  wurde  ich  vergnügt.  Dies 
ist  nur  ein  leichtes  Fachwerkgebäude,  aber  viel  grösser  als  die 
katholische  Kirche,  mit  ganz  niedrigem  Dach,  drin  laufen  in 
der  ganzen  Eeihe  etwa  acht  Reihen  Büffets,  die  mit  auf- 
gethürmten  Früchten,  Fleisch,  Gemüse,  Kuchen  beladen  sind, 
so  dass  ein  langer  weiter  Spaziergang  zwischen  Victualien- 
aUeen  sich  aufthut ;  Menschen  aller  Art  wimmeln,  viel  Schwarze, 
Amerikaner,  Italiener,  Welschsprechende,  Marineofficiere,  unzäh- 
lige hübsche  Köchinen,  in  der  Mitte  hängt  eine  grosse  Uhr,  an  den 
Wänden  Pläne  von  Liverpool;  ich  wui'de  lustig  und  fuhr  nach 
ehester.  Unterwegs  überlegte  ich  mii%  was  mir  schon  lange 
im  Kopf  gelegen  hat,  ob  es  nämlich  auch  ganz  recht  sei,  dass 
ich  so  auf's  Gerathewohl,  ohne  eigentlichen  Zweck,  nur  für's 
Plaisir,  schon  seit  vier  Wochen  umherführe  und  viel  Geld  und 
Zeit  ausgäbe.  Die  Idee  hatte  mich  melu-mals  seit  einigen  Ta- 
gen verdriesslich  gemacht.  Da  sagte  ich  mir  aber,  dass  ich 
etwas  sähe,  was  ich  nie  wieder  sehen  würde,  dass  ich  mir 
England  frei  und  ohne  Geschäftsideen  anguckte,  dass  diese 
Unabhängigkeit  nüi-  hier  nicht  noch  einmal  werden  könnte, 
denn  wenn  ich  wieder  komme,  so  hab  ich  zu  viel  zu  thun,  als 
dass  ich  so  munter  umherfahi^en  könnte;  und  da  ich  wohl  nie 
wieder  einen  Sommer  liier  zubringe,  da  mir  Schottland  sehr 
unvergesslich  ist,  da  ich  noch  nie  Zeit  habe  verloren  nennen 
können,  in  der  ich  froh  und  erfrischt  war  (und  wenn  ich  faul 
war,  so  war  ich  eben  nicht  froh),besonders  aber  da  mir  manches 
Neue  sich  im  Kopf  zusammenbaut,  was  mir  beweist,  dass  ich 
die  Fischblütigkeit  der  Gesellschaften  und  Menschen  in  London 
verdaut  habe,  und  dass  ich  wieder  loscomponiren  muss,  Avoran 
ich  zuletzt  halb  verzweifelte,  so  warf  ich  die  Verdriesslichkeit 
weg  und  sprach  mich  fast  los !  (Es  ist  nun  die  Frage,  ob  Du, 
lieber  Vater,  es  auch  thust?)  —  Nun,  und  dann  wurde  ich 
froh,  und  in  ehester  war  ein  heiterer  Augenblick;  auf  den 
dicken,  breiten  Stadtmauern  läuft  ein  Spaziergang  um  die  Stadt, 


ehester.    Coed  Du.  247 

oben  sah  ich  eme  Mädchenpension  gehen,  ich  mit  meinen 
Zeichenbüchern  hinterher,  die  Mädchen  waren  ganz  hübsch,  die 
Ferne  sehr  blau,  die  nahen  Häuser  und  Thürme  dunkelbraun, 
Abends  regnete  es  leise  und  in  der  Dunkelheit  jagten  wir  nach 
Holywell.  Mein  Nachbar  sprach  viel  von  seinem  jüngst  ge- 
storbenen Sohn  und  lud  mich  ein  (ich  komme  auch  und  er 
weiss  noch  nicht  meinen  Namen),  dunkle  Klumpen  auf  beiden 
Seiten  versprachen  Hohlwege,  Bäume  und  Berge,  und  ich  legte 
mich  zu  Bette,  nachdem  ich  dem  Jungen  befohlen,  morgen  ja 
mit  dem  Frühesten  nach  der  Post  zu  gehen.  Der  weckte  mich 
drauf  mit  Briefen,  die  mir  den  vergnügtesten  Tag  bereiteten;  ich 
erhielt  einen  lieben  von  Droysen,  dem  Ihr  meine  Freude  und 
meinen  Dank  vorlesen  müsst  und  den  Eurigen,  voll  Plaisir  und 
Mühlenfels!  —  Der  Gedanke,  dass  Vater  vielleicht  nach  Lon- 
don kommen  könnte,  machte  mich  fast  toll  vor  Lust;  lieber 
Vater,  wenn  Du  kämst!  die  Stadt  solltest  Du  gut  sehen,  ich 
wollte  sie  zeigen,  und  wie  würdest  Du  sie  lieben!  Das  sagten 
Klingemann  und  ich  schon  immer  zu  einander;  Du  sagst,  Du 
brauchest  Erregungen;  bei  Gott,  das  ist  eine;  ich  will  garnichts 
mehr  sagen,  sonst  vergesse  ich  das  üebrige.  Aber  wenn  es 
wäre !  —  Eben  das  nun,  und  die  ganzen  Briefe  machten  mich 
so  vergnügt  und  glücklich  und  heimisch  in  der  Einsamkeit;  da 
fuhr  ich  denn  nun  hinaus  zu  Taylors,  um  mich  für  übermorgen 
anzusagen;  die  wohnen  da  im  Landhause,  das  auf  weitem, 
geschornem  Grasplatze  zwischen  Blumen  steht,  Bewegung,  Lärm, 
Menschen  sind  nirgends,  in  der  Ferne  die  Bergwerke,  denen 
der  Vater  vorsteht.  Berge  überall,  und  nun  kam  ich  zu  Fuss 
durch  die  Wiesen  und  fand  die  elegante,  förmliche  Londoner 
Familie,  aber  wie  verwandelt:  Vater  und  Bruder  waren  verreist 
never  mind^  zwei  Töchter  pflanzten  im  Garten,  die  Mutter  ritt 
zu  Ese^  hei  me  wurde  Hand  geschüttelt,  die  hübscheste  Toch- 
ter vermisste  ich ;  auf  dem  Spaziergang  hörten  wir  aber  Pferde 
trappeln,  und  gleich  darauf  kam  selbige  an  in  einem  blauen 
Reitkleid,  und  ein  langer  Cousin  hinter  ihr;  sie  war  ausser 
Athem,  sehr  hübsch  und  heisst  Susanna.  Den  Cousin  fing  ich 
an  zu  hassen  —  bis  sichs  fand,  dass  er  sich  ein  Vergnügen 
draus  machte,  mit  mir  nach  Wales  zu  reisen ;  das  nahm  ich  an. 


248  Felix  in  England  1829. 

wir  schlössen  ewige  Freundschaft  (aber  auf  Englisch,  denn  er 
versteht  kein  Französisch  und  gar  Deutsch!)  und  aUes  wurde 
verabredet.  Als  ich  drauf  den  guten  englischen  Flügel  da  fand 
und  mir  manches  darauf  vorspielte,  als  besagte  Reiterin  mir  ihr 
Gartenhaus  (sie  hat  eins  von  Tannenborke  im  Park)  versprach, 
um  drin  bei  meiner  Rückkehr  zu  komponiren,  wofür  ich  ilir 
versprechen  musste,  selbiges  Rindenhaus  zu  zeichnen  (es  ist  so 
eine  Art  Länmierei  im  beliebten  Genre),  als  zum  Essen  die 
Mädchen  alle  mit  weissen  Kleidern  erschienen,  für  die  ich  eine 
entschiedene  Vorliebe  habe  (ob  die  auf  Mädchen  oder  Kleider 
geht,  bleibt  unentschieden),  als  ich  mir  drauf  in  der  Dämmerung 
beim  Kaminfeuer  wieder  etwas  vorspielte  und  dann  Nachts  nach 
Holywell  zurückfuhr,  so  schlief  ich  natürlich  im  Wagen  ein, 
träumte  aber  Angenehmes.  Das  waren  die  zwei  Sonnentage. 
Den  Morgen  drauf  war  wieder  Regensturm,  doch  reisten  der 
Engländer  und  ich  ab,  schliefen  die  Nacht  am  Meere  in  Bangor 
(Wales  ist  ein  schönes  Land,  aber  das  Format  ist  so  klein, 
dass  ich  mündKch  die  Beschreibung  Hefem  muss),  den  nächsten 
Tag  über  Caernawon  nach  Beddgellert  und  dem  Thal  von 
Festiniog,  dann  nach  Capel  Carrig,  endlich  gestern  nach  Corwen, 
wo  er  nach  dem  Landgut  (es  heisst  Coed  Du)  zurück  und  ich 
hierher  ging.  Wir  haben  uns  recht  gut  vertragen  und  viel 
conversii't;  hätte  er  mich  nicht  einmal,  als  ich  Fanny's  erstes 
Lied  „Hören  möcht  ich"  auf  der  Stage  sang,  beim  Aermel  ge- 
zupft und  mir  einen  Lachsfang  gezeigt,  wo  man  die  dicksten 
Lachse  fängt,  so  hätte  ich  ihn  nie  angefahren  oder  angebrummt. 
Diese  Lieder  aber  sind  schöner,  als  gesagt  werden  kann.  Ich 
spreche  bei  Gott  als  kalter  Beurtheüer  und  finde  sie  sehi'  hübsch. 
Aber  es  giebt  doch  wirklich  Musik,  die  ist,  als  ob  die  Quintes- 
senz aus  der  Musik  genommen  wäre,  als  ob  es  die  Seele  von 
der  Musik  wäre.  So  die  Lieder.  0  Jesus!  Besseres  kenne 
ich  nicht!  Aber  lebt  wohl!  Wohin  ich  heut  gehe,  nach  Osten, 
Westen  oder  Nord,  ist  noch  nicht  ganz  gewiss,  vielleicht 
bleibe  ich  gar  sitzen,  es  regnet  zu  sehr.  Doch  ist  dies  der 
letzte  Reisebrief,  denk' ich,  der  nächste  kommt  aus  London, 
dem  Rauchnest.  —  Betrachte  ich  meine  heutigen  Thaten,  so 
sage  ich  mit  Vater  zu  mir  selbst:  Donde  diavolo  etc.  Nehmt's 


Englisches  Landleben.    .  249 

auf,  wie  ich's  lunschreibe  und  seid  mir  gegrüsst.  Sonderbar 
ist's,  dass  der  Tag,  an  dem  Ihr  Euem  Brief  schriebt,  wo  im 
Grarten  die  Sonne  schien  und  Ihr  mir  Gleiches  wünschtet,  einer 
der  wenigen  hellen  Tage  auch  für  uns  war.  Guten,  frohen, 
heitern  Morgen  denn  Euch  Allen!" 

Felix. 

Coed  Du,  den  2ten  Sept.  29. 
„An  die  Schwestern  will  ich  ihn  richten,  habe  meine  Gründe 
dazu;  es  ist  der  Wendepunktsbrief  für  dies  Jahi^,  denn  von 
nun  an  werden  sie  posttäglich  näher  und  näher  adressirt,  bis 
sie  ganz  aufhören;  dies  der  eine;  es  ist  eben  nichts  Wichtiges. 
Ernsthaftes,  Geschäftsmässiges  zu  berichten,  sondern  mehr  von 
Gärten,  Zeichnen,  Länmiern,  dies  der  andere ;  und  zum  ersten 
Mal  seit  Deutschland  bin  ich  wieder  mal  herzlich  und  zutrau- 
lich mit  Menschen  zusammen  und  freue  mich  ihrer  und  denke 
Eurer:  dies  der  Hauptgrund.  Denn  viel  ist  von  Euch  Schwes- 
tern hier  die  Eede,  sie  machen  Euerm  Bilde  schrecklich  die 
Cour  und  kennen  Euch  sehr  gut  mit  Vornamen  und  allem  und 
ich  beschreibe  Euch  pünktlich.  Zwar  hätte  ich  Euch  alles  dies 
schon  von  London  aus  schreiben  können,  denn  wie  ich  im  letzten 
Brief  meldete,  werde  ich  gegen  Ende  dieser  Woche  da  sein; 
weil  ich  aber  nicht  weiss,  wie  viel  Zeit  und  Lust  die  schnelle 
Eeise  und  vieles  andere  bei  meiner  Ankunft  in  London  zum 
Schreiben  lassen  werden,  weil  ich  zweifle,  dass  ich  Euch  so 
heiter  von  da  aus  anreden  kann,  wie  ich  es  nun  gerade  jetzt 
mag,  so  ist  es  besser,  dass  ich  den  Brief  noch  von  hier  aus 
schicke,  wenn  er  auch  ein  Paar  Tage  älter  ist;  hier  nämlich 
ist  Coed  Du,  das  Landgut  in  England.  Den  Tag  meines  letzten 
Briefes  aus  Llangollen  fuhr  ich  allein  in  der  Mail  durch  furcht- 
baren Eegen;  ging  dann  zu  Fuss  in's  Thal  von  Llanrust  und 
fuhr  im  offenen  Wagen  nach  Conway,  wo  ich  so  nass  ankam, 
wie  ich  vielleicht  noch  nie  in  meinem  Leben  gewesen  bin.  Den 
folgenden  Tag  fuhr  ich  nach  Holywell,  wo  ich  Briefe  von 
Euch  erwartete  und  keine  fand;  ich  kam  nasser  an,  als  den 
vorigen  Tag,  diesmal  war  meine  Stube  schlecht,  der  Kopf 
brummte  mir  vom  Sturm,  die  gehofften  Nachrichten  von  Hause, 


250  Felix  in  England  1829. 

an  denen  icli  immer  einen  Tag  lang  kaue  und  zehre,  blieben 
aus,  das  Kamin  rauchte,  kui-z  so  behaglich  ich  es  das  erste 
Mal  im  Wirthshaus  fand,  so  unbequem  langweüig  war  es  das 
zweite  Mal  und  wie  ich  denn  überhaupt  alle  Zweitenmale  hasse 
oder  fürchte,  so  zitterte  ich  vor  der  Rückkehr  nach  Coed  Du. 
Dazu  hatte  ich  nichts  zu  lesen,  weil  der  erste  Theil  von  Guy 
Mannering,  den  ich  mir  in  der  neuen  Fünf-Schilling-Ausgabe 
kaufte,  zu  Ende  war  und  der  zweite  erst  heut  in  London  er- 
scheint; nahm  also  die  Zeitungen  und  las  vom  Irländischen 
Dampfschiff,  das  der  Capitain  schon  aufgegeben  hatte,  dem  alle 
Kohlen  fehlten,  das  statt  sechs  und  zwanzig,  sechs  und  fünfzig 
Stunden  ging,  in  dem  die  Passagiere  auf  der  Erde  lagen,  die 
Aufwärter  auf  den  Vieren  kriechen  mussten,  die  Damen  nicht 
aus  der  Ohnmacht  erwachten  und  das  nur  durch  ein  augen- 
blickliches Anhalten  des  Wüthewindes  gerettet  ist ;  dann  wieder 
von  zwei  Personen,  die  trotz  alles  Läugnens  und  mancher  Uu- 
wahrscheinlichkeiten  in  drei  Tagen  verdammt  und  gestorben 
sind  und  so  mehrere  hässliche  Sachen.  Am  andern  Tage  aber 
kam  das  Landgut  und  nun  möchte  ich  doch  so  gerne  beschreiben, 
aber  wie  soll  ich  es  machen ;  wenn  jeder  Schritt,  jeder  Augen- 
blick, alles  so  ganz  von  Deutschland  verschieden  ist,  was  soll 
ich  hinausheben? 

Ich  wollte,  ich  wäre  ein  berühmter  Schi'iftsteUer,  es  wäre 
was  für  mich.  Doch  lege  ich  los  mit  Beschi-eiben,  für  Euch 
Kinder  ist  es  gut  genug.  Englisch  spricht  man  hier,  so  fein 
wie  nur  möglich,  und  ich  nehme  mich  sonderlich  aus  zuweilen, 
aber  das  thut  wenig.  Der  Vater  also,  Herr  Taylor,  ist  der 
englischste  Engländer,  den  Ihr  erdenken  könnt.  (A  propos, 
Hamilton  &  Co.  kenne  ich  nicht,  habe  sie  nicht  gesehen,  und 
sie  zu  nichts  als  einem  Singakademiebillete  empfohlen.)  Der 
Hausherr  also  ist  der  Inhaber  ungemein  bedeutender  Bergwerke 
in  vielen  Theilen  Englands  und  scheint  sehr  angesehen  in  seinem 
Fach;  hier  hat  er  sechs  Bleiwerke  und  inspicirt  die  mit  seineu 
Söhnen,  die  waren  in  Deutschland,  sprechen  deutsch  mit  mir, 
jagen  auf  Mord  (Dick  hat  gestern  fünfzehn  Eebhühner  und 
einen  Fasan  geschossen),  reiten  Carriere  über  die  Wiese  vor 
dem  Haus,  fischen,  richten  die  Hunde  gut  ab  und  necken  ihre 


Englisches  Landleben.  251 

Schwestern.  Diese  haben  ihre  Meriten,  hübsch  ist  eigentlich 
nur  die  zweite,  diese  aber  sehr  und  spricht  einen  guten  Ton,  aber 
gut  sehen  sie  Alle  aus,  und  die  älteste  ist  ein  prächtiges 
Mädchen,  so  wie  auch  an  der  jüngsten  nichts  getadelt  werden 
muss.  Zum  Glück  spielt  hauptsächlich  die  zweite  Klavier  und 
ich  gab  ihr  schon  manchen  guten  E,ath,  wie  sie  das  Gelenk 
lose  halten  müsse  und  die  Finger:  so!  Aber  die  älteste  zeichnet 
vortrefflich  Landschaften  und  kann  auch  Männer  und  Frauen 
im  Vordergrund  anbringen ;  da  das  mir  nun  nicht  gegeben  ist, 
so  macht  sie  mir  zu  einigen  schottischen  Gegenden  gute  Staffage, 
unter  andern  gestern  ein  paar  wundernette  Hochländer;  die 
jüngste  aber  hat  mir  eben  ein  kleines  Nadelkissen  geschenkt. 
Die  Mutter  ist  ruhig  und  still  und  gut;  man  sieht  wohl,  dass 
sie  das  Ganze  führt  und  regelt,  ob  sie  schon  wenig  spricht; 
ich  bin  ihr  von  Herzen  gut  und  sie  mir  auch,  denk  ich;  sie 
erinnert  mich  oft  lebhaft  an  Dich,  liebe  Mutter,  sogar  im  Ge- 
sicht ist  zuweilen  die  Aehnlichkeit  sehr  auffallend.  Ausserdem 
sind  da:  di*ei  lange,  dürre,  hässHche,  moquante  Cousinen  aus 
Irland,  unverheirathet,  alt,  heimlich  Idchernd,  in  papageigrünen, 
kurzen  Kleidern;  wir  stehen  in  offener  Fehde  gegeneinander 
und  hassen  uns  sehr;  item  ihr  Bruder,  ein  stiller,  grämlicher, 
junger  Mann,  spielt  das  Hörn  und  versteht  was  vom  Berg- 
bau; ferner  ein  anderer  Cousin,  mein  Reisegefährte,  schiesst 
viel  Kaninchen,  zeichnet  und  macht  der  jüngsten  Cousine  fast 
den  Hof;  item  ein  ruhiger  Seekapitain,  item  3  Ponys  und 
Donkeys  (ist  ein  Esel),  ein  Phaeton,  ein  in  Sammt  und  Seide 
gehüllter  Bedienter,  Gärtner,  Bauern  etc.  Die  Scene  ist  zwi- 
schen Mold  und  Ruthin  in  Flintshire,  Zeit  zwölf  Uhr  Mittags. 
Die  vielen  Fremden  sind  aber  erst  seit  gestern  hier  und  wollen 
der  grossen  Fete  beiwohnen,  die  in  einer  Stunde  losgeht.  In 
einem  engen  Thale,  sechs  Meilen  von  hier,  ist  nämlich  ein  Zelt 
aufgebaut,  unter  dem  heut  zu  Mittag  gegessen  wird;  da  ist 
nun  die  ganze  Nachbarschaft  gebeten,  versammelt  sich  hier 
um  eins  und  bewegt  sich  dann  zu  Fuss  nach  dem  besagten 
Zelt  zu;  wo  es  hübsch  ist,  wird  stiU  gehalten  und  nach  allen 
vier  Weltgegenden  hin  gezeichnet,  die  Mutter  reitet  zu  Esel, 
für  Honorazioren  ist  der  Phaeton  angespannt,  der  gestern  ge- 


252  Felix  in  England  1829. 

schossene  Fasan  steckt  sclion  in  der  braunen  Pyekruste,  viel 
Blumen  muss  der  Gärtner  bringen,  ich  sehe  aus  meinem  Fenster 
weisse  Kleider  auf  der  Wiese  umherschimmern,  ist's  gut  Wetter, 
so  lachen  wir,  sollt'  es  regnen,  so  lachen  wir  noch  mehr,  auch 
ist  eine  Dampfmaschine  in  der  Nähe,  an  der  wir  uns  wärmen 
können  und  unterki'iechen  im  schlimmsten  Falle ;  wenn  wir  zu 
Hause  kommen  heut  Abend,  so  finden  wir  den  Saal  erleuchtet 
und  offen,  weil  getanzt  werden  soll  (das  haben  mir  die  Mäd- 
chen heimlich  verrathen,  sagt's  also  nicht  weiter),  und  so  ist's 
auf  einmal  heut  ein  Festtag,  aber  ganz  ohne  Anlass,  nur  bloss 
um  sich  Vergnügen  zu  machen;  das  gefällt  mir  nun  gar  zu 
sehi',  und  es  soll  mir  Keiner  so  gleich  auf  die  Engländer  schimpfen. 
Ausserdem  leb'  ich  hier  prächtig,  vor  Allem  giebt's  viel  Musik, 
ich  spiele  wohl  drei  bis  vier  Stunden  den  Tag  und  komponire 
mancherlei,  unter  Anderm  einen  J^usgangssatz  für  die  nächste 
Hochzeitsfeier.  Auch  ist  das  veniickte  Lied  an  die  Tragödinn 
abgegangen.  Du,  Fanny,  machst  die  Correkturen.  Ferner 
habe  ich  Miss  Anne  voreilig  versprochen,  das  Bouquet  Nelken 
mit  einer  Eose  in  der  Mitte,  was  sie  mir  neulich  schenkte,  zu 
komponiren,  und  laborire  etwas  daran;  ich  muss  es  in  ihr  Buch 
schreiben  und  den  Strauss  darüber  zeichnen,  es  wird,  wie  Seidel 
sagt,  sehr  zart.  Mein  Violüiquartett  schicke  ich  bald  fertig 
hinüber,  und  zur  Vollendung  meiner  Reformations  -  Symphonie 
war  ich  neulich  fünfhundert  Fuss  unter  der  Erde,  vielleicht 
nicht  ohne  Erfolg.  Die  Hebridengeschichte  kann  auch  toll 
werden,  und  zur  silbernen  Hochzeit  braue  ich  viel  Getränk. 
Das  ist  die  Musik  explicüe.  —  hwplicite  ist  sie  nun,  wenn  wir 
Alle  zusammen  drüben  an  der  Schleuse  sitzen  und  zeichnen: 
Miss  Anne  und  ich  die  Schleuse,  Susan  ihre  Schwester  Anne, 
die  jüngste,  mit  dem  Rücken  gegen  ims,  den  weitern  Lauf  des 
Bachs,  der  Cousin  die  ganze  Gruppe,  und  dann  kommt  der 
Vater  aus  seinem  Bergwerk  über  die  Brücke  und  lächelt  sehr 
behaglich,  und  plaudert  mit  uns,  die  wii*  uns  nicht  stören  lassen ; 
am  Abend,  wenn  genug  Musik  gemacht  ist,  werden  dann  die 
Zeichnungen  genommen  und  gebessert,  Anne  führt  die  ihrigen 
gut  aus  und  hat  Licht  und  Schatten,  ich  nehme  die  Sachen 
breiter  und  wichtiger,    Susan's  Staffage  wird  in  unsere  Land- 


Englisches  Landleben.  253 

schaffe  eingetragen,  sie  hrancht  unsere  Bäume  als  Hintergrund 
und  so  fort.  Oder  wenn  wir  zusammen  spazieren  reiten,  denn 
die  Mädchen  nehmen  sich  in  den  blauen  Eeitkleidem  erträg- 
lich aus;  so  war  ich  neulich  mit  dem  Bruder  John  und  der 
ältesten  Schwester  und  machten  in  der  Nachbarschaft  einen 
Besuch  an  zwei  alte  Damen,  so  ritt  ich  gestern  mit  dem  Cousin 
und  Susan  weit  durch  die  Gegend  über  zwölf  Meilen ;  hat  man 
nun  eine  Weile  tüchtig  Weg  gemacht,  über  mein  deutsches 
Leben  gesprochen,  und  reitet  dann  langsam  und  conversirt, 
und  fängt  dann  so  eine  stille  Engländerin  auf  einmal  an,  von 
Dir,  Beckchen,  zu  sprechen  und  mir  zu  beschreiben,  wie  sie 
Dich  reiten  lehren  woUe,  wenn  Du  nach  Coed  du  kommst  (denn 
dass  Ihr  kommt,  ist  seit  einigen  Ta£:en  den  Mädchen  ganz 
unzweifelhaft),  und  wie  Du  viel  besser  reiten  werdest  als  Fanny 
(ich  glaube  es  fast  selbst),  und  welche  Zimmer  Ihr  dann  be- 
wohnen soUt.  —  Oder  wenn  alle  Mittag  von  demselben  lieben 
Hausfreund  geredet  wird,  der  jetzt  grade  nach  Mexico  ist  und 
Captain  Lion  heisst ;  Vater  wird  sich  aus  Eitter's  Colleg  seiner 
erinnern;  es  ist  Derselbe,  der  die  Wüste  Sahara  schnell  ver- 
liess,  um  nach  dem  Nordpol  zu  gehen;  und  wenn  der  Vater 
dann  die  schönsten  Züge  von  Lion's  Reisen  erzählt  und  die 
Töchter  die  Amerikanischen  Dinge  zeigen,  die  er  jeder  ge- 
schenkt, und  die  Mutter  mir  gern  die  Lieder  der  Esquimaux 
beschreiben  möchte,  die  er  ihnen  an  Sommerabenden  im  Freien 
vorsang.  —  AUes  das  ist  freilich  Musik  und  recht  schön;  wisst 
Ihr  noch,  dass  ich  bei  Potsdam  mal  für  Heliotrop  schwärmte? 
ich  thue  es  hier  für  eine  grosse  Nelkenart  (Samen  davon  wird 
mitgebracht)  und  alle  Morgen  bekomme  ich  die  schönsten  ge- 
schenkt; mein  Zimmer  duftet  gar  zu  süss;  und  wenn  ich  am 
Sonntag  nicht  Ciavier  spiele,  weil  ich  deutlich  merke,  dass 
es  ihnen  unangenehm  ist,  und  dann  am  Abend  ihnen  was 
Ernsthaftes,  Geistliches  von  Händel  oder  dergleichen  spielen 
muss,  so  ist  das  vielleicht  doppelte  Musik.  Morgen  ist  in 
HolyweU  ein  public  dinner^  Herrn  Taylor  von  den  Leuten  in 
der  Umgegend  gegeben;  dem  wohne  ich  noch  bei,  als  Haus- 
freund, denn  ich  glaube,  ich  darf  mich  fast  so  nennen,  und 
fahre  dann  übermorgen  nach  London  zurück.    Von  da  aus  mache 


254  Felix  in  England  1829. 

ich  mehrere  Dmge  richtig,  bedanke  mich  bei  allen  Freunden 
und  Gönnern,  schreibe  an  Moscheies,  Johnston  etc.,  führe  meine 
Zeichnungen  aus,  gehe  über  den  Canal  etc.  etc.  Dies  Ende 
schreibe  ich  schon  neben  der  Dampfmaschine,  von  der  ich  sprach, 
denn  in  der  Mitte  wurde  ich  abgerufen  und  spazierte  mit  den 
Damen  hierher  in's  Thal,  wo's  Zelt  steht.  Das  Weitere  will 
ich  eben  erleben  und  Euch  dann  schreiben." 

London,  10.  Sept.  29. 

^ Mein   Aufenthalt  bei  Taylor's  war  eine  von  den 

Zeiten,  die  ich  nie  aus  dem  Gedächtniss  verlieren  werde,  und 
es  wird  mir  blumenmässig  zu  Muth  werden  und  die  Wiesen 
und  Waldkräuter  und  Bachkiesel  mit  dem  Rauschen  vergess 
ich  nicht ;  wir  sind  Freunde  geworden,  denk  ich,  und  ich  habe 
die  Mädchen  so  recht  herzinnig  lieb,  glaube  sogar,  dass  sie  mir 
auch  gut  sind,  denn  wir  waren  fröhlich  zusammen;  drei  mei- 
ner besten  Ciavierstücke  verdank  ich  ihnen  übrigens;  als  die 
beiden  Schwestern  sahen,  dass  ich  mit  den  Nelken  und  der 
Rose  Ernst  machte  und  zu  componiren  anfing  (natürlich  in 
Susan's  Haus),  so  kam  die  Jüngste  mal  mit  gelben,  offnen, 
kleinen  Kelchen  im  Haar,  versicherte  mich,  das  seien  Trom- 
peten und  ob  ich  die  nicht  in's  Orchester  einführen  wolle,  da 
ich  doch  geäussert  hätte,  ich  brauchte  neue  Instrumente,  und 
da  wir  am  Abend  nach  Bergmannsmusik  tanzten  und  die  Trom- 
peten sehr  schrillten,  meinte  sie,  nach  ihren  Uesse  sich's  wohl 
besser  tanzen;  da  componirte  ich  ihr  denn  einen  Tanz,  wozu 
die  gelben  Trompetenkelche  aufspielen;  und  der  mittelsten  gab 
ich  den  Bach,  der  uns  während  des  Spazierrittes  so  gefiel, 
dass  wir  abstiegen  und  uns  dran  hinsetzten  (ich  glaube,  ich 
hab's  Euch  schon  geschrieben?)  Dies  letzte  Stück,  glaube  ich, 
ist  das  beste,  was  ich  in  der  Art  mir  ausgesonnen  habe,  es  ist  so 
langsam  laufend  und  ruhig  und  ein  bischen  langweilig  einfach, 
dass  ich  es  mir  alle  die  Tage  vorgespielt  habe  und  sentimen- 
tal dabei  geworden  bin.  Ich  würde  Euch  die  Stücke  schicken, 
aber  da  ich  am  nächsten  Posttage  mein  Quartett  beendigt  zu 
haben  hoffe  und  Euch  zusenden  will,  so  muss  ich  doch  auch 
etwas  Neues   im  December  mitbringen  und  behalte  meine  fünf 


Rückkehr  nach  London.  255 

Stücke,  nicht  Uons,  wie  Beckchen  fälschlicli  sagt,  sondern  da/T' 
Ungs  von  mir,  für  mich.  Besitze  ich  doch  das  eine  nicht  ein- 
mal in  meinem  Manuscript.  Ja,  ärgert  Euch  nur,  Kinder!  Es 
wird  nichts  anderes  als  Süssholz  geraspelt  und  zwar  Englisches. 
—  Im  Ernst  aber,  die  Zeit  war  froh  und  verlief  schnell,  dann 
am  Abend  spät  fuhr  ich  fort,  die  Lichter  im  Hause  flackerten 
noch  hell  in  der  Ferne  durch  die  Büsche;  in  meinem  offenen 
Wagen  kam  ich  dann  an  verschiedenen  Lieblingsplätzen,  an 
besagtem  langsamen  Bach,  an  dem  letzten  Zaun  der  Besitzung 
vorbei  und  nun  ging's  fort  in  der  rasenden,  englischen  Ge- 
schwindigkeit; ich  brummte  aUe  meine  unangenehmen  Reise- 
gefährten an,  sprach  kein  Wort,  sondern  blieb  ruhig  halb 
träumend,  halb  denkend,  halb  verdriesslich  wie  man  immer  wird, 
glaub'  ich,  wenn  man  in  einer  Mail  so  seine  zwei  hundert  Mei- 
len abraset.  Und  fast  eine  laterna  magica  des  ZufaUs  war  es, 
dass  kurz  vor  der  zweiten  Nacht,  die  ich  durchfuhr,  um  den 
andern  Morgen  in  London  zu  sein,  die  Mail  still  hielt,  weil  sie 
der  Mail  von  London  nach  Chester  begegnete,  und  dass  ich 
während  des  Gesprächs  der  beiden  Kutscher  meinen  Kopf  aus 
dem  Fenster  steckte  und  in  der  tiefen  Dämmerung  aus  der 
andern  Mail  Fr.  Gramer  mit  seiner  Tochter  herausgucken  sah 
(ihr  erinnert  Euch  doch  Miss  Marian?)  Wie  man  sich  denn  so 
ein  Paar  W^orte  zuwirft  und  dann  auseinander  fährt,  für  Jahre 
oder  länger,  das  ist  nun  eben  die  Welt,  und  treibt  und  begeg- 
net und  nähert  und  entfernt  sich.  Hier  wieder  angekommen, 
fing  ich  mein  ruhiges  Leben  an,  das  aus  Componiren  und  Eng- 
lisch Lesen  besteht.  Mein  Quartett  ist  in  der  Mitte  des  letzten 
Stückes  und  ich  denke,  es  wird  in  diesen  Tagen  fertig ;  ebenso 
das  Orgelstück  für  die  Hochzeit;  meine  Reformations-Symphonie 
denke  ich  dann,  so  Gott  will,  hier  anzufangen  und  die  Schot- 
tische Symphonie,  sowie  auch  die  Hebridengeschichte  baut  sich 
nach  und  nach  zu.  Auch  Vokalmusik  habe  ich  viel  im  Kopfe 
und  vor,  hüte  mich  aber  schon  zu  sagen,  w^elche  Art  und  wie?  Die 
Clementi'sche  Fabrik  schickte  mir  am  Tage  meiner  Ankunft 
wieder  das  schöne  Klavier,  das  ich  bei  meinem  vorigen  Auf- 
enthalt hatte;  und  da  ich  Herrn  Collard  bat,  es  mir  diesmal 
zui'  Miethe   zu   geben,    so    schickte  er  mir  ein  paar  englische 


256  Felix  in  England  1829. 

Strophen  und  bat  mich,  sie  zu  componiren.  Es  wird  mir  schwer, 
indess  ich  muss." 

üeber  den  Eindmck,  welchen  Felix  auf  seine  Wirthe  in 
Coed  Du  machte,  spricht  sich  ein  Brief  der  einen  Tochter  sehr 
anschaulich  aus,  der  nach  Felix'  Tode  geschrieben  wurde:*) 
„Im  Jahre  1829  wurden  wir  zuerst  mit  Herrn  Mendelssohn 
bekannt.  Eingeführt  wurde  er  durch  meine  Tante,  Mrs.  Austin, 
welche  seinen  Vetter  Professor  Mendelssohn  in  Bonn  gut  ge- 
kannt hatte.  Er  besuchte  uns  Anfang  der  Saison  in  Bedford- 
Kow,  aber  wirklich  befreundet  wurden  wir  in  Coed  Du,  einem 
Hause  nahe  bei  Mold  in  Flintshire,  welches  viele  Jahre  von 
meinem  Vater  gepachtet  war. 

Herr  Mendelssohn  verlebte  gelegentlich  einer  Tour  durch 
England  und  Schottland  dort  einige  Zeit  bei  uns.  Meine  Eltern 
empfingen  ihn  freundlich  wie  Jeden,  aber  seine  Ankunft  er- 
regte kein  besonderes  Aufsehn,  da  viele  Fremde  in  unser  Haus 
kamen,  um  die  von  meinem  Vater  geleiteten  Bergwerke  zu 
sehen  und  wir  oft  Ausländer  aufnahmen.  Bald  aber  wurde  es 
uns  klar,  dass  ein  ausserordentlicher  Geist  von  scharfer  Be- 
obachtung und  feiner  Empfindung  unter  uns  weüte.  Er  war 
etwas  schüchtern  und  sehr  bescheiden.  Wir  wussten  wenig 
von  seiner  Musik,  aber  ihr  wunderbares  Wesen  kam  über  uns 
und  ich  erinnere  mich  an  einen  Abend,  als  wir  drei  Schwestern 
nach  unseren  Zimmern  gingen,  wie  wir  zu  einander  sagten: 
„Gewiss  muss  das  ein  genialer  Mann  sein,  .  .  .  wir  können 
uns  in  dieser  Musik  nicht  irren;  noch  nie  haben  wir  einen 
Menschen  so  spielen  hören,  und  doch  kennen  wir  die  besten 
Londoner  Musiker.  Sicher  werden  wir  einmal  hören,  dass 
Felix  Mendelssohn  Bartholdy  ein  berühmter  Mann  gewor- 
den ist." 

Meines  Vaters  Geburtstag  fiel  in  die  Zeit  seiner  Anwesen- 
heit. Es  wurde  eine  grossartige  Expedition  nach  einem  ent- 
fernten Bergwerke  oben  in  den  Hügeln  veranstaltet,  ein  Zelt 
dort  aufgeschlagen  und  den  Bergleuten  ein  Festessen  gegeben. 


*)  Veröffentlicht  in  Ä  Bictionary  of  Music  and  Musicians  by 
G,  Grove, 


Brief  von  Miss  Taylor.  257 

Es  wurden  Eeden  gehalten,  Gesundheiten  ausgebracht,  und 
Mendelssohn  ging  mit  einem  Feuer  auf  die  Sache  ein,  als  ob 
er  Einer  von  uns  wäre.  Er  Hess  sich  mit  Interesse  von  den 
Verhältnissen  und  dem  Leben  der  Walliser  Bergleute  erzählen. 
Nichts  entging  seiner  Aufmerksamkeit.  Ein  Brief,  den  er  kurz 
nach  seiner  Abreise  aus  Coed  Du  an  meinen  Bruder  John 
schrieb,  schildert  in  reizender  Weise  die  Eindrücke,  die  er  von 
unserer  Gegend  mitnahm.  Mitunter  ging  er  mit  uns  Mädchen 
aus  zeichnen,  dann  setzte  er  sich  ernsthaft  an  die  Arbeit, 
amüsirte  sich  aber  unendlich  über  Versuche,  die  seiner  Meinung 
nach  misslungen  waren.  Eine  Zeichnung  eines  Walliser  Mäd- 
chens, fand  er,  sähe  wie  ein  Kameel  aus,  und  sie  wurde  nun 
nie  anders  als  „das  Kameel*  genannt.  Obgleich  er  seine 
eigenen  Zeichnungen  verspottete,  hatte  er  doch  ächten  Künstler- 
sinn und  grosse  Freude  an  Gemälden.  Ich  brauche  nicht  erst 
zu  sagen,  wie  tief  er  die  Schönheit  der  Berge  und  Wälder 
empfand.  Er  stellte  sie  nicht  mit  dem  Bleistift  dar,  aber  an  den 
Abenden  zeigte  seine  improvisirte  Musik,  was  er  im  Laufe 
des  Tages  empfunden  oder  beobachtet  hatte.  Das  Stück,  was 
er  in  dieser  Zeit  für  meine  Schwester  Susan  schrieb  und  „den 
Bach"  nannte,  zeigt,  was  ich  meine;  es  war  eine  Erinnerung 
an  einen  wirklichen  Bach. 

Wir  bemerkten,  wie  äussere  Gegenstände  ihn  zur  Musik 
anregten.  In  dem  Garten  meiner  Schwester  Honora  wuchs 
eine  hübsche  Schlingpflanze  mit  kleinen  trompetenförmigen 
Blüthen,  die  damals  etwas  neues  wai*.  Sie  frappirte  ihn,  und 
er  spielte  für  meine  Schwester  das  Stück,  welches  (wie  er 
sagte)  die  Elfen  auf  diesen  Trompeten  blasen  würden.  Als  er 
das  Stück  (Capriccio  in  e-moU  genannt)  aufschrieb,  zeichnete 
er  einen  kleinen  Zweig  jener  Blumen  um  den  ganzen  Rand 
des  Blattes.  Das  Stück  (Andante  und  Allegro),  welches  Herr 
Mendelssohn  für  mich  schrieb,  fiel  ihm  beim  Anblick  eines  Strausses 
Rosen  und  Nelken  ein.  Wir  hatten  das  Jahr  wunderschöne 
Nelken,  sie  waren  seine  Lieblingsblumen  und  er  trug  oft  eine 
im  Knopfloch.  Die  Arpeggio- Passagen  in  der  Komposition 
sollten  den  süssen^  aufsteigenden  Duft  der  Blumen  vor- 
stellen. 

Die  Familie  Mendelssolm.  I.  17 


258  Felix  in  England  1829. 

Er  war  nicht  die  Spur  sentimental,  trotz  seines  tiefen 
GefüMs.  Niemand  freute  sich  mehr  über  Unsinn  als  er,  und  sein 
Lachen  war  das  Lustigste,  was  man  hören  konnte.  Einen 
Abend  im  Sommer  blieben  wir  später  als  gewöhnlich  in  dem 
Wald  oberhalb  unseres  Hauses.  Wir  hatten  in  Susan's  Garten 
oben  im  Wald  ein  Haus  von  Fichtenästen  gebaut.  Wir  machten 
ein  Feuer  in  einiger  Entfernung  davon  in  einem  Dickicht 
zwischen  den  Bäumen.  Mendelssohn  half  mit  dem  höchsten  Eifer 
und  schleppte  mehr  und  mehr  Holz  herbei ;  wü'  wurden  müde  von 
der  lustigen  Arbeit,  lagerten  uns  um  unser  Feuer,  der  Rauch 
wehte  darüber  hin,  die  Kohlen  glimmten ;  es  wurde  dunkel,  aber 
wir  konnten  uns  nicht  entschliessen,  unser  Feuer  zu  verlassen 
„Wenn  wir  nur  etwas  Musik  hätten",  sagte  er  „Könnte  nicht 
irgend  Jemand  etwas  zum  Spielen  besorgen?"  Nun  fiel  es 
meinem  Bruder  ein,  dass  wir  in  der  Nähe  des  Gärtnerhauses 
wären,  und  dass  der  Gärtner  eine  Violine  hätte,  und  unsere 
Jungen  stürzten  fort,  diese  zu  holen.  Als  sie  kam,  war  sie 
das  elendeste  Ding  von  der  Welt,  mit  nur  Einer  Saite.  Mendelssohn 
nahm  das  Instrument  in  die  Hände  und  schüttete  sich  vor 
Lachen  aus,  als  er  die  Töne  hörte,  welche  entstanden.  Sein 
Lachen  war  sehr  ansteckend,  er  brachte  uns  alle  in  die  herz- 
lichste Lustigkeit ;  aber  dann  lockte  er  doch  schöne  Musik  aus 
der  armen  alten  Geige,  und  wir  sassen  und  horchten  auf 
eine  Melodie  nach  der  anderen,  bis  die  Dunkelheit  uns  nach 
Hause  trieb. 

Mein  Vetter  John  Edward  Taylor  wohnte  zu  der  Zeit  bei 
uns.  Er  hatte  ein  imitirtes  Waliiser  Stück  komponii't  und 
spielte  es  eines  Morgens  vor  dem  Frühstück  durch,  ohne  zu 
wissen,  dass  Herr  Mendelssohn  (dessen  Schlafzimmer  an  das  Wohn- 
zimmer stiess)  jeden  Ton  hörte.  Am  Abend,  als  wir  wie  gewöhnlich 
musizirten,  setzte  sich  Mendelssohn  an's  Klavier.  Und  nach  einem 
zierlichen  Vorspiel  hörte  John  Edward  sein  armes  kleines  Lied- 
chen so  vortheilhaft  als  möglich  als  Musikstück  des  Abends 
eingeführt.  Und  als  er  dabei  verweilt  und  es  in  der  graziösesten 
Weise  ausgeschmückt  hatte,  verbeugte  er  sich  in  seiner  liebens- 
würdigen, muthwilligen  Art  gegen  den  Componisten  imd  erkannte 
diesem  alle  Ehre  zu. 


Brief  von  Miss  Taylor.  259 

Vielleicht  lag  etwas  von  dem  Eeiz  seiner  Rede  in  den 
ungewöhnlichen  Worten,  die  er  als  Deutscher  beim  EngUach- 
sprechen  wählte.  Er  lispelte  ein  wenig.  Er  hatte  ein.e  Art, 
rasch  mit  dem  Kopf  zu  nicken,  bis  die  langen  Haarlocken  ihm 
über  seine  hohe  Stirn  fielen,  in  der  Nachdrücklichkeit  seiner 
Zustimmung  zu  Sachen,  die  inn  ireuten.  Manchmal  unterhielt 
er  sich  sehi'  ernsthaft  mit  meiner  Mutter.  Da  er  sah,  dass 
wir  Geschwister  uns  untereinander  und  die  Eltern  herzlich 
liebten,  so  sprach  er  darüber  mit  meiner  Mutter,  erzählte  ihr, 
dass  er  Familien  gekannt  hätte,  wo  es  nicht  so  sei,  und  sagte : 
„Sie  wissen  nicht  wie  glücklich  Sie  sind." 

Er  war  so  entfernt  von  jeder  Prätension,  oder  davon,  sein 
Musikmachen  als  eine  Gunst  zu  betrachten,  dass  an  einem 
Abend,  wo  eine  Nachbarfamilie  zu  Mittag  kam  und  wir  nachher 
tanzten,  er  sich  mit  den  Andern  im  Spielen  von  Quadrillen  und 
Walzern  abwechselte.  Er  war  der  Erste,  der  uns  Galopp 
tanzen  lehrte,  und  wir  hörten  von  ihm  zuerst  Weber's  letzten 
Walzer.  Er  tanzte  eben  so  gern  wie  jeder  andere  junge  Mann 
seines  Alters.  Damals  war  er  20  Jahre  alt.  Er  hatte  die 
Ouvertüre  zum  Sommernachtstraum  vor  jener  Zeit  geschrieben. 
Ich  erinnere  mich  genau,  wie  er  sie  spielte. 

Er  verüess  Coed  Du  Anfang  September.  Wir  sahen  ihn 
aber,  so  oft  er  nach  England  kam,  indessen  die  Besuche,  die 
er  uns  in  London  machte,  haben  mir  keinen  so  tiefen  Eindruck 
hinterlassen  wie  der  in  Coed  Du.  Doch  erinnere  ich  mich  einer 
Gesellschaft  bei  meinem  Vater,  welcher  er  beiwohnte.  Sir 
George  Smart  war  auch  da ;  als  derselbe  zum  Spielen  aufgefordert 
•wurde,  sagte  er  zu  meiner  Mutter:  „Nein,  neüi,  lassen  Sie  nur 
das  alte  Postpferd  bei  Seite,  wenn  Sie  einen  muthigen  jungen 
Renner  bei  der  Hand  haben."  Das  Resultat  davon  war  ein 
von  Sir  George  Smart  und  Herrn  Mendelssohn  gespieltes  Quatre- 
mains.  Unser  lieber  alter  Lehrer,  Mr.  Attwood,  traf  ihn  oft  bei  uns. 
Einmal  besuchte  er  mit  uns  eiaen  Ball  bei  Mr.  Attwood  in 
Norwood.  Auf  der  Rückfahrt  war  es  schon  hell,  und  ich  erinnere 
mich,  wie  er  den  Anblick  von  St.  Paul  in  der  Morgen- 
beleuchtung, den  wir  von  Blackfriars  Bridge  aus  hatten,  be- 
wunderte.   Aber  sein  fröhlichster  Besuch  bei  uns  war  der,  wo 

17* 


260  Felix  in  England  1829. 

er  zuerst  seine  süsse  junge  Frau  zu  meiner  Mutter  brachte. 
Frau  Felix  Mendelssolin  war  damals  ganz  jung  verheirathet,  und 
wir  sagten  Alle,  er  hätte  keine  finden  können,  die  seiner  würdiger 
gewesen  wäre.  Und  mit  der  entzückenden  Erinnerung  an  sein 
damaliges  Glück  will  ich  schliessen." 

In  London  warf  Felix  am  17.  September  mit  dem  Wagen 
um  und  verletzte  sich  das  Knie  so  bedeutend,  dass  seine  Ab- 
reise von  England  um  zwei  Monat  bis  Ende  November  ver- 
zögert und  alle  seine  Pläne  zerstört  wurden.  Er  hatte  seinen 
Vater  in  Holland  ti-effen  und  mit  diesem  zusammen  die  Rück- 
reise durch  Holland  und  Belgien  machen  wollen,  um  am  3.  Oc- 
tober  bei  der  Hochzeit  von  Fanny  anwesend  zu  sein.  Statt 
dessen  langes,  schmerzhaftes  Krankenlager,  aber  erleichtert 
und  versüsst  durch  die  aufopfernde  Liebe  von  Klingemann,  der 
sogleich  zu  Felix  zog,  und  durch  die  Freundschaft  und  Theil- 
nahme  aller  englischen  Bekannten. 


Felix  an  Fanny. 

London,  25.  September  29. 

^Dies  ist  denn  also  der  letzte  Brief,  der  vor  der  Hochzeit 
nach  Euch  gelangt,  und  zum  letzten  Male  rede  ich  Fräulein 
Fanny  Mendelssohn  Bartholdy  an,  und  wohl  viel  hätte  ich  zu 
sagen.  Aber  noch  immer  will  es  nicht  recht  gehn.  Zwar 
sitze  ich  seit  gestern  alle  Tage  ein  wenig  auf  und  kann  daher 
besser  und  kleiner  schreiben,  aber  der  Kopf  ist  mir  noch  gar 
so  wüst  von  dem  vielen  im  Bett  liegen  und  von  der  langen 
Gedankenlosigkeit,  und  je  mehr  ich  zusammenfassen  möchte 
in  diesem  Augenblick,  desto  schneller  entschlüpft  es  mir  und 
will  sich  nicht  halten  lassen.  Dass  es  nun  mit  mir  dasselbe 
ist,  ob  ich's  gut  oder  schlecht  sage,  oder  verschweige,  das 
wisst  Ihr  wohl  recht  gut;  mir  aber  ist's  als  hätte  ich  ganz 
und  gar  die  Zügel  verloren  über  das,  was  ich  sonst  schon  zu 
bemeistem  wusste ;  und  die  Gedanken  über  Alles,  was  sich 
nun  verändern   und  festsetzen  vn]l,  die  sich  mir  sonst  gleich 


Hoclizeitsbrief  für  Fanny.  261 

in  Einen  verschmolzen  hätten,  wenn  ich  angefangen  hätte, 
Euch  zu  schreiben,  die  fahren  mir  nun  einzeln,  unbestimmt  und 
halb  wild  umher  und  sind  nicht  zu  ordnen.  Aber  es  ist  nun 
so,  und  wenn  man  täglich  sieht,  wie  alle  Kleinigkeiten,  die 
man  sich  ausmalt,  durch  die  Wirklichkeit  verschoben,  ver- 
grössert  oder  vernichtet  werden,  so  steht  man  vor  einem  wirk- 
lichen Lebensereigniss  mit  rechter  Ehrfurcht  und  Demuth. 
„Mit  Ehrfurcht,  damit  meine  ich  aber  frisch  und  fröhlich  und 
mit  Vertrauen.  Lebt  und  webt,  heirathet  Euch  und  seid 
glücklich,  baut  Euch  das  Leben  zu,  auf  dass  ich  es  schön  und 
wohnlich  finde,  wenn  ich  zu  Euch  komme  (und  das  geschieht 
ja  nun  recht  bald),  und  bleibt  Ihr  dieselben,  dann  lasst  es 
draussen  rütteln  wie's  mag;  übrigens  kenne  ich  Euch  beide 
ja,  und  somit  gut.  Ob  ich  die  Schwester  dann  Fräulein  oder 
Madame  anrede,  bedeutet  wenig.    Der  Name  thut  wenig. 

Freilich  habe  ich  das  nun  gelernt,  wie  man  doch  auch  aufs 
kleinste  Vorhaben  mit  Scheu  hinsehn  und  sich  über  das  kleinste 
Gelingen  schon  fi'euen  müsse,  denn  auch  dazu  gehört  ein  Zu- 
sammentreffen des  Glücks;  aus  Llangollen  schrieb  ich's  Euch, 
wie  mir  die  beiden  ersten  Tage  ohne  Klingemann  zwei  freu- 
dige geworden  sind,  Tage,  vor  denen  ich  mich  seit  dem  Anfang 
der  Eeise  fürchtete;  Menschen,  Gegenden,  Stunden,  auf  die 
ich  mich  lange  gefreut  hatte,  auf  welche  Alles  gut  und  günstig 
vorbereitet  war,  denen  nichts  fehlte,  was  sich  berechnen  liess, 
gingen  kalt,  ungenossen,  oft  unangenehm  vorüber ;  die  kleinsten 
Freuden  schlugen  fehl  aus  Zufällen,  grosse  gelangen  aus  dem- 
selben Grunde,  und  Alles,  Alles  kam  anders  als  ich  es  er- 
wartet, gewünscht,  gefürchtet  hatte;  so  ist  mir  es  gegangen 
und  wird  auch  so  bleiben.  Aber  statt  dass  mich  das  furchtsam 
oder  ängstlich  machen  sollte,  macht  es  mich  recht  muthig  und 
wohl;  und  weit  entfernt,  desswegen  nun  an  die  kleinen  Voraus- 
bestimmungen mit  Besorgniss  zu  denken,  gehe  ich  vielmehr 
an  grosse  mit  Zuversicht.  Und  somit  auf  Wiedersehn  im 
Winter. 

Viel  Besseres  hätt'  ich  wohl  schreiben  sollen,  aber  es  geht 
eben  nicht.  Sagt,  was  Ihr  wollt,  der  Körper  hängt  gar  zu 
eng  mit  dem  Geiste  zusammen;    ich  sah's  neulich  zu  meinem 


262  Felix  in  England  1829. 

rechten  Aerger,  als  sie  mir  zur  Ader  Hessen  und  mir  alle 
freien  frischen  Gedanken,  die  ich  vorher  gehabt,  mit  dem  Blut 
in  die  Tasse  tropften  und  ich  matt  und  gelangweilt  wurde. 
ffiJngemann's  Epigramm  beweist  auch,  wie  sie  mir  das  bischen 
Poesie  wegkapern  und  der  Brief  hier  zeigts  auch;  ich  wette, 
in  jeder  Zeile  steht,  dass  ich  das  Bein  nicht  krümmen  darf. 
Bin  ich  aber  nur  erst  wieder  wohl,  dann  will  ich  wegfliegen 
von  hier,  denn  nun  hab'  ich  genug  vom  Eauchnest,  und  will 
mich  wieder  auf  den  Weg  machen,  und  will  nach  Süden,  und 
will  dann  nach  Westen;*)  wie  es  zu  Hause  am  Mittagstisch 
aussieht,  kann  ich  mir  gar  nicht  mehr  recht  denken,  ebenso 
am  Sonntag  Abend,  und  unter  allen  den  lieben  Gesichtern. 
TJeberhaupt  wird  mir  nie  sehnsüchtiger  nach  Haus  zu  Muthe, 
als  wenn  ich  an  Kleinigkeiten  von  daher  denke :  an  den  runden 
Theetisch,  Vaters  türkische  Stiefel,  die  grünen  Lampen,  oder 
wenn  ich  mir  meine  Reisemütze  ansehe,  die  über  meinem  Bett 
hängt,  und  die  ich  zu  Hause  abzunehmen  gedenke.  Nun,  die 
Tage  werden  ja  schon  kalt  imd  kurz,  die  Kohlen  stehen  wie- 
der auf  der  Wochenrechnung  wie  als  ich  herkam,  Alles  spricht 
schon  von  der  nächsten  Saison  und  die  ist  im  Frühling;  was 
sonst  nach  Vierteljahren,  ^vird  jetzt  nach  W^ochen,  bald  nach 
Tagen  gerechnet;  bald  bin  ich  wieder  frei,  bald  sehn  wir  uns. 
Sei  mir's  vergönnt,  froh  in  die  nächste  Zukunft  zu  schauen, 
und  was  der  blaue  Himmel  Freudiges,  Beglückendes  seinen 
Menschen  senden  kann,  das  werde  Euch  und  schmücke  Euch 
die  Zeit,  und  mache  sie  Euch  unvergesslich." 


Klingemann. 

„Schönsten  Gruss  zuvor  ans  ganze  Haus!  Dahin  musste 
es  kommen,  dass  Sie  alle  anfangen  werden,  die  Doppelbriefe 
zu  verwünschen,  die  immer  nur  darauf  ausgehen,  zu  beweisen, 
dass  Sie  einen  süssen  Hochzeitsgast  weniger  haben  werden, 
dass  der  noch  immer  in  der   grossen  Stadt  London  sitzt  oder 


♦)  Auf  die  grosse  E-eise  nach  Italien  und  Frankreich. 


KliDgemann  an  Fanny.  263 

liegt,   wie's    fällt,  und    noch   immer   nicht   selbstständig  und 
galopptanzend   einhergeht   oder   springt.    Die   armen  Doppel- 
briefe können  aber  nicht  dafür  —  er  braucht  seine  acht  Tage, 
ehe  er  wieder  aufstehen  kann  (wir  verbrauchen  sie  jetzt),  seine 
anderen  acht,  ehe  er  im  Zimmer  ambulirt,  und  dann  noch  acht 
letzte,  ehe  er  zum  Abreisen  flott  wii'd;  dabei  könnt'  ich  noch 
ein  eigennütziger  Verräther  werden   und   meinen  Freund,  den 
Dr.  Kind,  bestechen,  dass    der   aus   den  vierzehn  Tagen  drei 
Wochen  machte,  in  denen  ich  mir  vom  scheidenden  Genossen 
noch  die  schönsten  Henkersschmäuse  und  Kehrausse  aufspielen 
liesse  —  ich  wül's  aber  nicht  thun.    Einmal  des  Tages  ver- 
fällt er  in  bittere  Ironie  gegen  das  Schicksal,   wenn    er  sein 
massiges   Dinner   bestellt,    er    giebt   seine   Aufträge    in   ver- 
höhnenden Ausdrücken,    etwa   sprechend:    To  dmj  I  want  for 
my  luxurious  dinner  etc.,   wobei   die  dicke  Magd,  die  keinen 
Unterricht  in  der  Ironie  gehabt  hat  und  nicht  versteht,  etwas 
verdutzt  fragt:    Sir?    Hört  sie  aber,   dass  in  der  BesteUung 
Mutton  cJtops  mit  enthalten  sind,  so  lächelt  sie  freundlich,  denn 
sie  versteht  diese  rein  menschliche  Scala  leiblichen  Wohlseins 
und  erkennt  darin  eine  Variation  des  süssen  Themas:  Genesung. 
Ueberhaupt  soll  mir  Keiner  die  Engländer  der  unteren  Klasse 
schelten,    die   Wirthsleute   im   Hause   sind   bei   allem   diesen 
Trouble  freundlich  und  hülffertig,  dass  es  einem  Freude  macht, 
es  zu  sehn,    und   auch   die   meinigen    erkundigen  sich  täglich 
angelegentlich  nach  dem  Befinden  des  Freundes.     Goldschnüdt 
hilft  uns  täglich  zu  irgend  einer  Ergötzlichkeit  —  ich  selbst 
that  viel  für  meinen  Kranken  und  seine  Aufheiterung,   indem 
ich  mir  heute  einen  schönen  und  seltenen  Backenbart  abschnitt 
und  mich  so  umgekehi^t  maskirte.     Dafür  fiiert  mich  nun. 

Die  Braut-Epigramme  sind  nun  aus;  ich  projektirte  aber 
eine  Sammlung  „über  ernsthafte  Vorfälle  des  Lebens"  und 
machte  somit  folgendes  Krankengedicht;  das  Ganze  gründet 
sich  auf  eine  wahi-e  Geschichte: 

Jalappe   (Sie  kennen  doch  das  Gewächs?). 
Der  Kranke  blättert  im  Lieblingsbuch 
Und  findet  die  Blume,  die  blaue, 
Die  sie  vor  Kurzem  am  Herzen  trug  — 
Er  sehnt  sich,  dass  er  sie  schaue. 


264  Felix  in  England  1829. 

„Was  seufzt  Ihr?"  —  fragt  der  Doktor  kalt  — 
„So  sehr  bei  der  Blume,  der  blauen? 
Ihr  kriegt  sie  zu  schlucken  in  Pillengestalt, 
Da  hilft  sie  Euch  trefflich  verdauen.*' 

Und  so  ist  dies  denn  der  letzte  Brief  —  sage  icli  mit 
Felix  und  spreche  mit  Fräulein  Fanny  —  der  Sie  noch  in- 
mitten von  uns  und  anderen  jungen  Leuten,  Springinsfelden, 
begrüsst.  —  Haben  Sie  himmlischen  Sonnenschein  aussen,  so 
wie  innen  und  nichts  wie  schönen  Klang  um  sich  her.  Neben- 
bei halte  der  Prediger  eine  möglichst  kurze  Rede  und  wolle 
Sie  nicht  zu  unmässig  rühren!  Im  Herbst,  etwa  am  dritten 
October,  sollte  sich  aber  klüglicher  Weise  Jedermann  verhei- 
rathen  —  das  wäre  ein  tüchtiger  Satz,  den  man  aus  dem 
Sommer  gleich  in  den  Frühling  liinein  thäte;  wo  der  Winter 
als  Winter  bleibt,  sehe  ich  wenigstens  nicht  ein;  was  kann 
so  jungem  Volke  der  warme  Ofen  anders  sein,  als  ein  lustiger 
Meilerstein,  in  dem  es  Paradiesäpfel  brät?  — 

0  Himmel,  warum  sind  die  Zeiten  so  ruhig,  und  warum 
mischt  sich  Hannover  so  wenig  in  die  tüi'kische  Sache?  Ab- 
gesehen, d^ss  damit  so  wenig  für  die  Geschichte  geschieht, 
giebt's  auch  gar  keine  Courierreisen  für  hiesiges  Gesandtschafts- 
personal ;  ein  Krieglein,  das  mich  im  December  mit  Depeschen 
nach  Berlin  brächte,  sollte  dafür  von  mir  aus  warmer  Dank- 
barkeit in  Gold  gefasst  und  nett  beschrieben  werden.  Felix 
und  ich  haben  heute  Morgen  schon  mehrfach  überlegt,  aber 
wir  bringen  die  politische  Verwirrung,  aus  der  diese  poetische 
Ordnung  hervorgehn  könnte,  schwerlich  zu  Stande,  und  ich 
wäre  doch  insofern  so  sehr  nöthlg  in  Berlin,  dass  ich  mich  so 
überaus  göttlich  amüsiren  würde.  Die  Sachen  geschehen  nie, 
me  man   sie  calculirt,    darum  trifft's   vielleicht   einmal.     Es 

schweigt 

Klingemann." 

Felix. 

London,  9.  Oct.  29. 

^ Bei  Euch  muss  es  jetzt  wohl  bunt,  lebhaft  und 

schön  aussehn,  könnte  ich  nur  emen  Augenblick  herübergucken, 


Freundlichkeit  der  Engländer.  265 

um  die  neuen  Herrliclikeiten  kennen  zu  lernen,  und  das  ganze 
frische  Leben  und  die  Veränderungen  und  jede  Kleinigkeit, 
die  mir  schon  bedeutend  wäre ;  denn  nun  ist  ja  Alles  das  vor- 
bei, woran  ich  lange  gedacht,  und  die  Flitterwochen  stehn  im 
Glänze.  — 

Es  geht  die  Zeit  pfeilschnell,  obgleich  die  Minuten  schlei- 
chen; der  Morgen  verfliegt,  am  Mittag  kommen  Besuche, 
Klingemann  ist  immer  bei  mir  und  ich  werde  ihm  nie  danken 
können,  was  er  mich  jetzt  beglückt;  dann  wird's  wieder 
Dämmerung,  dann  erscheint  wieder  das  dicke  Mädchen  mit 
dem  Essen,  dann  brennt  das  lange  magere  Nachtlicht  wieder 
vor  meinem  Bette  und  dann  sehe  ich  wieder  nach,  ob  der 
Tag  bald  dämmern  will.  Noch  so  und  so  viel  magere  Nacht- 
lichter und  ich  bin  wieder  bei  Euch;  ich  möchte,  ich  wäre 
schon  da. 

Wie  freundlich  sich  die  Engländer  gegen  mich  nehmen, 
glaubt  Ihr  nicht.  Da  ich  Bücher  nicht  brauchen  kann  und 
Fleisch  nicht  essen  darf,  so  überhäufen  sie  mich  mit  Früchten, 
Süssigkeiten  aller  Art;  wir  müssen  von  den  fremden  Schüsseln 
Buch  halten  und  einen  Keller  anlegen,  sagt  Klingemann. 
Namentlich  legt  es  Lady  MoUer  förmlich  darauf  an,  mich  zu 
verfüttern,  und  da  Sir  Lewis,  der  mich  fast  täglich  besucht, 
ein  berühmter  Gustronom  ist,  so  denkt  Euch,  wie  die  Puddings 
und  Gelees  aussehn,  die  sie  schickt.  Gestern  kam  ein  grosser 
Korb  von  Attwood  aus  Surrey;  oben  auf  lagen  herrliche  Blu- 
men, die  eben  neben  mir  am  Kaminfeuer  duften,  unter  den 
Blumen  lag  ein  grosser  Fasan  verborgen,  unter  dem  Fasan 
eine  Menge  Aepfel  für  pyes  und  dergleichen;  Mr.  Hawes  er- 
schien heut  mit  Weintrauben,  die  ich  nie  schöner  und  male- 
rischer gesehn  habe.  Dance  schickt  zwei  eigenfabricirte  Torten 
von  seiner  alten  Frau,  „weil  sie  mir  einmal  bei  ihr  geschmeckt 
haben",  Göschen  schöne  Erdbeeren,  und  Jeder  thut  mir  Liebes 
und  Freundliches  an.  Was  Euch  fast  rühren  muss,  ist,  dass 
meiu  voriger  Wirth  neulich  Morgens  kam  und  mich  im  Bett 
fand,  ganz  still  fortging  und  denselben  Abend  wieder  erschien 
mit  den  Complimenten  seiner  Frau,  die  mir  meine  Lieblings- 
gerichte sandte,    die   sie  sich  von  damals  her  gemerkt  hatte; 


266  Felix  in  England  1829. 

einen  Rosinenpndding  und  eine  Art  Zwieback;  ja  dass  er  sich 
ffestem  zur  Essenszeit  wieder  einfand  mit  einem  Seefisch  nnd 
einer  ^german  sok^^,  die  mir  königlich  geschmeckt  hat.  Ver- 
zeiht die  vielen  Essgeschichten,  es  sind  meine  einzigen  Amüse- 
ments jetzt." 


London,  6.  Novbr.  1829. 

„Ehen  komme  ich  von  der  ersten  Spazierfahrt  zurück, 
die  ich  mit  Klingemann  gemacht ;  es  ist  nun  einmal  ein  liebes 
Ding  um  Luft  und  Sonne.  Sie  haben  mich  müde  imd  matt 
gemacht  und  doch  fühle  ich,  wie  ich  erquickt  bin,  und  mir 
ist  gesunder  als  je  zu  Muthe.  Schon  als  ich  die  Treppe  so 
recht  langsam  herunterstieg  und  sich  die  Hausthüre  wieder 
einmal  vor  mir  aufthat  und  die  Wirthsleute  aus  ihren  Zimmern 
traten  und  mir  gratulirten  und  der  Fuhrmann  mir  seinen  Arm 
zum  Einsteigen  bot,  wurde  mir  warm  imd  wohl:  als  es  aber 
nun  um  die  Ecke  ging  und  die  Sonne  mich  so  warm  beschien 
und  der  Himmel  mir  den  Gefallen  that,  tief  blau  zu  sein,  da 
fühlte  ich  die  Gesundheit  zum  ersten  Male  in  meinem  Leben ; 
denn  ich  hatte  sie  früher  nie  auf  so  lange  Zeit  entbehrt. 
London  war  unbeschreiblich  schön;  wie  die  rothen  und  braunen 
Schornsteine  sich  scharf  vom  dunkelblauen  Himmel  abschnitten 
und  alle  Farben  so  stechend  glänzten,  wie  die  bunten  Läden 
schimmerten,  und  der  blaue  Duft  mir  aus  jedem  Querwege  so 
dick  entgegenquoll  und  allen  Hintergrund  einhüllte  und  me 
statt  der  grünen,  beweglichen  Blätter  auf  den  Sträuchern,  die 
ich  mii'  aus  meinem  Gig  heraus  damals  anguckte,  nun  rothe 
Ruthen  steif  dastanden  und  nur  der  Rasen  noch  grün  war, 
und  wie  schön  der  Hügel  in  Piccadilly  von  dem  Sonnenschein 
bestrahlt  wurde  und  wie  lebendig  mir  Alles  vorkam,  —  das 
gab  einen  seltsamen,  aber  sehr  wohlthuenden  Eindruck  und 
ich  fühle  die  Kraft  der  wiederkehrenden  Gesundheit.  Ich 
nehme  liebe  Erinnerungen  von  der  Stadt  mit  und  wenn  ich 
auf  der  Stage  (oder  vielmehr  in  derselben,  denn  ich  bin  ein 
gebrannt  Kind)  hinausfahren  werde,  so  sehe  ich  wohl  manch- 


Genesung.  267 

mal  noch  zurück  und  denke  an  die  Freude,  die  ich  hier  gehabt. 
Denn  es  thut  einem  doch  gar  zu  wohl,  wenn  die  Leute  freund- 
lich sind  und  was  auf  einen  halten  und  es  gereicht  mir  zum 
innigsten  Vergnügen,  mit  Aufrichtigkeit  mir  sagen  zu  können, 
dass  sie  es  hier  thun;  mein  Aufenthalt  ist  also  nicht  um- 
sonst gewesen  und  die  Zeit  wird  mir  immer  lieb  bleiben,  wenn 
ich  an  sie  zui'ückdenke. 

Da  Euch  die  Geschichte  meines  vorigen  Wirths  gefällt, 
so  gebe  ich  hier  die  Fortsetzung:  ich  hatte  diesen  Ironmonger 
seit  acht  Tagen  nicht  gesehen,  da  kam  er  neulich,  entschuldigt« 
sich,  dass  er  so  lange  nicht  hier  gewesen  sei,  er  habe  aber 
eine  neue  Küche  mit  Ofen  in  seinem  Hause  gebaut,  das  hätte 
ihn  abgehalten:  heut  habe  aber  seine  Frau  zuerst  in  dem  Ofen 
gebacken  und  schicke  mir  nun  das  erste  Produkt  daraus,  damit 
ich  entscheide,  ob  es  nicht  noch  besser  sei,  wie  die  Kuchen 
aus  der  vorigen  Küche.  — 

Neulich  kamen  auch  Eure  Briefe,  in  denen  Ihr,  liebe  Eltern, 
so  besorgt  um  mich  seid,  und  Du,  liebster  Vater,  Dich  gar  auf 
die  entsetzlich  lange  Reise  machen  A\illst.  Was  soll  ich  Dir 
darauf  nun  sagen?  Aber  so  stehe  ich  ja  doch  nun  einmal  zu 
Dir,  leider!  oder  vielmehr  Gottlob!  dass  ich  ein  für  aUe  Mal 
Dir  meinen  Dank  und  meine  Liebe  verschweigen  muss,  sonst 
müsste  ich  Dii^  ja  Alles  nur  in  solchen  Worten  sagen  und 
käme  zu  nichts  Anderem,  denn  ich  verdanke  Dir  ja  eben  Alles 
und  so  soll  denn  auch  dies  verschwiegen  sein.  Wären  doch 
nur  Worte  nicht  so  kalt!     Und  nun  gar  geschriebene!  — 

Lti  dem  Brief  vom  27.  Oct.,  den  ich  erst  heut  über  Ham- 
burg empfing,  stichelt  Fanny  auf  meine  Ungeduld ;  das  ist  fehl- 
geschossen, denn  seit  der  dritten  Woche  bin  ich  in  eine  faule 
Apathie  gerathen,  die  alle  Grenzen  übersteigt:  ich  könnte  jetzt 
den  ganzen  Tag  auf  dem  Sopha  sitzen  und  nichts  thun,  neulich 
sass  ich  eine  halbe  Stunde  lang  in  der  Dämmerung  allein,  sah 
in's  Feuer  und  dachte  an  garnichts  —  ein  Unternehmen,  bei 
dem  ich  sonst  unfehlbar  eingeschlafen  wäre,  —  hier  blieb  ich 
aber  wach  und  bequem  dabei ;  —  ich  lese  das  ganze  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhimderts :  Kotzebue,  Iffland,  Meissner,  Engel; 
einen  Theil  Schilling  und   drei  Seiten  Clauren  habe  ich  auch 


26S  Felix  iu  England  1829. 

gelesen  etc.  Kurz,  wenn  ich  nur  noch  aus  einer  langen  Pfeife 
rauchte  und  eine  Nachtmütze  aufhätte,  so  könnte  man  mich 
mit  meinen  Krücken  im  Hintergrunde  recht  gut  für  einen 
rüstigen  alten  Onkel  halten,  der  das  Zipperlein  hat.*' 

Schliesslich  verlebte  Felix  noch  einige  Zeit  zur  Stärkung 
seiner  Gesundheit  in  Norwood  Surrey  bei  seinem  alten  Freunde 
Attwood  und  schrieb  von  da  am  löten  November: 

^Bei  Gott!  Nicht  umsonst  sollen  mir  Attwood's  diesen 
Bogen  Papier  auf  meinen  Tisch  hingelegt  haben,  nebst  Siegel- 
lack, Federn  und  Allem:  ich  wiU  Euch  nach  dem  letzten  Brief 
von  vorgestern  noch  einen  allerletzten  schreiben,  zumal,  da  ich 
Euch  sagen  muss,  wie  sehr  ich  mich  freue,  dass  Ihr  meine 
„Hora''  leiden  möget;  besonders  Deine  Zeüen,  liebster  Vater, 
haben  mich  gar  zu  sehr  ergriffen,  und  jedesmal,  wenn  Du  mir 
sagst,  dass  Dir  ein  Stück  von  mir  recht  ist,  so  ist's  mir,  als 
hätt'  ich's  noch  einmal  so  lieb,  oder  als  hätt'  ich's  gar  von 
neuem  komponirt  und  eben  fertig  gemacht.  Nun  muss  ich  das 
Lokal  erstlich  besclu-eiben:  Hier  ist  Norwood,  berühmt  wegen 
guter  Luft,  denn  es  liegt  auf  einem  Hügel,  so  hoch,  als  das 
Kreuz  auf  St.  Paul,  sagen  die  Londoner,  und  ich  sitze  Abends 
spät  auf  meinem  Stübchen,  wo  der  Wind  entsetzlich  wild  um's 
Fenster  heult,  während  das  Kaminfeuer  ruhig  brennt,  habe  heut 
einen  Spaziergang  von  zwei  Meilen  gemacht,  die  Luft  hat 
wirklich  sehr  wohlthätig  auf  mich  gewirkt,  und  schon  in  den 
drei  Tagen,  die  ich  hier  bin,  fühle  ich,  wie  ich  stärker  und 
gesunder  geworden  bin. 

Ich  freue  mich  ungemein  darauf,  von  der  Akademie  die 
Hora  zu  hören,  das  Stück  gefällt  Attwood  sehr;  aber  nichts 
macht  hier  so  viel  Glück  als  die  Portraits  von  Euch  Schwestern ; 
die  jungen  Engländer  tanzen  den  Veitstanz,  wenn  ich  sie  unterm 
Arm  heiTinterbringe  und  jeden  Abend  einmal  zeige ;  die  jungen 
Engländerinnen  sagen  einmal  über  das  andere:  ^Sweet  creature^y 
und  ich  sage:  y^They  a/re  indifferent  fretty  indeed'^  ^  kurz,  wenn 
Hensel  nach  England  gehn  will,  so  ist  ihm  die  Familie  Attwood 
und  ihr  Cirkel  gewiss:  er  muss  sie  alle  zeiclmen,  denn  sein 
j^dyle"-  ist  nicht  das  Letzte,  worüber  sie  ausser  sich  sind. 

In  meiner  Schlafstube  steht  zum  Glück  gerade  der  Musik- 


Landaufenthalt.     Enryanthepartitur.  269 

schrank  des  alten  Attwood,  und  der  Schlüssel  steckt  darin,  da 
krame  ich  denn  hemm,  und  wie  ich  neuHcli  ein  Tedeum  von 
Croft  über's  andere  und  zwanzig  Anthems  von  Boyce  finde  und 
in  Psalmen  von  Purcell  wühle,  —  was  fällt  mir  da  in  drei 
dicken  Bänden  auf?  —  Euryanthe,  score  1"^)  Das  war  ein  Fund! 
Nun  lese  ich's  sehr  aufmerksam  durch  und  erquicke  mich  darin; 
der  alte  Herr  hat  sich's  von  Deutschland  aus  kommen  lassen,  um's 
besser  kennen  zu  lernen,  als  aus  dem  Auszug ;  eine  Stelle  schreibe 
ich  mir  Merkwürdigkeit  halber  ab,  es  ist  die  in  ges  ^Der  du 
die  Unschuld  kennst".  Du  weisst,  Fanny,  dass  ich  immer 
behauptete,  da  klänge  es  nach  Blech  wie  nirgends;  und  was 
ist's  ?  der  Herr  von  Weber  hat  dazu  drei  Posaunen,  die  Trom- 
peten, zwei  Hörner  in  es  und  —  zwei  Hörner  in  des!!!  Das 
ist  doch  wohl  toll?  und  süsse  Flöten  giebt's  überall.  S'ist 
eine  liebe  Musik  und  mir  konunt's  sonderbar  vor  gerade  hier 
in  England,  wo  kein  Mensch  sie  kennt  und  kennen  kann,  und 
wo  sie  den  Weber  doch  eigentlich  schändlich  behandelt  haben, 
und  wo  der  Mann  gestorben  ist,  gerade  da  sein  Lieblingswerk 
so  genau  mir  ansehn  zu  können.  Auch  Cherubini's  Eequiem 
und  Anderes  habe  ich  gefunden,  und  so  geht  die  Zeit  sehr 
angenehm  vorbei. 

P.  S.  von  Klingemann. 

In  Berlin  hätte  ein  Aufzug  achttägiges  Stadt-  und 

Theegespräch  veranlasst,  der  gestern  durch  die  Felder  um 
Norwood  ohne  weitere  Störung  der  öffentlichen  Kühe  und  der 
Sabbathordnung  zog.  In  Norwood  lebt  nämlich  einer  der 
distinguirtesten  Esel,  die  je  Disteln  gefressen  haben  (er  kriegt 
aber  nur  Korn)  —  ein  milchweisses  rundes  Thier  voller  Leb- 
haftigkeit und  Gaben,  von  einem  der  Attwood'schen  Söhne,  dem 
Theologen  William,  grossgezogen  und  nun  selber  ziehend, 
nämlich  ein  ganz  kleines  vierrädriges  Fuhrwerk:  In  diesem 
sass  FeKx,  munter  trottirte  der  Donkey  die  Heerstrasse  entlang, 
einige  Hunde  sprangen  nebenher,  und  zu  beiden  Seiten  oder 
hinterher  schritten  durch  Dick  und  Dünn,   Hügel  auf,  Hügel 

t 

*)  Partitur. 


270  Felix  in  England  1829. 

ab  der  Theologe  und  ich ,  jener  stolz  und  hewusst  auf  seinen 
trabenden  unermüdlichen  Esel  blickend  und  nur  beklagend,  dass 
er,  der  Theologe  nämlich,  so  viel  trockene  Bücher  lesen  müsse, 
um  sein  theologisches  Examen  zu  machen.  Auf  dem  Heimweg 
stiessen  wir  auf  noch  einen  Bruder  mit  der  Schwester  und  noch 
einem  Hunde,  Felix  stieg  aus  und  ging  mit  uns,  und  eine 
Caravane  von  einer  Dame,  vier  jungen  Leuten,  dem  Fuhrwerk 
mit  dem  milchweissen  Esel  und  drei  Hunden  zog  gelassen  den 
Hügel  hinauf  in's  Dorf  hinein,  —  ein  ewiger  Vorwurf  füi'  Maler 
und  eins  ihrer  unsterblichsten  Kunstwerke.  Die  ganze  Familie 
besteht  übrigens  aus  Portraits,  und  wir  Neueren  müssen  wieder 
einmal  den  Herrn  von  Göthe  nachahmen  und  an  den  Vicar  von 
Wakefield  denken,  wenn  auch  nur  eine  Tochter  da  ist.  — 
Keiner  sieht  dem  Andern  ähnlich  und  jeder  treibt  sein  Wesen 
für  sich,  und  doch  geht  der  Famüienzug  durch  das  Ganze. 

Dann  kam  unser  Dinner  in  London,  es  ist  wenig  davon 
zu  sagen,  als  dass  Felix  nachher  sich  vierhändig  mit  Mrs. 
Anderson  und  mit  Glanz  vernehmen  liess  und  darauf  nach  Nor- 
wood  wieder  entschwand,  —  er  liess,  im  Gegensatz  des  Bösen, 
den  Duft  seiner  high  talents  und  des  perfect  gentleman  hinter 
sich  —  man  kann  in  der  Fremde  kaum  fassen,  wie  viel  eine 
Engländerin  damit  sagt,  es  steckt  ein  ganzer  Foliant  von  An- 
erkennung darin,  —  ich  kann  mii*  den  Fall  denken,  dass  der 
grosse  Apollo  selber  käme  und  unwiderstehlich  auf  der  Guitarre 
spielte,  und  doch,  wenn  er  etwa  als  freidenkender  Grieche  nicht 
Wein  tränke  mit  der  Frau  vom  Hause,  mit  dem  Bannfluch: 
^He  ü  no  gentleman"'  belegt  wüi'de,  dem  grössten  der  civilisir- 
ten  Welt." 

Felix. 

Hotel  Quillacq.  Calais,  29.  Novbr.  29. 
„Und  so  liegt  England  hinter  mir  und  gehört  mit  zur 
Vergangenheit.  Es  ist  ein  schönes,  liebes  Land,  und  wie  die 
weisse  Küste  eben  untertauchte  und  die  schwarze  französische 
auf,  da  war  mir's,  als  hätte  ich  von  einem  Freunde  Abschied 
genommen,  und  alle  lieben,  freundlichen  Menschen  nickten  mir 


Abreise  von  England.  271 

noch  einmal  zu.  Das  war  ein  grosses  Bild.  Aber  nun  ist  es 
Vergangenheit.  Ich  kann  die  letzten  vierzehn  Tage  in  London 
die  glücklichsten  und  reichsten  nennen,  die  ich  da  genossen 
habe.  Hörn,  dem  ich  alles  zeigen  konnte  und  der  sich  über 
Alles  mit  mii*  freute  und  erstaunte,  durch  den  ich  die  grossen 
Eindrücke  der  Stadt  wieder  neu  empfing,  der  sich  unter  mei- 
nen Freunden  bald  wohl  und  einheimisch  fühlte,  trug  viel 
dazu  bei;  dann  versammelte  sich  alle  Abende  spät  bei  mir 
ein  Kreis  von  Leuten,  wie  er  sich  wohl  selten  zusammen- 
finden mag:  Rosen,  Mühlenfels,  Klingemann,  Kind  und  Hörn, 
das  war  hübsch  zu  hören,  wie  da  das  Gespräch  belebt  und 
froh  ging,  und  wie  nichts  Mattes  oder  Falsches  durchgelassen 
wurde,  sondern  zu  Zeiten  ein  Geschworenengericht  darüber 
zur  Entscheidung  gebildet,  und  wie  alle  die  Menschen  von 
Funken  und  Feuer  sprühten,  wenn  man  sie  anregte,  und  wie 
alle  so  verschieden  und  abweichend  und  doch  über  gewisse 
Punkte  einig  waren,  ohne  sich  je  darüber  verständigt  zu 
haben:  wahrlich,  wenn  ich  so  in  der  Nacht  zu  Hause  kam 
und  nun  wusste  Alle  bei  mir  im  Zimmer  um's  Kamin  sitzend 
zu  finden,  (denn  um  elf  versammelten  wir  uns  gewöhnlich 
erst),  so  gab  mir  das  ein  sonderbares,  glückliches  Gefühl. 
Vorher  war  ich  dann  nicht  in  Gesellschaften,  wie  damals  in 
der  tollen  Season,  sondern  in  den  engeren,  herzlicheren 
Kreisen  meiner  englischen  Bekannten,  und  ein  merkwürdiger, 
interessanter,  ehrenvoller  Augenblick  folgte  dem  andern.  Man 
merkt  zuweilen,  dass  man  etwas  ünvergessUches  eben  erlebt, 
und  so  ein  Gefühl  dui'chfuhr  mich  oft.  0!  was  will  ich  Euch 
nicht  Alles  erzählen!  Wie  werde  ich  mit  einem  Munde 
durchkommen?"  — 


1830  —  1834. 


Im  Laufe  der  Zeit  nahte  denn  auch  für  Hensel  und  Fanny 
das  Ziel  ihrer  Wünsche:  der  Termin  der  Hochzeit  wurde  be- 
stimmt, am  6.  September  wurden  sie  zuerst  aufgeboten.  Abra- 
ham machte  noch  eine  Reise  nach  Hamburg  und  den  Nieder- 
landen, von  wo  er  wunderschöne  Hochzeitsgeschenke  schickte ; 
der  Dankbrief  der  Tochter  ist  interessant  in  Bezug  auf  die 
damaligen  Trachten: 

Berlin,  19.  Septbr.  1829. 

"VVir   sind    nun   schon   so  lange  ohne  Nachrichten 

von  Dir,  lieber  Vater,  dass  wir  aufs  Ungefähr  in  die  Welt 
hineinschreiben  müssen;  vorgestern  haben  wir  einen  Brief  nach 
Frankfurt  geschickt  und  wenn  wir  heut  keinen  von  Dir  er- 
halten, so  wandert  dieser  denselben  Weg.  Statt  von  Dir  zu 
hören,  haben  wir  aber  von  Dir  gesehen,  denn  die  weltberühmte 
Kiste  ist  angekommen  und  ihr  Inhalt  hat  freilich  jede  Vor- 
stellung übertroffen,  Du  hast  einmal  wieder  Deinen  Geschmack 
und  Deine  Pracht  sehr  glänzend  gezeigt  und  jedes  in  seiner 
Art  ist  das  Schönste,  was  ich  gesehen,  Stickereien,  Stoffe, 
Muster,  alles  vollkommen,  Nathan  der  Weise  hat  gewiss  nichts 
Schöneres  von  seinen  Reisen  mitgebracht!  Was  den  wunder- 
schönen Schleier  betrifft,  so  hat  er  hier  die  weiblichen  Ge- 
müther sehr  in  Aufregung  gebracht;  es  ist  nämlich  allein  hier 


^'^^ 


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Hochzeit  von  Fanny  Hensel.  273 

nicht  Mode,  dass  Bräute  Schleier  tragen;  ich  finde  es  aber  so 
schön,  so  passend  und  es  wäre  mir  besonders  meines  rothen 
Halses  wegen  so  vortheilhaft,  dass  ich  die  grösste  Lust  habe, 
es  doch  zu  thun  und  die  Erste  zu  sein,  da  ich  gewiss  die 
Letzte  nicht  wäre;  so  riethen  mir  auch  Alle  hier  im  Hause, 
Hensel  und  viele  Andere,  dann  fürchteten  wir  aber  wieder,  es 
würde  zu  viel  Aufsehen  machen  —  kurz,  der  Process  schwebt 
noch.  Bänder,  Shawls,  alles  ist  von  der  schönsten  Sorte  und 
nochmals  schönsten  Dank  für  Alles. 

Wir  sind  jetzt  hier  sehr  beschäftigt  und  bringen  die 
meisten  Vormittage  in  Läden  zu,  wobei  ich  Mutter's  Unermüd- 
lichkeit nicht  genug  bewundern  kann.  Es  ist,  als  wäre  sie 
nie  wohler,  nie  mehr  in  ihrem  Element,  als  wenn  sie  vor 
Geschäften  kaum  zu  Athem  kommen  kann.  Es  ist  fast  un- 
möglich, so  gradezu  zu  danken,  am  allerwenigsten,  wenn  man 
eigentlich  den  ganzen  Tag  danken  müsste,  so  will  ich's  denn 
hier  thun,  sie  wird  es  lesen,  und  ich  bin  Dir  doch  denselben 
Dank  schuldig,  der  sich,  wenn  er  auch  immer  empfunden 
worden,  doch  gewiss  nie  so  koncentrirt  hat,  als  in  dieser 
Zeit,  wo  ich  zwar  Eure  unmittelbare  Aufsicht,  aber  doch, 
dem  Himmel  und  Euch  sei  Dank,  nicht  das  väterliche  Haus 
verlasse." 

Am  3.  October  1829  war  die  Hochzeit.  Fanny  hatte  sich 
selbst  ein  Orgelstück  komponii't,  welches  in  der  Kirche  vor 
der  Trauung  gespielt  wurde.  Wilmsen  hielt  die  Traurede. 
Natürlich  waren  alle  Bekannten  und  Freunde  versammelt  und 
wohl  nur  die  einzige  Wolke  am  Himmel  Fanny's  war  Felix' 
Abwesenheit.  Sonst  aber  liess  sich  alles  zum  glücklichsten 
Leben  für  das  junge  Paar  an  und  die  Erwartung  wurde  nicht 
getäuscht. 

Hensel  hatte  für  das  erste  Jahr  grosse  Pläne  gehabt, 
denen  Fanny  zwar  nicht  sehr  gläubig,  doch  ein  williges  Ohr 
lieh.  Wir  wissen,  wie  heftig  ihre  Sehnsucht  nach  Italien 
schon  während  der  Schweizer  Reise  des  Jahres  1822  gewesen 
war.  Nun  war  sie  verheirathet  mit  einem  Mann,  der  das 
Land  in  fünfjährigem  Aufenthalt  gründlich  kennen  gelernt 
hatte  und  den  es  jetzt  mit  fast  unwiderstehlicher  Gewalt  trieb 

IHe  Familie  Mendelssohn.  L  18 


274  1830—1834. 

es  seiner  Frau  zu  zeigen.  Und  wie  denn  Hensel  mit  erreg- 
barer Künstlerphantasie  sich  Illusionen  über  reale  Verhältnisse 
gern  hingab,  (er  hielt  eme  Anstellung  in  Italien  für  leicht  er- 
reichbar, etwa  nach  dem  Muster  der  französischen  Akademie 
in  Rom,  eine  preussische,)  so  war  der  Entschluss  gereift,  bald 
Berlin  zu  verlassen  und  eine  Heise  nach  Italien  zu  unter- 
nehmen. Wäre  das  an  und  für  sich  schon  lockend  genug  ge- 
wesen, so  kam  eine  weitere  Kombination  dazu,  die  den  Eeiz 
des  Gedankens  noch  sehr  erhöhen  musste.  Felix  sollte  von 
England  aus  seinerseits,  nach  kurzem  Aufenthalt  in  Berlin, 
nach  Italien  gehen  und  fasste  den  Plan,  seine  Eltern  mit  der 
ganzen  Familie  auch  zu  überreden,  dass  sie  reisten.  Er  schrieb 
darüber  an  Eebecka: 

Mein  liebstes  Beckchen! 

Glasgow,  den  10.  Aug.  29. 
^Höre  an!  Wir  wollen  jetzt  mit  emander  froh  plaudern 
und  von  der  Zukunft  sprechen,  von  der  ich  vielleicht  jetzt 
mehr  weiss  als  Du,  denn  ich  male  viel  daran  herum  und  will 
Dir  nun  hier  meinen  Hauptplan  mittheilen,  darum  schreibe  ich 
an  Dich,  oder  vielmehr  darum  setze  ich  mich  auf  den  Sopha 
und  spreche  Dir  in's  Ohr,  leise.  Von  Glasgow  tönt's  hinüber 
und  im  Augenblick  ist  die  Entfernung  weg,  denn  Du  hast  gar 
keinen  Begriff,  wie  ich  Dich  liebe  und  wie  nahe  ich  mich  Dir 
denken  muss,  um  froh  zu  sein,  und  wie  jede  frohe  Stunde  Du 
mir  verschaffst,  und  wie  ich  in  meinem  Leben  nie  anders  den- 
ken und  fühlen  werde.  Nie!  —  Kannst  ein  dickes  Haus  auf 
mich  bauen,  ich  halte  fest.  Aber  es  ist  sonderbar,  dass  ich 
keine  Note  schreiben  könnte,  wärst  Du  nicht  in  der  Welt, 
möcht'  auch  nicht  leben.  Guten  Abend,  liebes  Beckchen!  Hör' 
meinen  Hauptplan;  aber  sag'  ihn  nicht  weiter,  denn  kein 
Mensch  erfährt  ihn,  als  Du,  und  keiner  soll  ihn  erfahren,  bis 
ich  ihn  erfülle.  Niemand  muss  das  wissen,  als  wir  beide,  und 
dann  soll's  auf  einmal  losbrechen.  Willst  Du's  Fanny  und 
Hensel  sagen,  so  ist's  gut,  vielleicht  findest  Du's  sogar  noth- 
wendig ;  diese  sind  aber  die  Eüizigen,  denen  Du's  sagen  darfst, 


Keisepläne.  275 

bei  allen  anderen  ^eb  das  erste  Beispiel.  —  Nun  geht  der 
Kongress  zwischen  uns  Beiden  an.  —  Von  liier  aus  verschweigst 
Du  Alles:  — 

I.  Ich  werde  in  Berlin  wohl  etwas  früher  eintreffen,  als 
ich  dachte;  die  Gründe,  warum  ich  früher  komme  und  länger 
bleibe,  sage  ich  Dir  und  Euch  Allen  mündlich,  wenn  ich  komme. 
Ihr  werdet  dann  zufrieden  sein.  Im  Februar  gehe  ich  darauf 
nach  Italien,  werde  aber  dann  nicht,  wie  ich  dachte,  drei 
oder  vier  Jahre  ausbleiben,  sondern  nicht  einmal  so  lange  als 
jetzt.  Der  Grund  ist  einfach  der:  ich  werde  komponiren 
müssen,  viel  und  fleissig  und  gut ;  das  kann  und  will  ich  aber 
nirgends  als  bei  Dir.  Und  so  werde  ich  denn,  im  Fall  ich 
meine  Reisen  später  fortsetze,  immer  nach  BerKn  gehen  und 
da  komponiren,  was  ich  dann  aussen  den  Leuten  spiele  und 
aufführe,  dann  wieder  bei  Dir  komponiren,  dann  wieder  auf- 
führen, das  mag  eine  Zeitlang  so  gehen,  dann  aber  bleiben 
wir  zusammen  und  für  lange,  denn  ich  wül  womöglich  in  Berliu 
mich  festsetzen.  So  dächt'  ich,  sähen  wir  uns  oft,  froh,  immer 
neu,  in  der  nächsten  Zeit,  und  die  Sache  wäre  ganz  hübsch. 
—  Nun  aber 

n.  Ich,  von  Gottes  Gnaden,  Ich  F.  M.  B.  Esquire,  Ich 
will  die  Eltern  dazu  bringen,  im  nächsten  Frühling  nach 
Italien  zu  gehen  und  mit  Dir  mich  in  Rom  zu  besuchen,  zu 
Ostern.  Ich  will's.  Und  ich  glaube,  ich  werde  es  können. 
Zweifle  nicht  an  der  Möglichkeit,  denn  ich  hab's  reiflich  über- 
legt und  es  geht.  Will  Dir  auch  sagen,  wie?  Vater  hat  es 
längst  gewünscht,  das  Land  zu  sehen,  nur  fehlte  ihm  der 
Entschluss  und  er  scheute  die  Unbequemlichkeit,  auch  hielt 
ihn  Mutter  ab.  Komme  ich  nun  wieder,  so  bin  ich  Schooss- 
kind  und  kann  viel  mit  Quälen  durchsetzen,  wie  Du  weisst, 
auch  geht  Mutter  v/ohl  schon  lieber,  wenn  sie  einen  Theil  ihres 
Hauses  da  findet,  den  Entschluss  erstürme  ich  dann  (weiss 
auch  schon  wie?)  und  die  Unbequemlichkeit  kann  ich  sehr  er- 
leichtem, denn  ich  kenne  nun  aus  den  Hochlanden  schlimmes 
Reisen,  weiss,  wie  ihm  abzuhelfen,  und  komme  Euch  weit  ent- 
gegen. Ich  bringe  übrigens  noch  für  Euch  AUe  wahrscheinlich 
eine  üeberraschung  mit,   die   mir  viel  Kredit  geben  und  zum 

18* 


276  1830-1834. 

Erstürmen  helfen  wird;  es  ist  noch  nngewiss,  also  kann  ich 
noch  nichts  sagen,  Du  wirst  aber  sehen.  Am  Uten  December*) 
oder  an  der  silbernen  Hochzeit  mach'  ich's.  Alles  ist  vorbereitet 
in  mir,  es  ist  mein  höchster  Wunsch.  Ich  werde  es  klug  an- 
fangen. Gott  wird  helfen,  da  wird  es  gehen.  Nun  höre,  was 
Du  dabei  zu  thun  hast:  Nichts.  Schweige  von  Allem  und 
sprich,  als  hätte  ich  nicht  geschrieben.  Brich  das  Gespräch 
ab,  wenn  von  Italien  die  Hede  kommt ;  ferner  lass  auch  Fanny 
und  Hensel  die  Eltern  garnicht  mit  Bitten  darüber  angehen. 
Ich  wiU  aus  den  Wolken  damit  fallen,  dann  schlägt  es  besser 
ein.  Und  sieh  zu,  dass  Du  gelegentlich  erfährst,  wie  es  mit 
Hensel's  Hinkommen  steht;  ich  treibe  ihn  tüchtig  dazu  in  diesem 
Briefe,  und  wenn  Du  mir  antworten  willst,  so  schreibe  an 
Klingemann  und  gieb  den  Brief  selbst  auf  die  Post.  Hast  Du 
Nichts  zu  antworten,  so  antworte  lieber  nicht.  Und  nun  sage, 
was  Du  dazu  meinst?  Eine  goldene  Zeit  soll's  werden  und 
ein  Blumenkranz  von  Tagen.  Wir  wollen  uns  im  Vatican 
amüsiren,  denn  hinkommen  werdet  Ihr,  und  dann  ist  Alles  recht 
hübsch.  Du  sagst,  Du  kennst  „die  Eltern  und  den  Garten  und 
deshalb  würde  nichts  daraus?"  Ich  aber  sage,  ich  kenne  die 
Eltern  auch,  und  Italien  ist  auch  ein  Garten  und  es  wird  was 
daraus.  Nun  ist's  vorbei;  ich  gehe  aus  der  Stube,  Du  willst 
mich  am  Flausrock  festhalten,  ich  laufe  aber  doch  fort,  kucke 
aber  natürlich  gleich  wieder  durch  die  Thüre.  Noch  fragst 
Du,  ob  Du  nächsten  Winter  zwei  Stuben  bewohnen  sollst? 
Nein,  denn  ich  brauche  eine  davon  und  will  während  meines 
Aufenthaltes  meder  malen.  Gesegnete  Malzeit!  Denk'  an  Italien! 
Es  geht  nun  stark  zum  Wiedersehen.  Ich  bin  wieder  frisch 
und  es  saust  mir  mancherlei  Musik  durch  den  Kopf.  Mündlich! 
So  möge  denn  gelingen,  was  wir  hoffen.  — 

Dein  Bruder." 

Dasselbe  Thema  wird  in  einem  späteren  Brief  an  die  Ge- 
schwister weiter  behandelt,  in  dem  auch  die  ersten  näheren 
Andeutungen  über  das  Mittel,  wodurch  Felix  seinen  Zweck  zu 
erreichen  hofft,  das  „Liederspiel",  gemacht  werden. 


^)  Des  Vaters  Geburtstag. 


Pläne  zur  silbernen  Hochzeit.  277 

35,  Bury  Street,  St.  James, 

10.  Sept.  1829. 

„Die  Sache  ist  die  —  fängt  ein  junges  Frauenzimmer,  das 
wir  beide  hochachten,  lieber  Bruder,  ihre  Berichte  gern  an,  und 
es  folgt  dann  nichts  nach,  liier  brauch  ich's  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  ich  ihr  Bruder  bin  und  dass  etwas  Wichtiges 
folgt  —  die  Sache  ist  also  die,  dass  ein  Comite'  niedergesetzt 
werden  muss  zur  Anordnung  silberner  Feierlichkeiten.  Früher 
hatte  ich  mir  Fanny  als  Präsident  gedacht,  sie  hat  aber  bei 
ihrem  ersten  Vorschlage  soviel  auf  eine  gewisse  Familie  Eück- 
sicht  genommen  (z.  B.  Abends  sind  wir  allein  bei  Hensel's, 
Mittag  essen  wir  bei  Hensel's  etc.),  dass  ich  sie  der  Parthei- 
lichkeit  schuldig  erkläre,  perhon-escire,  absetze,  und  Beckchen 
muss  CJiairman  sein.  Du  und  Fanny  und  ich,  wir  sind  ordent- 
liche Mitglieder,  Droysen  ist  ein  Ehrenmitglied  und  Klingemann 
ist  auswärtiges  Mitglied.  Nun  geht's  los.  Ich  bitte  um's  Wort 
imd  habe  einen  Vorschlag  zu  machen:  wie  wär's,  wenn  wir 
den  Polterabend  so  feierten:  drei  Liederspiele,  jedes  in  einem 
Aufzug,  mit  Kostüm,  Gesang  etc.  ordentlich  dargestellt,  und 
ein  vollständiges  Orchester  unten  (letzteres  will  ich  übrigens 
zn  allen  Hochzeitsfeierlichkeiten  aus  eigenen  Mitteln  bestreiten 
und  zu  dem  Ende  hier  eine  kleine  Musikspeculation  machen), 
die  Titel  folgende:  No.  1  Soldatenliebschaft,  nämlich  mein  be- 
rühmtes Machwerk  des  Namens*),  das  den  Eltern  immer  noch 
lieb  ist,  gegeben  ohne  Veränderung  einer  Note  und  ganz  mit 
der  Besetzung  von  damals.  Was  meint  Ihr?  Ist's  nicht  lu- 
minös?  Dann  ein  neues  Liederspiel  von  Fanny,  das  Hensel 
dichten  muss,  nett,  luftig,  lieblich  an  allen  Ecken,  sehr  zart 
und  schön.  Dann  eine  Idylle  von  mir,  zu  der  mir  vieles  im 
Kopf  herimfährt;  es  muss  hübsch  werden,  und  soU  ein  gesetztes 
Ehepaar  drin  vorkommen,  das  Ihr  beide  Hensels  agiren  müsst, 
ferner  eine  Nachbarstochter,  ein  toller  Flurschütz,  ein  verklei- 
deter Seemann  oder  Soldat  oder  was  weiss  ich?  Ein  Bauern- 
zuff  und  a  dwr  über  und  über.    Dazwischen  kann  dann  Eis  und 


*)  Es  war  eine  der  ersten  Compositionen  von  Felix. 


278  1830-1834. 

Kuchen,    und  Allegorie   und  Pro-  und  Epilog   passend   Statt 
finden;  ich  denke,   es  amüsirt  die  Eltern  weit  mehr,   als  ein 
blosses  Instrumentalconcert.    Mit  meinen  übrigen  Plänen  rücke 
ich  heut  noch  nicht  heraus,   sondern  ^vill  erst  Euem  Gegen- 
vorschlag, Beifall  für  den  meinigen  und  Ideen  für  den  Hoch- 
zeitstag vernehmen,  die  Ihr  mir  gleich  umgehend  mittheilen 
müsst.  —  Und  hei  der  Gelegenheit  werde  bezeugt,   o  Hensel, 
dass   Du  ein  grosser  Mann  bist.     Deine  Zeichnung  ist  ganz 
himmlisch  und  macht  mir  wahre  Freude,  wenn  sie  mich  anguckt ; 
denn  das  thut  sie;   es  ist  so  genial  und  schön  und  doch  ähn- 
lich und  doch  komisch  und  so  fort,   wo,  Teufel,  kriegst  Du 
solche  Einfälle  her?    Auch  Fanny's  grosses  Portrait  ist  schön, 
aber  es  gefällt  mir  nicht.    Ich  sehe,   wie  herrlich  es  gezeich- 
net, wie  sprechend  ähnlich  es  ist;  aber  in  der  Stellung,  Klei- 
dung, im  Blick,  in  der  ganzen  sybiUigen  Prophetenhaftigkeit 
oder  schwärmenden  Begeisterung   ist   mein  Cantor  nicht  ge- 
troffen!    Da  liegt  die  Begeisterung  nicht  so  oben  auf,   mehr 
innen  drin  und  zeigt  sich  nicht  in  gen  Himmel  sehn,   oder  im 
Ausstrecken  des  Annes,   oder  im  wilden  Blumenkranz,  denn 
alles  das  sieht  einer  auf  den  ersten  Blick!    Das  muss  er  aber 
nicht,  sondern  erst  nach  und  nach  di-aus  klug  werden.    Nimm 
mir  das  nicht  übel,  Hofmaler;  aber  ich  kenne  meine  Schwester 
doch  länger  als  Du,   habe  sie  als  Kind  in  meinen  Ai^men  ge- 
tragen (üebertreibung!)  und  bin  nun  mal  ein  ungeleckter,  un- 
dankbarer Brummbär,   der  Dir  für  die  Sonnenstrahlen,  die  Du 
mir  so  von  Zeit  zu  Zeit  herüberwirfst,   nicht  einmal  genug 
danken  kann;  wenn  Du  mich  sehn  könntest,  wie  ich  oft  still 
Deinen  Zeichnungen  gegenüber  sitze  und  dann  in  ihrer  Gesell- 
schaft bin  und  nirgends  weniger  als  in  London,   so  wäre  das 
eben  der  Dank,  der  Dir  gebührte ;  aber  sagen !  ?    Pfui  über  die 
Worte.     So  nimm  denn  meine  Freude  als  Dank  hin  darüber, 
dass  es  Dir  gegeben  ist,   in  Formen  hinzustellen,  was  unser 
einem  so  wohl  als  Bild  vorschwebt,  aber  doch  nur  nebelig.    Du 
kannst  es  festhalten. 

D,  11,  Heut  frühstückte  ich  bei  Klingemann,  und  unser 
idyllisches  Liederspiel  rückt  sehr  vor  und  fängt  an.  Form  und 
Gestalt  zu  gewinnen;  ich  denke,  es  soll  nett  werden,  und  Du 


Abermals  Reisepläne.  279 

wirst  prächtig  eingeführt,  Hensel;  fürchte  Dich  nicht  vor  dem 
Singen,  es  ist  für  Dich  gesorgt;  der  Flurschütz  ist  ein  Haupt- 
kerl, und  Devrient  soll  wüthen. 

Nun  ein  Paar  Worte  an  Dich,  Beckchen,  meine  ruhige 
Bundesgenossin.  Aber  ein  Paar  wichtige:  Ich  habe  nämlich 
in  diesen  Tagen  fast  die  Gewissheit  eingesehen,  dass  unser 
Plan  zu  Stande  kommt,  dass  wenigstens  die  Eltern  keine 
Hindemisse  in  den  Weg  legen  werden,  und  die  habe  ich  durch 
einen  Brief  von  Vater  erlangt.  Vater  hat  erstlich  die  Reiselust 
wieder  bekommen,  das  ist  ein  grosses  Moment.  Zweitens  würde 
es  ihm  lieb  sein,  mit  mir  ein  Weilchen  in  Holland  umherzu- 
reisen,  woraus  diesmal  wohl  leider  nicht  viel  werden  wird,  das 
ist  ein  grosses;  endlich  scheint  er  die  Idee,  ich  müsse  allein 
umherfahren,  um  Selbstständigkeit  zu  lernen,  fast  aufgegeben 
zu  haben,  und  giebt  viel  auf  meinen  glücklichen  Erfolg  in 
diesem  Lande.  Das  ist  die  Hauptsache.  Ich  sage  Dir,  Du 
sollst  Orangenbäume  sehen.  Wie  mild  und  weich  und  freund- 
lich Vaters  Brief  ist,  kann  ich  Dir  garnicht  beschreiben,  und 
sein  eigentlicher  Eeiseplan  ist  auch  zu  weitläufig,  als  dass  ich 
ihn  Dir  anders  als  mündlich  mittheilen  sollte,  aber  das  genüge 
Dir,  dass  er  mir  ein  Beweis  ist,  dass  es  gelingen  wird.  Ja, 
ein  unumstösslicher  Beweis.  Freue  Dich  einmal  ein  Bischen. 
Brauche  übrigens  mein  Eecept  aus  dem  vorigen  Briefe  fort  und 
sprich  von  Nichts.  Noch  dies  eine:  Aus  Vaters  Brief  folgt 
auch,  dass  ich  solange  im  Winter  bei  Euch  bleiben  werde,  als 
wir  mögen.  (Schweig!)  Vieles  Gute  folgt  daraus  und  Schönes 
und  Liebes.  Kurz,  ich  denke,  wenn  wir  im  December  zu- 
sammenkommen,  so  ist  für's  Auseinandergehen  garnicht  sehi' 

gesorgt. 

Wenn  ich  wiederkomme,  werdet  Ihr  mich  gewiss  sehr  viel 
Englisch  anreden,  um  meine  Aussprache  zu  prüfen,  Fehler  zu 
jagen  und  dergleichen.  Ich  werde  Euch  nicht  anworten  und 
keinen  einzigen  meiner  gebildeten  Laute  von  mir  geben,  kein 
y^never  mmd'\  kein  „/  sm/'.  „Dieser  Rock  ist  gut  genug,  um 
drin  zu  trinken",  sagt  Toby;  „diese  Zunge  ist  gut  genug,  um 
drin  zu  raspeln,"  sag  ich,  und  ist  sie  das  nicht,  so  mögt  Du* 
sie  räuchern  und  essen.     A  propos,  was  ich  esse?    Neulich 


280  1830—1834. 

erwähnte  einer  der  frischen  Austern  und  da  wnrde  ich  senti- 
mental, weil  ich  mich  erinnerte,  wie  sie  im  Frühling  hier  schlecht 
worden  nnd  ausgingen.  Seitdem  esse  ich  sie  aus  Melancholie 
und  denke  dran,  wie  die  Zeit  vergeht.  In  E-egentstreet  stand 
ich  gestern  still,  wo  eine  Karte  von  Holland  aushing  und 
machte  mir  auf  der  bunten  Strasse  meinen  ruhigen  Reiseplan, 
wie  er  im  Familienbrief  steht,  und  sah  mir  den  Weg  zwischen 
Elherfeld  und  Berlin  an.  —  Das  Liederspiel  wird  nett,  denke 
ich:  Hensel  und  Fanny  ein  altes  Ehepaar,  Hensel  hasst  die 
Musik,  Fanny  hasst  die  Soldaten  und  ihr  Sohn  kommt  nun  in 
einen  fahrenden  Musikanten  verkleidet  zurück,  ist  aber  eigent- 
licher Soldat  und  vergisst  sich  alle  Augenblicke  und  lässt  den 
Kriegsmann  durchgucken ;  nun  mag  ihn  der  Vater  nicht  wegen 
der  Verkleidung,  die  Mutter  nicht  wegen  der  durchguckenden 
Wirklichkeit,  Beide  haben  ihn  doch  aber  lieb^  und  der  Flur- 
schütz macht  sich  Alles  zu  Nutze;  er  ist  auch  ein  Fremder 
und  da  die  alten  Schulzen  Nachi'icht  vom  Wiederkommen  des 
Sohns  erhalten,  so  halten  sie  diesen  für  den  Sohn  und  sparen 
sich  gegenseitig  die  üeberraschung  für  den  folgenden  Tag  auf, 
wo  Geburts-  und  Amtsjubiläumstag  von  Hensel  ist,  bemühen 
sich  auch,  den  Eüpel  Ueb  zu  haben,  versperren  ihrem  Sohne 
die  Gelegenheit,  zur  Nachbarstochter  zu  kommen  und  klemmen 
immer  den  Flurschützen  ein,  der  dann  statt  des  Soldaten  ihr 
ein  tolles  Ständchen  auf  seiner  Fiedel  bringt ;  am  Morgen  erklärt 
sich  Alles  und  erheitert  sich;  das  Stück  fängt  nämlich  den 
Abend  unter  der  Linde  an,  spielt  die  Nacht  durch,  wo  das 
Ständchen  und  der  Zank  der  beiden  jungen  Leute  vor  sich 
geht,  und  schliesst  am  Jubiiäumsmorgen.  Was  meinst  Du  zu 
diesen  rohen  Entwürfen?  Mehr  zur  Zeit;  froh  soU  es  sein  und 
wir  nicht  minder."  — 

So  gingen  denn  im  Winter  1829/30  zwei  Dinge  mit  ein- 
ander vorwärts:  die  Vorbereitungen  zur  silbernen  Hochzeit  der 
Eltern,  am  26.  December,  und  die,  wenn  man  so  sagen  darf, 
„Verschwörung"  der  Jugend,  wegen  der  italiänischen  Reise, 
Ersteres,  die  Aufführung,  gelang  vollkommen ;  aus  jenem  „rohen 
Entwurf",  den  Felix  im  letzten  Brief  mittheilt,  hatte  er  da» 
reizende  Liederspiel  „die  Heimkehr  aus  der  Fremde"  gemacht. 


Das  Liederspiel:    Die  Heimkehr.  281 

Der  Text  war  von  Klingemann.  Ganz  besonders  machte  Hensel 
in  seiner  Eolle  als  Schulze  Furore,  für  den,  da  er  absolut  un- 
musikalisch war,  Felix  ein  Musikstück  auf  einen  Ton  kom- 
ponirt  hatte.  Mantius  gab  den  Sohn,  Devrient  den  Kauz, 
ßebecka  die  Lisbeth,  Wilhelm  und  Fanny  die  Schulzen.  Es 
war  ein  in  seiner  Art  einziges  Fest  und  Alles  ging  vortrefflich 
und  sehr  nach  Wunsch. 

Nicht  dasselbe  kann  man  von  dem  italiänischen  Projekt 
sagen:  Es  scheiterte  vollständig  an  dem  entschiedenen  Wider- 
spruch der  Mutter  Lea,  die  keine  grosse  Eeisefreundin  war 
und  sich  in  dem  schönen  Haus  und  Garten  viel  zu  behaglich 
fühlte,  um  es  ohne  zwingenden  Grund  zu  verlassen.  Dass  das 
Aufgeben  des  lockenden  Plans,  der  wirklich  geeignet  genug 
war,  den  Kopf  zu  verdrehen,  nicht  ohne  viel  Herzbrechen  ab- 
ging, versteht  sich ;  es  kam  dazu,  dass  im  März  Eebecka  zuerst, 
dann  FeUx  und  Paul  die  Masern  bekamen,  um  diesen  Winter 
so  voll  petites  mishres  de  la  vie  privSe  zu  machen ,  wie  sobald 
keiner  in  der  Mendelssohnschen  Familie  gewesen  war.  — 

Im  Sommer  1830  wurde  Hensel's  ein  ungemein  schwäch- 
licher Knabe*)  zwei  Monat  vor  der  Zeit  geboren.  An  der 
Lebensfähigkeit  dieses  Kindes  wurde  lange  gezweifelt  und  nur 
die  sorgfältigste  Pflege  konnte  es  erhalten.  Dass  dies  Ereig- 
niss  von  bestimmendem  Einfluss  auf  das  Leben  und  die  Pläne 
des  Henselschen  Paares  wurde,  versteht  sich.  Vor  allen  Dingen 
wurden  damit  alle  italiänischen  Eeise-Ideen  auf  Jahre  hinaus 
vertagt.  Das  war  in  einer  Beziehung  gewiss  ein  Glück:  es 
schied  damit  ein  Moment  der  Unruhe  und  Ungewissheit  aus 
ihrem  Leben,  was  sich  in  Fanny's  Tagebuch  aus  dem  ersten 
Ehejahr  recht  deutlich  erkennen  lässt;  und  es  ergab  sich  dafür 
die  Nothwendigkeit,  feste  Pläne  für  das  heimathliche,  häusUche 
Leben  zu  entwerfen,  welches  sie  sich  gar  behaglich  und  erfreu- 
lich zurechtzimmerten.  Abraham  hatte  im  Anschluss  an  den 
Gartensaal  ein  Atelier  bauen  und  zweckmässig  einrichten  lassen, 
was  füi*  Hensel  den  unschätzbaren  Vortheil  hatte,  dass  er  nicht, 
wie  die  meisten  Maler,  genöthigt  war,  seine  Arbeit  ausser  dem 


*)  Der  Verfasser  dieses  Buches. 


282  1830—1834. 

Hause  zu  thun,  dass  er  jeden  freien  Augenblick  seiner  Frau 
widmen,  dass  sie  häufig  im  Atelier  sein,  mit  ihrer  Arbeit  da- 
selbst sitzen  und  doch  den  Haushalt  und  ihr  Kind  im  Auge 
behalten  konnte.  Im  Januar  1831  bezog  er  dies  Atelier  und 
eröffnete  gleichzeitig  ein  Schüleratelier,  was  an  das  seinige 
anstossend  gebaut  war  und  sogleich  von  mehreren  jungen  Leuten 
besucht  wurde,  die  übrigens  auch,  wo  es  anging,  zu  allen 
Festen,  Geburtstagen,  Weihnachten  zugezogen  wurden  und  durch 
Heiterkeit  und  witzige  Einfälle  viel  zu  dem  Gelingen  aller 
Vergnügungen  beitrugen. 

Hensel  entwickelte  in  diesen  glücklichen  Verhältnissen 
eine  unter  so  günstigen  Bedingungen  sehr  erfolgreiche  Thätig- 
keit.  Gleich  Morgens  nach  dem  Frühstück  ging  er  ins  Atelier 
und  arbeitete  hier  fast  ohne  Unterbrechung  bis  zum  Dunkel- 
werden. Nach  dem  Essen,  was  um  halbfünf  Uhr  stattfand, 
wurde  entweder  im  Sommer  noch  gemalt,  oder,  wenn  es  schon 
zu  dunkel  war,  im  Garten  die  nothwendige  Bewegung  und 
Genuss  der  frischen  Luft  gewöhnlich  bei  dem  durch  ihn  nach 
Berlin  verpflanzten  und  mit  Leidenschaft  kultivirten  Bocciaspiel 
gesucht.  Für  die  Abende  aber,  namentlich  im  Winter,  wo 
der  Garten  keine  Zerstreuung  bot,  hatte  er  wieder  künst- 
lerische Beschäftigung  mit  dem  Bleistift.  Die  Portraitsammlung 
wuchs  durch  diese  Abendthätigkeit  zu  achtungswerther  Grösse. 
Aus  unbedeutenden  Anfängen  war  sie  entstanden;  kleine 
Büchelchen  nahmen  hin  und  wieder  das  Bild  irgend  eines 
Freundes,  flüchtig  gezeichnet,  auf.  AUmälig  aber  vergrösserte 
sich  das  Format  und  mit  des  Künstlers  wachsender  Virtuosität 
in  der  Behandlung  des  Bleistifts  und  im  Auffassen  der  Aehn- 
lichkeit  wurden  auch  die  Portraits  schöner  und  ausdrucksvoller. 
Bald  -viTirden  diese  Sammlungen  bekannt,  die  Bände  mehrten 
sich  und  er  hinterliess  deren  siebenundvierzig  mit  über  tausend 
Köpfen.*)  Die  früheren  Zeichnungen  sind  ausschliesslich  mit 
dem  spitzen  und  ziemlich  harten  Bleistift  gemacht:  die  Formen 
scharf  mit  Linien  umschrieben,  aber  noch  ziemlich  steif,  die 
Ausführung  des  Details  sehr  sauber  und  fein,   aber  ängstlich; 


•)  Im  Besitze   des  Verfassers.    Einige    der  interessantesten   Blätter  sind  in  vor- 
xäglicher  phototypischer  Nachhildung  veröffentlicht. 


Portraitsammlung  Wilhelm  Hensels.  283 

es  fehlt  an  Rundung  und  Weiche,  die  Lichter  sind  mit  Weiss 
aufgesetzt.  Man  merkt  der  ganzen  Zeichenart  die  frühere  Be- 
schäftigung mit  Radirungen  an,  es  hat  etwas  von  der  Schärfe 
und  Härte  des  Kupferstichs.  Bald  aber  tritt  der  Gebrauch 
des  Wischers  und  die  Anwendung  des  w^eichen  und  immer 
weicheren  Bleistifts  ein  und  diese  Zeichenart  wird  aUmählig 
zu  hoher  Vollendung,  namentlich  in  Verbindung  mit  Papier 
pelU  und  ausradirten  Lichtem  ausgebildet.  Die  Behandlung 
wird  immer  freier  und  genialer,  der  Strich  tritt  immer  mehr 
zurück,  die  gewischte  Fläche  immer  mehr  in  den  Vordergrund, 
die  Fonn  wird  nicht  mehr  durch  umschreibende  Linien,  son- 
dern dui'ch  weiche  Schatten  dargestellt,  namentlich  die  Be- 
handlung des  Haares  ist  von  grosser  Schönheit.  Es  sind 
schliesslich  kaum  mehr  Zeichnungen,  sondern  Gemälde,  schwarz 
in  schwarz.  —  So  die  Technik.  Damit  Hand  in  Hand  geht 
eine  grosse  Veränderung  in  der  Auffassung  der  darzustellenden 
Menschen,  eine  andere  Ansicht  von  der  Aufgabe  des  Portraits. 
Li  den  ersten  Bänden  wird  eine  möglichst  treue,  wenn  man  so 
will,  daguerreotypartige  Wiedergabe  des  Gesichts  erstrebt. 
Daher  völlige  Vernachlässigung  alles  Anderen,  nur  objektive 
Kopirung  der  Gesichtszüge.  Allmäüg  aber  tritt  die  individuelle, 
künstlerische  Auffassung  mehr  in  den  Vordergrund,  der  zu 
Portraitirende  wird  gewissermassen  nur  Rohmaterial,  Motiv  zu 
einem  Bilde.  Ist  nun  ein  Gesicht  recht  charakteristisch,  so 
machte  Hensel  auch  wohl  in  den  letzten  Jaliren  ein  voll- 
kommen treues  Bild  von  ihm.  Gewöhnlich  aber  gewinnt 
eine  idealisirende  und  namentlich  verschönernde,  verjüngende 
Richtung  die  Oberhand  —  Fanny  nannte  das  einmal  treffend: 
-Wilhelm  zeichnet  eine  Grossmutter  in's  Stechkissen."  —  Durch 

77 

Umgebung  oft  landschaftlicher,  oft  symbolischer  Natur  (\vie 
z.  B.  b3i  dem  Astronomen  Quetelet  der  gestirnte  Himmel)  soll 
der  Charakter  des  Menschen  näher  bezeichnet  werden,  es  sind 
auch  hierin,  wie  in  der  Technili,  mehr  Bilder  nach  gegebenen 
Motiven,  als  Portraits,  freie  Phantasien  auf  ein  Gesicht.  Und 
bei  alledem  haben  selbst  diese,  auf  den  ersten  Anblick  kaum 
ähnlichen  Zeichnungen  das  Eigenthümliche,  dass  man  sich  im- 
mer mehr  und  mehr  in  sie  hineinsieht,    weil  sie  eben  die  ver- 


284  1830—1834. 

geistigte  Auffassung  eines    geistreichen,    künstlerischen  Auges 
darstellen  und  so  eine   zv/ingende  Gewalt  auf  den  Beschauer 
ausüben.  —  Die  gelungeneren   unter   den  Zeichnungen  dieser 
letzten  Bände    gehören   wohl   zu   dem  Vollendetsten,   was  in 
solcher  Art  von  irgend  einem  Künstler  geschaffen  worden  ist. 
—  Aber  noch  in  anderer  Beziehung  haben  die  Albums  grossen 
Werth;  und  zwar  einen  Werth,    der   sich  mit  der  Zeit   sehr 
steigern  wird;  sie  sind  interessante  Kostüm-  und  Trachtendar- 
Stallungen   über  einen  Zeitraum   von   beinahe  fünfzig  Jahren. 
Und  schliesslich  gewähren   die  fast   ausnahmslos  den  Bildern 
beigefügten  Autographen  der  dargestellten  Personen  noch  ein 
ganz  besonderes  Interesse;  —  allerdings  fast  nur  in  formeller 
Hinsicht ;  denn  unter  den  vielen  Hunderten  von  Unterschriften 
sind  kaum  ein  Dutzend  wirklich  hübsch   und   charakteristich. 
Uns  aber   giebt   die  Sammlung   ein   lebendiges  Bild   von 
der  ausgebreiteten  Geselligkeit  des  Henselschen  Hauses.    Alle 
diese,  gewöhnlich  durch  ii-gend  eine  hervorragende  Eigenschaft  — 
Geist,  Talent,  Schönheit,  und  wäre  es  auch  nur  Eang  —  aus- 
gezeichneten Personen  standen   in   mehr   oder  weniger  nahen 
Beziehungen  zu  Hensels  und  Mendelssohns.    Dass  die  Künstler- 
welt am  reichhaltigsten  vertreten  ist,  liegt   in  der  Natur  der 
Sache.      Von    bedeutenderen    Musikern    wären    zu    nennen: 
C.  M.  V.  Weber,    Zelter,   Paganini,   Henselt,    Gounod,    Hiller, 
Ernst,  Liszt,  Clara  Schumann,  natürlich  Felix  in  verschiedenen 
Bildern;  die  Malerei  ist  u.  A.  vertreten  durch  Cornelius,  Ingres, 
Horace  Vemet,  Magnus,  Kopisch,  Verboekhoven,  Kaulbach  und 
Max  V.  Schwindt;  das  Theater  durch  die  Müder,  die  Rachel-Felix, 
Seydelmann,    die  Novello,   Lablache,    die  Grisi,  die  Pasta,  die 
Ungher-Sabatier,  die  Schröder-Devrient.    Die  Litteratur  sendet 
als   Repräsentanten  La  Motte  Fouque,    Theodor  Körner,    Cl. 
Brentano,  Bettina  von  Arnim,  E.  T.  A.  Hoffniann,  Tieck,  Vam- 
hagen,   H.  Heine,   Goethe,   Steffens,    die  Austin,   Paul  Heyse; 
Thorwaldsen,   Rauch  und  Kiss   repräsentii-en   die    Bildhauer, 
Schmkel  die  Architekten;  während  von  Männern  der  Wissen- 
schaft Hegel,  Gans,  Bunsen,  Humboldt,  Jacob  Grimm,  Lepsius, 
Böckh,  Quetelet,  Jacoby,  Dirichlet,  Ranke  und  Ehrenberg  sich 
linden.    Sie  wurden  fast  Alle  Abends,  während  Musik  gemacht 


Portraitsammlung.    Sonntagfsmusiken.  285 

wurde,  oder  die  lebhafteste  Unterhaltung  im  Gang  war,  ge- 
zeichnet, manchmal  sogar,  ohne  dass  sie  es  selbst  wussten. 
Das  eben  gab  die  Lebendigkeit  und  Natürlichkeit  von  Hensels 
Auffassung,  dass  er  kein  steifes,  gelangweiltes  „Sitzen"  ver- 
langte, sondern  den  Menschen  frei  gewähren,  sprechen  und 
sich  bewegen  Hess.  Und  hatte  er  so  ein  eigenes  Talent,  das 
Leben  aufzufassen,  so  besass  er  andererseits  die  Gabe,  den 
Tod  würdig,  ernst  und  schön  darzustellen,  eine  Gabe,  die  sich 
selbst  in  den  schwersten  Momenten  des  Lebens  bewährte. 
Wie  vielen  hat  er  so  noch  die  letzten  Züge  geliebter  Menschen 
zu  bleibender  Erinnerung  festgehalten  —  der  Familie  nicht  am 
wenigsten.  Schöneres  kann  man  kaum  sehn,  als  die  Todten- 
bilder  von  Schlnkel,  von  Fanny,  von  Felix,  letzteres  ist  das 
einzige  wirklich  gute  Bild,  was  von  ihm  existirt. 

Die  Sonntagsmusiken  fingen  auch  in  dieser  Zeit  an,  eine 
stehende  Institution  zu  werden,  und  wie  alles  Derartige,  ein- 
mal angefangen,  die  Tendenz  hat  zu  wachsen,  so  war  es  auch 
hier.  Sie  waren  für  Fanny,  was  für  ihren  Mann  die  Albums 
waren.  Aus  kleinen  Anfängen,  aus  der  Vereinigung  der 
nächsten  Freimde  am  Sonntag  Vonnittag,  dem  arbeitfi-eien 
Tage,  entwickelten  sich  allmälig  wohlvorbereitete  Aufführungen 
mit  Chor  und  Sologesang,  auch  Trio  und  Streichquartett  von 
den  besten  Kräften  Berlins,  vor  einem  zahlreichen,  alle  Räume 
ausfüllenden  Riblikum.  Viele  Jahre  gehörte  es  zum  guten 
Ton  in  Berlins  musikalischen  und  leider!  auch  nicht  musika- 
lischen Kreisen,  zu  diesen  Musiken  Zutritt  zu  haben.  Am 
meisten  Freude  hatte  Fanny  dabei  an  dem  trefflich  geschulten 
kleinen  Chor  und  an  dem  Elinstudiren  der  Sachen  mit  diesem, 
was  gewöhnlich  Freitag  Nachmittags  geschah.  —  An  einem 
schönen  Sommermorgen  konnte  es  aber  auch  nichts  Hübscheres 
geben,  als  den  Gartensaal,  mit  dem  Blick  auf  die  herrlichen 
Laubparthien  des  Gartens,  angefüllt  mit  einer  dichtgedrängten 
Menge  munterer,  festlich  gekleideter  Menschen,  und  sie  am 
Flügel  mit  ihrem  Chor  irgend  ein  altes  oder  neues  Meisterwerk 
aufführend.  Hatte  Hensel  ein  Bild  der  Vollendimg  nahe,  so 
standen  wohl  die  Atelierthüren  offen  und  ein  ernster  Christus 
sah  auf  die  bimte,  moderne  Welt  hernieder,  oder  Mirjam,  den 


286  1830-1834. 

Ihren  voranschreitend,  drückte  symbolisch  auf  der  Leinwand 
ans,  was  im  Saal  lebendig  vor  sich  ging.  Viele  gute  Musik- 
stücke wurden  durch  Fanny  Hensel  zuerst  in  Berlin  bekannt. 
Eine  Auffülirung  im  Jahr  1834  muss  ganz  besonders  gut  ge- 
wesen sein,  sie  schreibt  darüber:  „Ich  habe  im  vorigen  Monat 
(Juni)  eine  wunderschöne  Fete  gegeben:  Iphigenie  in  Tauris 
von  der  Decker,  Bader  und  Mantius  gesungen.  Es  war  wirk- 
lich etwas  so  vollkommenes,  wie  man  nicht  leicht  wieder 
hören  wird,  besonders  Bader  war  hinreissend,  aber  alle  drei 
trieben  sich  einander  so,  und  die  drei  schönen  Stimmen  bildeten 
einen  Strom  von  Klang,  der  mir  unvergesslich  bleiben  wird. 
Auch  aUes  Andere  ging  sehr  gut  und  erfreulich.  Es  waren 
gerade  hundert  Personen  hier,  unter  Andern  Bunsen,  dem  es 
eigentlich  galt,  melirere  Engländer,  Lady  Davy;  Eadzi-würs 
hatten  sich  gemeldet,  konnten  aber  dann  nicht  kommen,  etc. 
Alles  war  sehr  schön  und  gelungen,  noch  schöner  als  Orpheus 
voriges  Jalir.  —  Den  Sonntag  drauf  hatte  ich  Musik  mit 
ganzem  Orchester  aus  der  Königstadt  und  Kess  meine  Ouver- 
türe spielen,  die  sich  sehr  gut  ausnahm."  —  Als  Schluss  dieser 
ersten  Ehejahre  mag  eine  Stelle  aus  einem  Brief  Fanny's  an 
ihren  Vater  stehn,  am  Tauftage  ihres  Knaben  geschrieben: 

,, Ich  kann  einen  so  frohen  und  schönen  Tag  un- 
möglich beschliessen,  ohne  mich  an  Dich  zu  wenden,  lieber 
Vater,  und  Dir  zu  sagen,  wie  sehr  wir  Dich  dabei  vermisst 
haben;  ja,  da  man  bei  solchen  Veranlassungen  mehr  als  sonst 
auf  sein  ganzes  Leben  zurückgeführt  wird,  so  kann  ich  nicht 
umhin.  Euch,  denn  dieser  Brief  ist  eigentlich  für  Mutter  mit- 
gemeint, wieder  einmal,  und  wohl  nicht  zum  letzten  Mal  in 
meinem  Leben,  von  der  Stufe  aus,  auf  der  ich  stehe,  zu  dan- 
ken, dass  Ihr  mich  hierher  gefülu't  habt,  Euch  zu  danken  für 
mein  Leben,  für  meine  Erziehung  und  für  meinen  Mann,  und 
Euch  zu  danken,  dass  Ihr  gut  gewesen  seid,  weil  guter  Eltern 
Segen  auf  den  Kindern  ruht,  und  ich  mich  in  jeder  Beziehung 
so  glücklich  fühle,  dass  ich  varklich  nichts  als  Fortdauer  zu 
wünschen  weiss.  Bei  allem  Glück  habe  ich  besonders  das,  es 
so  recht  zu  wissen  und  zu  empfinden,  und  es  ist  doch  wohl 
der  nöthipre  Schlussstein."  — 


Briefe  Abraham's  aus  Paris.  287 

Abraham  Mendelssohn  war  nach  Paris  gereist,  und  mögen 
einige  seiner  Briefe  an  Lea  hier  eine  Stelle  finden: 

Paris,  13.  JuU  1830. 
^Ich  möchte  Euch  gern  eine  andre,  als  die  trockene  Nach- 
richt, dass  ich  gestern  Abend  um  11  hier  angelangt  bin,  geben; 
allein  ich  kann  nicht.  Ich  bin  so  ermüdet  von  allem,  was  ich 
seit  diesem  Morgen  bereits  gethan,  geselm  und  gesprochen,  dass 
mir  die  Sinne  vergehn.  Also  ich  bin  hier;  jede  Einfahrt  in 
Paris  ist  ein  wichtiger  und  merkwürdiger  Abschnitt  im  Leben, 
und  wie  alt,  kalt  und  abgespannt  einer  auch  sei,  er  muss  den 
letzten  Eest  seiner  Kräfte  hergeben,  um  mit  allen  Sinnen  sich 
zu  freuen,  dass  er  in  Paris  ist.  Bist  Du  liberal  —  die  Wahlen 
faUen  alle  antiministeriell  aus;  bist  Du  ein  Ministerieller  — 
gleich  werden  die  Kanonen  wegen  der  Eroberung  von  Algier 
gelöst;  bist  Du  ein  Philosoph  (ich  nämlich  bin  keiner),  so  wird 
Dir  heute  Mittag  Gustav  Eichthal  die  neuen  theosophisch- 
industriellen  Systeme  expliciren;  bist  Du  ein  Kaufmann,  so 
kehrst  Du  eben  von  dem  allerwunderwürdigsten  Monumente 
zurück,  welches  der  Eeichthum  sich  je  und  irgendwo  in  der 
Welt  selbst  gesetzt  hat,  von  der  Börse,  an  welcher  übrigens 
auch  die  Damen  jetzt  Theil  nehmen  können  —  und  nehmen; 
bist  Du  Rike  Robert,  so  kaufst  Du  Dir  einen  der  1500  Mille 
Hüte,  welche  Dir  zu  Gebote  stehn;  und  bist  Du  endlich  der 
Stadtrath  Mendelssohn  Bartholdy,  so  thust  Du  dasselbe,  da  der 
einzige  Fehler,  der  Paris  verunstaltet,  der  ist,  dass  Mützen 
nicht  tolerirt  werden.  Sie  haben  da  etwas  von  honnet  rotige 
sagen  hören  und  lassen  daher  niemand  mit  einem  honnet  Um 
nur  an  den  Tuileriengarten ;  mit  der  Nachtmütze  ginge  es 
vielleicht,  weil  das  ein  honnet  hlanc  oder  hianc  honnet  ist.  (Am 
allerwenigsten  ginge  es  wohl  mit  einer  Mütze  aus  allen  diesen 
drei  Farben.)  Du  willst  Dich  etwa,  ohne  aus  dem  Hotel  des 
Princes  zu  gehn,  im  Klavierspiel  oder  der  Komposition  vervoll- 
kommnen, und  ich  habe  beides  nöthig,  da  ich  ein  wenig  auf 
der  Reise  aus  der  Hebung  gekommen,  —  Herr  Kapellmeister 
Hummel  und  Herr  Meyerbeer  wohnen  Wand  an  Wand  mit 
Dir.  — 


288  1830—1834. 

Paris,  21.  Juli  1830. 

Das  sicherste  Mittel,  welches  ich  bis  jetzt  aus  meinem 
Aufenthalt  hier  gezogen  hahe,  ist,  dass  die  Frauen  sehr  viel 
weiss  und  sonstige  einfache  Farben,  nur  die  jungen  Mädchen 
sehr  viel  Eosa  und  alle  insgesammt  sehr  vernünftige  Kopf- 
trachten tragen,  und  auf  keine  Weise  so  lächerlich  angezogen 
sind,  als  es  unsere  Modejournale  berichten  und  unsere  Frauen 
pflichtschuldigst  nachahmen.  Ich  kann  alle  meine  geliebten 
und  verehrten  Landsmänninnen,  alt  und  jung,  gross  und  klein, 
versichern,  dass  die  sicherste  Weise,  dem  gewünschten  Pariser 
Ideal  gleichzukommen,  Eiofachheit  in  Farbe  und  Schnitt  ist, 
und  dass  eine  Berlinerin,  welche  mit  Gigots,  Imb6cile,  unsem 
Locken  und  Hüten  hierher  käme,  kein  einziges  Vorbild  und 
auch  gewiss  keine  einzige  Nachahmung  finden  würde.  —  Ver- 
diene ich  Geld  hier,  so  bringe  ich  Euch  sinen  acht  eleganten 
Pariser  Anzug,  damit  Ihr  Euch  schämen  und  kleiden  lernt;  ich 
ärgere  dann  unsere  ganze  ^elegante"  Welt  —  pauvres  gens  du 
nord,  auxqueh  on  n'envote  que  le  rebut  —  ich  habe  es  immer 
geahnt  und  gesagt. 

Im  Museum  war  ich  schon  mehreremal.  Es  sind  noch  immer 
die  alten  herrlichen  Bilder,  aber  es  sind  leider  nicht  mehr  die 
nämlichen  Augen,  mit  welchen  ich  sie  betrachte:  fast  noch  nie 
hat  mich  die  Abnahme  meiner  Sehkraft  so  geschmerzt;  doch 
ist  die  Erinnerung  alter  Liebe,  alten  Genusses  noch  lebendig 
genug  in  mir,  um  das  Eindringen  schlechter  Gesellschaft  in 
diese  Götterversammlung  auf  das  bitterste  zu  empfinden.  Im 
ersten  Theil  der  Gallerie,  in  der  Ecole  francaise,  hat  man, 
wahrscheinlich  um  leeren  Platz  auszufüllen,  alle  Davids  Brutus, 
Horazier,  Sabinerinnen,  Leonidas,  Belisar  und  einen  schauer- 
lichen Paris  mit  der  Helena,  aUe  Girardets  Endymion,  Sünd- 
fluth  (welche  mir  einmal  im  Luxemburg  gefallen,  hier  aber  ganz 
unerträglich  geworden),  Einnahme  von  Cairo,  kurz  den  Teufel 
und  seine  ganze  Familie  hingehängt;  glücklicher  Weise  ist 
diese  Barbareninvasion  bis  jetzt  nur  bis  zum  ersten  Achtel 
ungefähr  der  Gallerie  gelangt,  und  lässt  man  sich  von  diesen 
IJngethümen  nicht  abschrecken ,  so  kommt  man  endlich  auf 
geheiligten  Boden.    Schön  ist  die  Menge  Arbeitender  zu  sehn, 


Pere  la  Chaise.    Juli-Revolution.  289 

am  meisten  freilich  Frauen  alles  Alters  und  aller  Gestalt. 
Obenerwähnter  gräulicher  Paris  von  David  und  die  grosse  hei- 
lige Familie  au  berceau  von  Raphael  werden  von  Dreien  auf 
einmal  copirt.  Im  Mmee  des  Statiies  habe  ich  nichts  Neues 
entdeckt  als  eine  Venus  von  Milo,  der  beide  Arme  fehlen;  weiter 
weiss  ich  nichts  von  ihr. 

Heute  war  ich,  vde  alle  Engländer,  wieder  einmal  im  Pere  la 
Chaise.  Diese  ungeheure  Todten Stadt  wird  immer  ungeheurer, 
wichtiger,  interessanter;  an  Bevölkerimg  fehlt  es  ihr  nicht,  und 
Thorheit  und  Uebermuth  machen  die  Denkmäler  immer  mehr 
Häusern  und  Pallästen  ähnlich.  Nun  fand  ich  Talma  und  viele 
schöne  Frauen  meiner  Zeit.  Mein  Führer  (ein  alter  bonapar- 
tistischer  Soldat)  sagte  mir:  ^  Voulez  vous  savoir  le  fin  mot  de 
toiä  cela?    Plus  dJorgueü  ^ue  de  sentiment!'^  (wörtlich.) 

Heut  haben  die  Pairs  de  France  lettres  closes  erhalten, 
pour  V Ouvertüre  des  cJiamlres  au  3  aoüt;  ich  halte  mich,  nach 
allem,  was  ich  mir  abnehmen  kann,  für  tiberzeugt,  dass  sich 
alles  für  jetzt  in  Wohlgefallen  auflöset.  Auf  beiden  Seiten 
hat  man  zu  viel  zu  verlieren,  und  keiner  hat  recht  Courage, 
va  tout  zu  spielen." 

Unmittelbar  nach  Absendung  dieses  Briefs  wurde  Abraham 
krank,  und  es  fehlen  daher  Nachrichten  von  ihm  über  die  „drei 
Tage".  —  Erst  am  16ten  August  konnte  er  wieder  schreiben : 

„ Ich  habe   mich  nun  entschlossen,  bis  Ende  dieses 

lionats  oder  die  ersten  Tage  September  hierzubleiben,  um  alles 
selbst  zu  ordnen,  was  hier  geordnet  werden  muss.  Ich  habe 
gestern  zum  ersten  Mal  seit  mehr  als  drei  Wochen  in  Gesell- 
schaft gegessen,  bei  Leo's  mit  Koreff,  welchen  ich  wahrlich 
nicht  genug  loben  und  danken  kann. 

Da,  wo  ein  so  mächtiger  Revolutionsinstinkt  sich  im  Volke 
entwickelt  und  geäussert  hat,  da  scheint  mir  ein  legaler  Zu- 
stand in  dem  Sinne,  wie  wir  dieses  Wort  nehmen  und  verstehen 
können ,  ganz  und  gar  unmöglich.  Ganz  neue  Formen  und 
Verhältnisse  müssen  sich  bilden,  um  einem  solchen  Volke  zu 
entsprechen  und  zu  genügen;  alles  Vorhandene  ist  abgenutzt 
und  wird  langweilig  und  lächerlich,  und  ich  irre  mich  sehr, 
oder  dies  Gefühl  fängt  schon  an  sich  zu  äussern.    Ein  Volk, 

Die  Familie  Mendelssolm.  I.  19 


290  1830-1834. 

wie  das  Pariser  sich  gezeigt  hat,  ist  entweder  im  Gefühl  eige- 
ner Stärke  und  Mündigkeit  aUen  Einflüssen  und  Einwirkungen 
individueller  Ueherlegenheit  entwachsen,  und  dann  steht  es 
schlimm  um  das  Bestehende,  oder  aber  es  wird  eine  furchtbare, 
unwiderstelüiche  Waffe  in  den  Händen  derer,  die  es  zu  ge- 
brauchen wissen,  und  dann  steht  es  wieder  schlimm  um  das 
Bestehende.  Mir  scheinen  die  drei  Tage  ein  ungeheiu-es,  gehemi- 
nissvoUes  Wort  ausgesprochen  zu  haben,  dessen  Deutung  jetzt 
zu  errathen  ist.  Eins  ist  klar;  mit  Charles  X.  ist  nur  der 
allerkleinste  Theil  der  Verderbniss,  der  Niederträchtigkeit,  der 
Habsucht  und  Intriguen  der  höheren  Stände  vertrieben.  Die 
rechte  Grundsuppe  ist  geblieben,  sie  lastet  wie  eine  undurch- 
dringliche Atmosphäre  auf  Frankreich,  sie  ist  ein  feindseliges 
Element,  schwerer  und  nothwendiger  zu  bekämpfen  als  die 
garde  royale.  Mir  scheint  qu'il  n'y  a  rien  de  change  en  France, 
quoiqyCil  y  ait  heureusement  un  Francais  de  moins. 

Gefalle  ich  Euch  nicht,  so  bedenkt,  dass  ich  drei  Wochen 
lang  krank  war.  Gott  gebe,  dass  ich  mich  iiTen  möge,  dass 
ich  nicht  in  meiner  Einsamkeit  und  gerade,  weil  ich  darin  war, 
richtiger  sehe,  als  die  im  Treiben  waren  und  sind.  Gewiss 
ist,  was  geschehen  war  nothwendig,  unumgänglich;  wird,  was 
darauf  und  daraus  folgt,  gut  und  recht  sein?  Ich  kann's 
kaum  hoffen,  aber  Gott  geb's,  sagt  Jacobi.    0 !  ich  werde  alt!  — " 


Paris,  25.  Angibst  1830. 

„Tausend  Dank  für  Deinen  liebenswürdigen  Brief  vom  17ten. 
Gott  erhalte  Dir  Deinen  Enthusiasmus  und  Deine  Lebendigkeit. 
Du  irrst  aber  sehr,  wenn  Du  glaubst,  die  Aerzte  hätten  mir 
verboten,  Journale  zu  lesen ;  das  verbot  sich  von  selbst.  Wenn 
ich  einen  Brief  von  Dir  24  Stunden  uneröffnet  lassen  muss,  so 
kann  ich  gewiss  in  8  Tagen  keine  Zeitung  lesen;  ich  war, 
bevor  das  Fieber  kam,  in  einem  vollkommenen  Marasmus,  einer 
wahren  Nichtigkeit,  aus  welcher  mich  nur  Unwohlsein  und 
Leiden  mancher  Art  weckten;  es  war  nicht  schön. 

In  Auxerre  war  ein  Auflauf;  das  Volk  riss  die  Barrieren 
«in,  um  keine  Abgaben  mehr  zu  zahlen,  und  erklärte,  sich  an 


Juli-Revolution.  291 

die  Worte  des  Königs  zu  halten:  ^^que  desormaisy  ü  rCy  awa 
pizis  de  larriere  entre  le  roi  et  le  pewple.  Es  ist  historiscli  wahr 
und  doch  wirklich  Shakespearisch. 

Ein  Kabrioletkutscher,  welcher  mich  dieser  Tage  fuhr,  er- 
zählte mii%  am  fürchterlichen  Mittwoch  hahe  er  mit  einem 
Haufen  Bürger  in  der  rue  St.  Honor6  gefochten;  unter  sie 
hätten  sich  mehrere  Kinder  von  12  —  14  Jahren,  mit  Stöcken 
bewaffnet,  gemischt;  er  habe  zu  dem  Aeltesten,  der  sie  an- 
führte, gesagt:  ^^MaJheureux ^  quo  fais-tu  ici\  tu  n'as  pas  meme 
d'armes?^'-  ^^J^cdtends  que  tu  sois  ttce,  pvur  prendre  les  timneSy'-'' 
war  die  Antwort,  welche  kein  Kabrioletkutscher  erfindet;  mich 
hat  es  schaudern  gemacht,  und  ich  kenne  kein  ähnliches."  — 


Paris,  27.  August  1830. 

^ Hiller  gefällt  mir  am  besten.    Er  ist  gutmüthig, 

lebendig,  obwohl  auch  ein  bischen  scharf.  Er  hat  mir  vor- 
gestern Hector  Berlioz  zugeführt,  den  Verfasser,  oder  Kom- 
ponisten des  Faust;  er  schien  mir  angenehm,  interessant  und 
viel  vernünftiger  als  seine  Musik.  Ihr  könnt  Euch  nicht  denken, 
wie  alle  die  jungen  Leute  auf  Felix  warten.  Berlioz  hat  kürz- 
lich den  grand  prix  de  composition  erhalten  und  bekommt  auf 
5  Jahr  dreitausend  Francs  Pension  zu  einem  Aufenthalt  in 
Italien.  Er  will  aber  nicht  hingehn,  sondern  sich  Erlaubniss 
erwirken,  hier  zu  bleiben  (das  ist  Wasser  auf  Deine  Mühle, 
Lea!).  In  allen  den  jungen  Köpfen  jedes  Standes  und  Gewerbes 
gährt  es,  alle  wittern  Regeneration,  Freiheit,  Neues,  und  wollen 
daran  Theil  nehmen.  Ich  gestehe,  dass  ich  noch  mit  mir  zu 
keinem  Resultat  darüber  gelangt  bin,  was  aus  allem  dem 
sich  gestalten  wird. 

Ich  habe  gestern  bei  Gerard  etwas  gesehen,  was  mich 
unglaublich  interessirt  hat  und  so  bald  nicht  aus  meinem  Ge- 
dächtniss  weichen  wird:  er  hat  Bonaparte  in  seinem  Cabinet 
mit  historisch  diplomatischer  Genauigkeit  der  kleinsten  Details 
gemalt;  es  hat  mich  gebannt!  Nebenbei  hat  Gerard  im  Ge- 
spräch gesagt,  er  habe  in  seinem  Leben  400  Portraits  gemalt. 

Gebannt  hat  mich   aber  auch  gestern  die  Taglioni.     Das 

19* 


292  1830—1834. 

ist  ganz  neu.  Ilir  erinnert  Euch  alle  noch,  wie  uns  bei  der 
Sonntag  und  Paganini  die  Gelassenheit,  die  Ruhe,  die  Sicher- 
heit oft  und  am  meisten  entzückte.  Das  ist  die  Taglioni;  sie 
tanzt  nie  geschwind,  wenigstens  nie  heftig.  Mit  vollkommener 
Ruhe,  ohne  Rücksicht  auf  das  Publikum  folgt  sie  den  Ein- 
gebungen ihrer  Grazie  und  Laune,  sucht  nie  etwas  und  findet 
alles,  strengt  sich  nie  an  und  thut  Unglaubliches. 

Aber  Wilhelm  Teil ! ! !  Ich  reisse  noch  heut  Leo  den  Kopf 
ab  wegen  seines  ürtheils.  Atroce!  und  leer.  Ich  bringe  den 
Text  mit,  der  allein  eine  Merkwürdigkeit  ist.  In  einem  zärt- 
lichen passionirten  Duett  fragt  Melchthal  seine  Geliebte  Ma- 
thilde (eine  österreichische  Prinzessin!  welche  mit  ihm  glück- 
liche Tage  verleben  will)  vous  reverrai-je?  Oui  demain^  ist  die 
Antwort,  ich  habe  es  sogleich  in  oui  gäteaiix  übertragen;  die- 
selbe Mathilde  sagt :  les  rayons  de  Vastre  de  la  nuit  sont  discrets 
comme  mon  Arnold.  Wie  der  Mann,  der  den  Barbier  und 
OtheUo  geschrieben,  solch  eine  Musik  hat  machen  könnei^,- 
bleibt  mir  unbegreiflich  und  eine  solche  Dissonanz  nur  in  der 
Musik  möglich. 

Die  innere  Ruhe  ist  vollkommen  wieder  hergestellt  und 
morgen  wird  Revue  über  50,000  Mann  Nationalgarden  gehal- 
ten. Jetzt  ist  man  aber  wegen  der  belgischen  Unruhen  un- 
ruhig, und  ich  fürchte  eine  stürmische  Zeit,  da  sich  eine  neue 
gebären  zu  wollen  scheint.  Die  jungen  Leute  woUen  heran, 
das  gefäUt  den  Alten  nicht. '^ 


Paris,  30.  August  1830. 

„Gestern  (Sonntag)  vor  5  Wochen  war  ich  inMontmorency; 
es  war  gerade  die  Fete  du  village,  5 — 6000  Menschen  waren 
dort  zusammengekommen,  tanzend,  singend,  fröhlich  und  guter 
Dinge,  einige  Gensd'armes  waren  müssige  Zuschauer.  Wie  ich 
gegen  11  Uhr  nach  Paris  zurückkam,  war  eben  die  Fete  in 
Tivoli  aus,  und  Tausende  strömten  in  friedlichster  Ordnung  die 
Strassen  entlang.  Drei  Tage  darauf  war  Paris  in  Feuer  und 
Flammen,  und  wohl  an  10,000  Menschen  verloren  Leben  und 
Gesundheit;    alle  Ordnung  war  aufgelöst,  es   hing  an  einem 


Juli-Eevolution.  293 

Haar,  so  siegte  Tyrannei  und  Zerstörung,  und  Paris  war  seinem 
Untergang  nahe.  Gestern  waren  50,000  Mann  vollkommen 
exercirter  und  bekleideter  Nationalgarden  auf  dem  Champ  de 
Mars  versammelt,  um  vor  dem  König  die  Eevue  zu  passiren, 
150,000  —  200,000  Menschen  waren  auf  demselben  Platz  Zu- 
schauer, von  Lüiientruppen,  von  Polizei,  von  Gensd'armes  keine 
Spur,  und  ich  habe  ein  imposanteres,  friedlicheres,  ruhigeres, 
schöneres  Fest  nie  in  meinem  Leben  gesehen.  Es  waren  die- 
selben Menschen,  welche  3  Wochen  vorher  sich  auf  Tod  und 
Leben  geschlagen  hatten,  dieselben,  welche  ich  in  einem  Zu- 
stande von  überreizter,  physisch  und  moralisch  erhitzter  Exal- 
tation und  Wuth  gesehn,  der  mir  nie  aus  dem  Gedächtniss 
kommen  wird.  In  Paris  selbst  war  nichts  als  alte,  kranke 
Leute,  kleine  Kinder  und  die  Hefe  des  Volks  zui'ückgebUeben, 
und  es  ist  weder  ausser  Paris  noch  in  Paris  der  Schatten  eines 
Excesses  vorgefallen. 

Das  ist  allerdings  ein  wahres  und  imgeheures  Wunder! 
Allein  ich  bleibe  dabei,  dass  solch  furchtbarer,  schneller  Wechsel 
der  entgegengesetztesten  Erscheinungen  einenZustand,  wenigstens 
dieses  Landes,  anzeigt  oder  als  nahe  verkündet,  vor  dem  nichts 
bis  jetzt  Bestehendes  dauern  kann.  Glücklich  sind  jetzt  die 
Jungen,  sie  können  und  werden  erwerben,  und  ihnen  eröffnet 
sich  ein  unermessliches  Theater.  Wir  treten  hinter  die  Coulisseu 
und  sehen  Rauch  und  Schminke. 

—  —  Ich  erhalte  Deinen  lieben  Brief  vom  24ten  und 
bleibe  dabei,  es  ist  eine  üble  Sache  um  die  Correspondenz  auf 
150  Meilen  weit;  ich  habe  Dir  vor  26  Jahren  schon  dasselbe 
von  hier  aus  gesclirieben.  Entweder  ich  habe  total  vergessen 
oder  Du  hast  durchaus  missverstanden,  was  ich  Dir  über  meine 
Ansicht  der  hiesigen  Angelegenheiten  geschrieben  habe.  Ich 
bin  mic  Leib  und  Seele,  mit  Herz  und  Magen  dem  Princip  der 
Journees  de  Juillet  zugethan  und  halte  sie  für  die  ausser- 
ordentlichste  Begebenheit  der  ganzen  Weltgeschichte.  Aber 
Jean  Paul  sagt,  Niemand  sei  so  gut  als  seine  guten  Aufwal- 
lungen und  so  schlecht  als  seine  schlechten,  und  wenn  letzteres 
unfehlbar  von  den  Franzosen  von  93  gesagt  werden  muss,  so 
kann  ich  nicht  umhin,    auch  erst  eres  von  denen  von  1830  zu 


294  1830-1834. 

besorgen.  Und  wenn  Du  aus  diesem  Gesichtspunkt  das  beur- 
theilst,  was  ich  Dir  geschrieben  zu  haben  glaube,  so  wirst 
Du  es  vielleicht  nicht  mehr  so  räthselhaft  finden.  Ich  bin 
übrigens  53  oder  63  Jahr  alt,  und  es  kann  mir  keiner  ver- 
denken, wenn  ich  mii'  Euhe  wünsche. 

Der  Marquis  de  Praslin  geht  nach  Italien,  um  ü'gendwo 
die  Thronbesteigung  zu  notificiren.  Tel  ministre  Schwieger- 
vater, tel  amhassadeur  Schwiegersohn !  Dieser  Minister  Schwie- 
gervater könnte  mn*   die  Jowrnees  de  Juillet  verhasst  machen." 

Am  13.  Mai,  nach  überstandener  Krankheit,  begab  sich 
Felix  auf  seine  italiänische  Reise,  von  der  er  die  nach  seinem 
Tode  herausgegebenen  „Eeisebriefe"  nach  Hause  schrieb.  Aber 
was  er  nicht  schrieb,  was  seine  grosse  Bescheidenheit  ihn  zu 
schreiben  und  vielleicht  sogar  zu  bemerken  verhinderte,  war 
der  Zauber,  den  seine  Person  auf  Alle  ausübte,  die  mit  ihm 
in  Beruhigung  kamen.  Darüber  aber  schiieb  Marx,  der  am 
Anfang  der  Eeise  mit  Felix  in  München  zusammentraf,  an 
Fanny  Hensel  folgendermassen: 

München,  21.  Juli  30. 

„Ueber  Haidegenist  und  Moor;  bei  der  Kapelle  vorbei, 
wo  ein  alter  Beter  von  der  Enkelin  mühsam  aufgerichtet  -wird ; 
durch  die  selige  Ebene,  wo  die  lieben  Engel  aUen  Wallfahrern 
den  Tisch  gedeckt  haben;  über  alle  geschäftigen  Quellen  und 
Bäche  längs  der  grollenden  Schwarza,  wo  das  Eeh  stutzt; 
über  aU  die  Städte  voll  Arbeit  und  Lust  zu  den  geliebten 
Schwestern.  Ein  Bück!  Ein  Gedanke  an  Sie,  der  den  Norden^ 
hundert  Meilen  hinab  in  den  helleren  Süden  verwandelt !  Und 
neben  mir  Felix,  der  sich  wohl  im  Morgentraum  Ihrer  freut, 
wie  ich  im  Schreiben,  und  wir  Beide  gestern  und  vorgestern 
Nacht  im  späten  Plaudern!  —  Sehen  Sie  da,  beste  Fannj^  ob 
ich  „einmal  Sonnenschein  zu  einem  Unternehmen"  habe,  wie 
das  grüne  Blatt  neben  mir  wünscht  ?  und  ob  ich  gar  noch  die 
Schneeberge  brauche,  die  aus  den  Wolken,  mü'  zum  ersten  Mal, 
herüberwtuken?  Obwohl  man  nicht  verschmähen  wird,  sie  am 
24.  zu  besteigen  und  am  25.  zu  Oberammergau  „dem  grossen 


Felix  in  München.  295 

VersöliiiTiiigsopfer  auf  Golgatha"  beizuwohnen,  nämlich  einer 
Passionsmusik  mit  Handlung.  Das  haben  sie  vor  Jahrhun- 
derten gestiftet  und  just  so  eingerichtet,  dass  alle  zehn  Jahr, 
genau  1830  am  25.  Juli,  wo  wir  bei  der  Hand  sind,  das  Fest 
auf  den  Bergen  begangen  wird.  Jetzt  aber  ist  es  Mittwoch 
früh  am  21.  und  ich  sende  die  ersten  Zeilen,  die  ich  seit  Berlin 
schreibe,  bald  ab. 

Was  wir  aber  bis  dahero  thun  und  gethan,  ist  bald  ge- 
sagt: Wir  regieren.    Ich  habe   geruht,  Vicekönig  zu  werden^ 

—  Sie  können  sich  vorstellen,  beste  Rebecka,  wie  mir's  steht 
und  lasse  mir  huldigen,  ohne  eine  Miene  zu  verziehen.  ,, Bester 
Herr  von  Marx"  —  oder  „Hochgeacht'ter  Herr"  —  oder 
„Liebwerthster"  etc.  etc.  heisst's  da  und  da,  und  dort:  „wie 
unschätzbar"  etc.,    „wir   wollen  Sie  auf  Händen  tragen"  etc. 

—  „wenn  Sie  sich's  recht  lange  bei  uns  gefallen  lassen."  — 
Die  Leute  haben  sich  nämlich  (hören  Sie  auf  zu  staunen)  in 
den  Kopf  gesetzt,  dass  meine  Abreise  das  Signal  von  Felixens 
sein  wird ;  da  wollen  sie  mir  denn,  wie  die  egyptischen  Mütter 
\md  Bräute  dem  Krokodil,  Wein  und  Lämmer  opfern  und  süss- 
betäubenden  Weihrauch  streuen,  damit  ich  ihnen  ihr  Lamm 
nicht  raube.  War'  ich  keine  noble  Natur,  sondern  eine  profi- 
table, ich  könnt'  eine  Kontribution  ausschreiben ;  kurz,  ich  bin 
wirklich  unwiderstehlich,  ein  Parvenü!  Der  Rückweg  wird 
mich  aber  nicht  über  München  führen;  da  will  ich  incognito 
reisen.  — 

Alles  Ernstes  können  Sie  sich  keine  Vorstellung  von 
Felixens  Stellung  hier  machen;  er  kann  nicht  das  Hundertste 
schreiben  und  auch  mir  wird  es  bei  dem  besten  Vorsatze  nicht 
gelingen.  Die  Anerkennung  seiner  Musik  —  nun,  das  haben 
wir  vorausgewusst.  Jetzt  —  er  könnte  die  allerschlechteste 
Musik  aufführen  und  Alles  würde  entzückt  sein.  Doch  das 
muss  man  beobachten,  wie  er  überall  Kind  im  Hause,  wie  er 
recht  eigentlich  der  Mittelpunkt  jedes  Kreises  ist.  Von  Früh 
an  bezieht  sich  alles  auf  ihn.  Gestern  z.  B.  hatte  ich  bis 
zum  „Incognito"  geschrieben  und  Felix  geschlafen,  da  bringt  des 
Gesandten  Jäger  ein  Billet  von  der  zärtlichst  schreibenden 
Betty,  die  ich  kenne:   Felix  möge  doch,   da  er  um  drei  nicht 


296  1830-1834. 

zu  Tisch  kommen  könne,  um  zwölf  oder  Nachmittags,  oder 
Morgens  kommen,  sie  würde  zu  jeder  Zeit  glücklich  sein  etc. 
Wieder  öffiiet  sich  die  Thür ;  nun  tritt  der  Jäger  eines  Grafen 
ein  (Protzschy  oder  Prutzschi  heisst  er,  oder  sonst  anders,, 
nur  nicht  wie  ein  vernünftiger  Mensch)  und  bringt  eüien 
Nelkenstrauss,  von  Fräulein  so  und  so.  Ihm  folgt  der  erst^ 
Klavierlehrer  von  München  und  möchte  eine  Lektion  haben,  — 
seine  eigenen  hat  er  ausgesetzt,  solange  Felix  hier  ist.  Dann : 
Ein  Kompliment  von  der  dankbaren  Peppi  Lang  (o !  was  werde 
ich  von  der  zu  erzählen  haben,  ehe  sie  noch  sechszehn  Jahr 
alt  wii'd)  und  sie  wage  die  Bitte,  er  möge  nicht  übel  nelimen, 
dass  sie  ihm  ein  Andenken  (acht  reizende  Lieder)  darbringe. 
Fräulein  Delphine  Schauroth  —  (sechszehuahnig  wenigstens) 
hat  zwar  die  Nacht  durch  an  einem  Lied  ohne  Worte  für  ihn 
komponirt,  lässt  aber  bitten,  ja  nicht  um  halbelf,  sondern  wo- 
möglich schon  um  zehn  zu  kommen,  oder  womöglich  noch 
früher;  darum  muss  der  Graf  Wittgenstein  eine  halbe  Stunde 
weit  Pflaster  treten.  —  Staatsrath  Maui'er,  Kapellmeister  Stanz, 
Moralt  und  andere  trockene  Visiten  und  Bestellungen  nicht  zu 
erwähnen,  lässt  Herr  v.  Staudacher  anfragen:  Herr  v.  Mendels- 
sohn habe  zwar  bereits  zugesagt,  zum  Diner  zu  kommen,  ob 
man  aber  gewiss  hoffen  dürfe  etc.  etc.  Dann  kommt  noch 
Bärmann  mit  der  konfidentiellen  Note:  Staudacher's  hätten  zwei 
Mehlspeisen  bestellt,  um  ihm  zu  gefallen.  Sie  werden  diese 
unvollständige  Liste  für  trockenen  Spass  halten;  es  ist  aber 
lustiger  Ernst.  Und  nun  sollten  Sie  —  o !  wie  göttlich  wär's ! 
—  uns  begleiten,  wde  man  schon  auf  den  um  und  um  lächeln- 
den Gesichtern  der  Domestiken  liest,  was  die  Herrschaften 
unter  sich  gesprochen,  wie  man  keinen  dahin  bringt,  anzu- 
melden, wie  —  wer  kann  all'  das  Detaü  schreiben,  die  tausend 
Blätter  aufzählen  am  Baum  der  Freude  und  Liebe?  Nur  im 
Ganzen  versteht  und  gouth't  man,  wie  das  Interesse  auch  die 
kleinsten  Aederchen  durchströmt.  Ich  habe  den  ernsten,  hoch- 
trabenden Staudacher  und  Bärmann  lange  heftig  streiten  ge- 
hört, ob  Felix  bei  irgend  einem  Anlass  erst  den  Mund  aufge- 
macht und  dann  gelacht,  oder  gleich  gelacht  habe?  Wörtlich 
so!    Mich   haben   sie   mit  Danksagungen  und  Händeschüttela 


Felix  in  München.  297 

erstickt,  für  die  Komposition  der  E-Soaate  —  weil  ich  sie  ihnen 
nämlich  genannt. 

Aber  es  gehört  auch  dieses  regsame,  südländische  Natui^ell 
dazu,  um  das  Schöne  und  Liebenswürdige  so  warm  und  lebendig 
aufzunehmen.  Die  Menschen,  das  Laub,  der  Himmel,  der  Stein 
sind  hier  voll  warmen  Lebenshauches,  der  überall  Fülle  des 
Reizes  und  der  Freude  weckt  und  über  den  ausgebreitet  reichen 
Teppich  verklärende,  schillernde,  wechselnde  Tinten  giesst. 
0  Hensel!  Wie  oft  hab'  ich  Dich  hergewünscht,  wie  hundert- 
mal Dir  meine  Freude  zu  der  Deinigen  und  mir  Dein  Auge 
zu  meinem  Neulingserstaunen.  Was  hab'  ich  mit  Dir  zu 
sprechen  von  meinen  Quellenthälern,  —  ich  habe  viel  geseh'n 
und  viel  nachgedacht  —  und  ich  glaube,  viel  gefunden.  Ich 
brenne  darauf,  es  Deiner  Sichtung  vorzulegen.  Soweit;  denn^ 
die  Minuten  sind  gezählt.  Nun  geht's  in's  Gebirge  und  dann 
geh*  ich,  ich  weiss  selbst  noch  nicht,  nach  welcher  Weltgegend. 
Lebewohl  allen  Theueni!  Aber  keine  Antwort  kann  mich 
erreichen. 

Herzlich  liebend 

Marx.^ 

Von  Felix  selbst  mögen  hier  noch  zwei  Briefe  aus  München 
Platz  finden: 

Mein  liebes  Schwesterlein! 

München,  11.  Juni  1830. 

^Bist  Du  auch  wieder  recht  gesund?  Und  nicht  mehr 
böse  auf  den  Rüpel  von  Bruder,  der  so  lange  nicht  geschrieben 
hat?  Er  sitzt  jetzt  hier  in  einem  netten  Stübchen  und  hat 
Euer  grünes  Sammetbuch  mit  den  Portraits  vor  sich  und 
schreibt  am  oifenen  Fenster.  Hör'  mal,  ich  wollte.  Du  wärest 
recht  froh  und  heiter  in  diesem  Augenblick,  weil  ich  gerade 
an  Dich  denke,  und  so  wärest  Du  es  in  jedem  Moment,  wo 
ich  an  Dich  dächte:  da  solltest  Du  nie  verdriesslich  und  un- 
wohl werden.    Aber  ein  ganzer  Kerl  bist  Du,  das  muss  wahr 


298  1830—1834. 

sein  und  hast  einige  Musik  los;  gestern  Abend  sah  ich  es 
wieder  recht  ein,  als  ich  stark  Cour  schnitt.  Denn  so  weise 
Du  bist,  so  habe  ich  doch  mich  sehr  niedUch  gemacht,  d.  h. 
so  weise  Du  bist,  so  thöricht  ist  Dein  Herr  Bruder.  Grosse 
Soir6e  war  nämlich  gestern  bei  dem  P.  Kerstorf  und  Minister 
und  Grafen  liefen  umher,  wie  die  Hausthiere  auf  dem  Hühner- 
hof. Auch  Künstler  und  andere  Gebildete.  —  Die  Delphine 
Schauroth,  die  nun  hier  angebetet  wu'd  (und  mit  Eecht),  hatte 
von  aU'  diesen  Klassen  ein  Bischen;  denn  ihre  Mutter  ist 
Freifrau  von  und  sie  ist  Künstlerin  und  sehr  wohlgebildet; 
kui'z,  ich  lämmerte  sehr.  Nämlich  so,  dass  wir  die  vierhändige 
Sonate  von  Hummel  zu  allgemeinem  Jubel  schön  vortrugen, 
dass  ich  nachgab  und  lächelte  und  zusclilug  und  das  As  im 
Anfang  des  letzten  Stückes  für  sie  aushielt,  „weil  ja  die  kleine 
Hand  nicht  zureichte"  und  dass  die  Frau  vom  Hause  uns 
nebeneinander  setzte,  Gesundheiten  ausbrachte  und  so  fort.  — 
Aber  eigentlich  wollte  ich  ja  nur  sagen,  dass  das  Mädchen 
sehr  gut  spielt  und  mii',  als  wir  vorgestern  zum  ersten  Mal 
zusammenspielten  (denn  das  Stück  ist  schon  dreimal  gegeben 
worden),  ganz  ordentlich  imponii'te;  als  ich  sie  nun  gestern 
früh  alleiu  hörte  und  auch  sehr  bewunderte,  fiel  mir  plötzlich 
ein,  dass  wir  im  Hinterhause  ein  Frauenzimmer  besässen,  das 
von  der  Musik  doch  eine  gewisse  andere  Idee  im  Kopf  hätte, 
als  viele  Damen  zusammengenommen,  und  ich  dachte,  ich 
woUte  ihr  diesen  Brief  schreiben,  woUte  sie  so  herzlich  grüssen ; 
die  Dame  bist  Du  nun  freilich,  aber  ich  sage  Dir,  Fanny,  dass 
ich  an  gewisse  Stücke  von  Dir  nur  zu  denken  brauche,  um 
recht  weich  und  aufrichtig  zu  werden,  obgleich  man  doch  in 
Süddeutschland  viel  lügen  muss.  Du  weisst  aber  wahrhaftig, 
was  sich  der  Hebe  Gott  bei  der  Musik  gedacht  hat,  als  er  sie 
erfand;  da  ist  es  kein  Wunder,  wenn  man  sich  darüber  freut. 
Kannst  auch  Klavier  spielen  und  wenn  Du  einen  grössern 
Anbeter  brauchst,  als  mich,  so  kannst  Du  Dir  ihn  malen  oder 
Dich  von  ihm  malen  lassen. 

Da  ich  eben  auf  Hensel  anspiele,  so  muss  ich  ilim  doch 
erzählen,  wie  mich  Göthe  sehr  nach  ihm  frug  und  wiederholt 
sich  nach  seiner  Beschäftigung  erkundigte ;  das  grüne  Freund 


Felix  in  München.  299 

buch  musste  ich  ihm  melirere  Tage  da  lassen  und  er  lobte  es 
dann  sehr;  die  Lammgruppe  in  meinem  Stammbuch  sah  er  sich 
an  und  brummte:  „die  haben's  gut  —  und  sieht  so  zierlich  und 
hübsch  aus  —  und  so  bequem  und  doch  schön  und  anmuthig^, 
so  ging's  dann  weiter,  kurz,  o  Hensel,  er  ist,  mit  Dir  zu 
reden,  sehr  für  Dich. 

Jetzt  kommt  eine  Stelle  aus  einem  seiner  Gedichte  für  das 
Chaos  (er  sagt,  woran  ihn  die  unbekannte  Geliebte  erkennt): 

Wenn  Du  kommst,  es  muss  mich  freuen, 
Wenn  Du  gehst,  es  muss  mich  schmerzen, 
Und  so  wird  es  sich  erneuen 
Immerfort  in  beiden  Herzen. 
Fragst  Du,  werd'  ich  gern  ausführlich 
Deinem  Forschen  Auskunft  geben. 
Wenn  ich  frage,  wirst  Du  wirklich 
Mit  der  Antwort  mich  beleben. 
Leiden,  welche  Dich  berührten. 
Rühren  mich  in  gleicher  Strenge; 
Wenn  die  Feste  Dich  entführten. 
Folg'  ich  Dir  zur  heitern  Menge  etc. 

Hier  ist  auch  ein  sonderbarer  Schluss  eines  Gedichtes  an 
Fräulein  von  Schiller: 

Milde  zum  Verständlichen 
"Wird  die  Mutter  mahnen, 
Deutend  zum  Unendlichen 
Auf  des  Vaters  Bahnen. 

Beides  ist  aber  nur  aus  dem  Gedächtniss. 

Gestern  lobte  mich  eine  gnädige  Gräfin  wegen  meiner 
Lieder  und  meinte  frageweise,  ob  nicht  das  von  Grillparzer 
ganz  entzückend  sei?  Ja,  sagte  ich,  und  sie  hielt  mich  schon 
für  unbescheiden,  als  ich  Alles  erklärte,  Dich  als  Verfasserin 
nannte  und  versprach,  die  Kompositionen,  die  Du  mir  nächstens 
schicken  würdest,  in  Gesellschaften  gleich  mitzutheilen.    Wenn 


300 


1830—1834. 


ich  das  thue,  bin  ich  ein  Pfefferkorn,  ein  Brauerpferd:  Da 
schickst  aber  am  Ende  auch  keine. 

Eben  kommt  Licht,  und  mein  Quernachbar  zermartert  sein 
Klavier  in  der  Dämmerung,  indem  er  das  GlÖckchen  vcn  Pa- 
ganini  fast  zu  jämmerlich  verarbeitet. 

Als  ich  auf  meiner  eiligen,  verdriesslichen  Reise  liierher 
in  der  Nacht  durch  Feucht  kam,  hörte  ich  in  einem  Hause 
Mordlärm  und  der  Postillon  sagte:  „Se  sufen  da!"  —  da 
horchte  ich  zu  und  die  Bauern  sangen  ein  grosses  Lied  vom 
Jäger,  dessen  Refrain  so  ging: 


Ällegro. 


9^ 


^^fr^ 


:p=pr 


V- 


l 


m 


/TN 


=¥=¥= 


Nun,  wenn  ich  von  einer  Staatsvisite  komme  oder  aus 
einem  BaUet  (wie  gestern)  oder  wenn  ich  Abends  zu  Hause 
gehe  und  an  die  feiosten  Redensarten   denken  sollte,  brülle 


ich: 


4*  iSitt: 


aus  Herzenslust,   theilst  Du   nicht 


dies  Gefühl?  Ich  glaube,  es  haben  mich  schon  mehrere  Mün- 
chener deshalb  für  roh  gehalten;  das  bin  ich  aber  nicht,  son- 
dern habe  eine  feine  Seele  und  mit  der  liebe  ich  Dich." 


München,  den  26.  Juni  1830. 

^ Liebe  Fanny,  sei  sehr  gegrüsst  und  nimm  meinen 

Glückwunsch  hin,*)  wie  Du  AUes  nimmst,  was  ich  Dir  geben 
kann,  —  denke  nicht  an  die  Sache,  nur  an  mich,  dessen  Herz 
rosenroth  ist;  ich  bin  sehr  bei  Dir  und  so  werde  ich  es  immer 
auch  bleiben,  mag  kommen  wie  es  wolle.    Ich  hätte  Dir  gern 


')  Zur  Geburt  ihres  Sohnes. 


Felix  in  München. 


301 


ein  Lied  gescMckt,  aber  es  ist  zu  schlecht  gerathen.*)  —  Eben 
sehe  ich  es  mir  noch  einmal  an  nnd  denke:  Ach  was!  das 
Herz  war  schwarz,  Du  verstehst  Dich  darauf:  da  ist  es 
a  yiypcK^a^  yiypacpa;  ist  Dir's  zu  schlecht,  so  kann  ich  nicht 
helfen,  mir  war  so,  als  ich  Euren  ersten  halb  ängstlichen,  halb 
erfreuten  Brief  bekam: 


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*)  Das  Lied  ist    später   etwas  verändert  als  Nr.  2  im  2ten 
Heft  Lieder  ohne  Worte  herausgekommen. 


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1830—1834. 


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Felix  in  München.  305 

Den  27teii.  Das  Lied  ist  docli  so  schlecht  nicht.  Heute 
kam  Euer  froher  Brief,  der  von  haldigem  Aufstehen  und  lauter 
Angenehmem  spricht.  0  liehste  Geren!  Wenn  Ihr  so  viel 
schreibt  und  so  durcheinander  und  miteinander  und  grosse 
Possen  macht  —  das  rührt  manchen  Landsmann  von  Euch  so 
sehr  wie  Trauerspiele;  wahrscheinlich,  weil  er  Euch  so  genau 
tennt.  Beckchen  soU  mir  der  Hensel  malen,  wie  er  will,  wenn 
es  nur  göttlich  wird,  so  bin  ich  zufrieden.  Im  Ernst  aber 
möchte  ich  Dich,  o  W.  H.,  nicht  beschränken,  will  also  weder 
liber  Stellung,  noch  über  Kranz  oder  Nichtkranz  entscheiden; 
aber  mach'  nur  kein  Modebild  und  kein  Knallbild;  ich  möchte 
keine  feuerspeiende  Berge  in  den  Hintergrund  und  keine  dicken 
Samimetgewänder,  Diademe,  Juwelen  in  den  Vorgrund  (ich 
spreche  bildlich),  sondern  ein  stilles,  ruhiges,  leuchtendes  Eben- 
bild möcht'  ich,  durch  nichts  glänzend,  als  durch  die  Wahrheit 
innen,  ohne  jede  Romantik  oder  Historie,  die  nicht  im  Gesicht 
liegt,  und  ohne  irgend  etwas  anderes  Anziehendes,  als  wieder 
das  Gesicht.  Dazu  taugte,  dächt'  ich,  die  einmal  gefundene 
Stellung  nicht  bitter;  indess  mach'  es,  wie  Du  willst;  und  wenn 
es  ein  Gegenstück  zu  meinem  grossen  Tizian  wird,  so  sollst 
Du  belobt  sein.  Aber  einfach  und  still!  —  Du  siehst,  ich  sehe 
das  Bild  schon  vor  Augen;  war'  es  nur  wahr! 

Was  mich  nun  betrifft,  so  gehe  ich  Tag  um  Tag  auf  die 
Gallerie  und  zweimal  in  der  Woche  Morgens  zur  Schauroth, 
wo  ich  lange  Visiten  mache ;  wir  raspeln  grässlich,  es  ist  aber 
nicht  gefährlich,  denn  ich  bin  schon  verliebt.  Und  zwar  in 
eine  Schottin,  deren  Namen  ich  nicht  weiss.  Gestern  war 
nämlich  der  Universitätsball,  von  dem  Ihr  wisst.  Ich  wollte, 
Ihr  hättet  mich  mit  der  Frau  Rektorin  walzen  sehen!  Schön 
war's !  Ein  Gartenplatz  war  gedielt  und  mit  Zeug  und  Blumen- 
guirlandsn  bedeckt,  da  wurde  getanzt;  die  Bäume  waren  mit 
chinesischen  bunten  Lampen  behängt ;  als  es  ganz  dunkel  war, 
kam  Feuerwerk,  dann  ein  Transparent,  die  üniversitas  vor- 
stellend, dann  grosse  Illumination ;  mein  Specieller,  der  Nuntius, 
war  auch  da,  ferner  der  Erzieher  des  Herzogs  von  Bordeaux, 
Ml*.  Martin,  der  sich  theünehmend  nach  Tante  Jette  sehr  er- 
kundigte  und   der   ihr   tausend  „Sachen"    sagen   lässt    (denn 

Die  Familie  Mendelssohn.  L  ^^ 


306  1830—1834. 

wir  sprachen  französisch),  aus  einer  dunkeln  Allee  tauchte  auf 
einmal  Hensel's  Portrait  von  Ringseis  auf,  dem  ich  mich  der 
Aehnlichkeit  wegen  vorstellen  liess  und  der  freundlichst  nach 
AUen  fragte,  rechts  von  mir  sprachen  sie  russisch,  die  schönsten 
Bürgermädchen  in  Ringelhäubchen  gingen  unter  den  grossen 
Bäumen,  weiter  oben  im  Kreis  sass  der  österreichische  Gesandte 
und  die  Frau  von  So  und  so  und  Baronin  So  und  so  und  Saphir 
ohne  Halsbinde,  auch  eine  Menge  ernsthafte  Professoren,  süsse 
Offiziere,  Posaunen  und  Trompeten  für  die  Studentenlieder  zur 
Begleitung  —  kurz,  das  Fest  war  gelungen  und  bunt.  Ich 
ging  allein  nach  Hause,  kannte  den  Weg  nicht,  ging  keck 
quer  in's  Korn  hinein,  nach  der  Richtung,  wo  ich  mir  die  Stadt 
dachte,  hörte  noch  von  weitem  die  Tanzmusik  und  so,  auf  dem 
Fussweg,  unter  dem  hellsten  Sternenhimmel  zwischen  dem 
Kom  im  fremden  Lande  zu  wandern,  war  doch  gar  zu  hübsch. 
Der  Weg  führte  mich  auch  ganz  recht,  ich  kam  an  einen 
hohen  Damm,  der  an  den  Ufern  der  Isar  nach  der  grossen 
Brücke  zu  führte ;  der  Fluss  rauschte  tüchtig  und  vor  mir  lagen 
die  Lichter  von  München  ausgebreitet;  hinter  mir  glänzten 
fmmer  noch  die  Lampen  und  Lichter  des  Balles ;  es  ist  da  viel 
an  Euch  gedacht  worden.  —  Aber  ich  bin  heut  sehr  geschwätzig 
und  vergesse  über  eins  das  Andere ;  denn  ich  woUte  eigentlich 
nicht  vom  Ball  und  meinem  einsamen  Nachhausegehen  sprechen, 
auch  nicht  von  den  Bürgermädchen  in  silbernen  Hauben,  son- 
dern ich  wollte  erzählen,  wie  man  mich  der  Schottin  vorstellte, 
wie  ich  den  ganzen  Abend  englisch  mit  ihr  sprach,  wie  ich 
mich  heut  morgen  höflich  bewies  und  wie  wir  uns  aus  Zufall 
wieder  begegneten.    Die  Schottin  also  — 

Felix.« 

Von  München  gmg  er  über  Wien,  Venedig  und  Florenz 
nach  Rom,  wo  er  den  grössten  Theil  des  Winters  verblieb, 
dann  nach  Neapel;  die  beabsichtigte  sicüianische  Reise  gestat- 
tete sem  Vater  nicht.  Nach  abermaligem  Aufenthalt  in  Rom 
und  Florenz  ging  die  Rückreise  über  Genua  und  Mailand  nach 
der  Schweiz,  die  er  im  furchtbarsten  Wetter  grossentheils  zu 


Rückreise  aus  Italien.  307 

Fuss  durchwanderte,  und  über  Südwest-Deutschland.   Die  „Reise- 
briefe"  behandeln  diese  Zeit  ausführlich. 

Aus  Frankfurt  schrieb  er  am  14ten  November  1831,  als 
er  nacheinander  die  Verlobung  von  Rebecka  und  den  Tod  von 
Henriette  erfahren  hatte,  an  Fanny: 

„0  mein  liebes  Schwesterlein  und  Musiker! 

Heut  ist  Dein  Geburtstag  und  ich  wollte  Dir  gratuliren 
und  froh  sein,  da  kamen  Eure  Briefe  über  Tante  Jette,  und 
mit  der  rechten  Freude  ist  es  nun  wohl  vorbei.  Gestern  kam 
die  Verlobungsnachricht,  heute  diese,  es  geht  sonderbar 
hin  und  her.  Ich  will  Dir  eins  von  den  neuen  unbegreiflich 
rührenden  Sebastian  Bach'schen  Orgelstücken  schenken,  die  ich 
hier  eben  kennen  gelernt,  sie  passen  zu  heut  in  ihrer  reinen, 
weichen  Feierlichkeit;  es  ist,  als  hörte  man  die  Engel  im 
Himmel  singen. 

Den  17ten.  Ich  wollte  das  Stück  schreiben,  als  ich  den 
Brief  anfing,  legte  das  Papier  Abends  zurecht,  und  als  ich 
Morgens  aufstand,  war  das  ganze  schon  fertig  geschrieben, 
Schelble  war  früher  aufgestanden,  hatte  mich  davon  sprechen 
hören  und  war  mir  zuvorgekommen.  An  diesem  kleinen  Zug 
kannst  Du  Dir  mein  übriges  Leben  mit  ihm  weiter  ausmalen; 
er  beschämt  mich  jeden  Augenblick  durch  neue  Güte,  und  von 
seinem  klaren  Urtheile  lerne  ich  was.  Wollte,  Du  könntest 
mein  Leben  hier  einmal  mit  ansehn  und  mitleben,  denn  es  wird 
noch  lieber  durch  Philipp  Veit,  der  einer  der  prächtigsten 
Menschen  ist,  die  ich  kennen  gelernt  habe,  von  einer  Liebens- 
würdigkeit, Milde  und  doch  Lebhaftigkeit,  dass  es  eine  Freude 
ist,  und  ein  grosser  Maler  zugleich.  Du  solltest  eiomal  sein 
neues  Bild  sehn.  Wir  sind  meist  zusammen,  Abends  wird  m 
corpore  Musik  gemacht,  neulich  im  Cäcilienverein  gab  Schelble 
einige  Händel,  einen  Chor  von  Mozart,  dann  „Es  ist  der  alte 
Bund*  von  Bach,  das  himmlisch  klang,  das  Credo  aus  der 
grossen  h-moll-Messe  und  einen  Chor  von  mir. 

Nun  spiele  diesen  Choral  mit  Beckchen,  so  lange  Ihr  noch 
zusammen  seid  und  denkt  mein  dabei.     Wenn  am  Ende  die 

20* 


308  1830-1834. 

Ohoralmelodie  zn  flattern  anfängt  und  oben  in  der  Luft  endigt 
und  Alles  sich  in  Klang  auflöst,  das  ist  wohl  göttlich.  Es 
Bind  noch  viele  andere  von  gleicher  Kraft  da,  aber  sie  sind 
bitterer,  heut  passt  dieser  grade  und  so  schicke  ich  ihn  und 
grüsse  und  küsse  Dich  und  Hensel  und  wünsche,  Ihr  mögt  mir 
so  bleiben  wie  ich  Euch. 

Felix." 

Demnächst  ging  er  nach  Paris. 

Wenn  ihm  auch  natürlich  die  wundervolle  Natur  Italiens 
und  der  Anblick  der  herrlichen  Kunstschätze  tiefen  Eindruck 
machte  und  machen  musste,  so  wird  Jedem  beim  Durchlesen 
der  Reisebriefe  doch  sofort  klar,  dass  sein  eigentliches  Herz  im 
Norden  und  zwar  speciell  in  Deutschland  war.  Dafür  ist  der 
Brief  an  Zelter  aus  Paris  vom  löten  Februar  1832  charak- 
teristisch, der  aus  den  späteren  Auflagen  der  Reisebriefe  be- 
kannt ist. 

Aber  es  war  nicht  aUein  der  ihm  mehr  zusagende  Zustand 
der  Kunst,    das  ihn  mehr  anheimelnde  Naturell  der  Menschen 
in  Deutschland,   was  Felix   diesem  Lande   so  entschieden  den 
Vorzug  geben  Hess,   —  auch    zu  der  nordischen  Landschaft 
fühlte  er  sich  viel  mehr  hingezogen.     So  schreibt  er  aus  Flo- 
renz:   „Den  Garten  des  Palastes  (Pitti)  habe  ich  gestern  im 
Sonnenschein  gesehen;  er  ist  herrlich  und  die  unzähligen  Cy- 
pressen,    die    dichten   Myrthen-    und   Lorbeerzweige    machen 
Unsereinem  einen  seltsamen  fremden  Eindruck;  wenn  ich  aber 
sage,   dass  ich  Buchen,  Linden,  Eichen  und  Tannen  zehnmal 
schöner  und  malerischer  finde  als  Alles  dies,   so  ruft  Hensel j 
^Der  nordische  Bär."    —   Und   in   einem  Brief   an  Devrient 
schreibt  er  über  die  Schweiz:  „Alle  Träume  und  Bilder  können 
Dir  nicht  eine  Ahnung  von  dem  geben,    was   dies  für  eine 
Schönheit  ist.    Es  ist  auch  so  verschieden  von  allen  Ländern, 
AUes  so  anders,  von  den  Bergformen  bis  zu  den  Häusern,  dass 
man  es  gesehen  haben  muss,  um  sich's  zu  denken.    Wie  jeder 
Berg   seinen   eigenen  Charakter  hat   und   seine   eigene  Phy- 
Biognomie,  finster  oder  freundlich,  alt  oder  jung,  wie  man  der 
ganzen  Natur  gegenübersteht  und  alle  Jahreszeiten  mit  einem 


Felix'  Vorliebe  für  nordische  Natur.  309 

Blick  sieht,  aus  dem  sommerlichen  Thal  zu  den  nackten  Felsen 
und  endlich  zum  Schnee  und  Eis  mit  allen  Winternebeln  und 
Stürmen,  und  dann  wieder,  wenn  man  auf  diesem  Eise  steht, 
tief  herunter  in's  grüne  Thal  mit  allen  Bäumen  und  Kräutern. 
—  Ist  denn  nicht  eine  Möglichkeit,  dass  Ihr  die  Schweiz  ein- 
mal sehen  könnt  ?  Denn  es  giebt  einem  eine  andere  Idee  vom 
lieben  Herrgott  und  seiner  Natur  und  ihrer  unermesslichen 
Schönheit;  jeder  Mensch,  der  es  könnte,  müsste  einmal  in  seinem 
Leben  die  Schweiz  gesehen  haben.  Wo  will  da  das  dürre 
Italien  hin,  gegen  diese  Lebensfrische  und  die  Kerngesundheit! 
Was  grün  heisst  und  Wiesen  und  Wasser  und  Quellen  und 
Felsen,  das  weiss  nur  einer,  der  hier  gewesen  ist.  Mir  ist 
nirgends  so  ganz  frei,  so  ganz  der  Natur  gegenüber  zu  Muthe 
gcAvesen,  als  in  diesen  unvergesslichen  Wochen,  und  ich  habe 
mir  es  vorgenommen,  wenn  ich  in  meinem  Leben  einmal  wieder 
einen  Sommer  herumschweifen  kann,  es  nur  hier  in  den  Bergen 
zu  thun."  —  Und  er  hat  Wort  gehalten:  immer  und  immer 
wieder  bis  in  das  letzte  Jahr  seines  Lebens  lenkten  sich  seine 
Schritte  nach  der  Schweiz,  suchte  er  Erholung  nach  den  An- 
strengungen der  englischen  Eeisen  am  Ehein,  in  den  Wäldern 
des  Taunus;  Italien  hat  er  nie  wieder  betreten. 

Mit  jenem  Brief  an  Zelter   muss   man   zusammenhalten, 
was  Felix  an  seinen  Vater  aus  Paris  am  21ten  Februar  schrieb: 

„Es  ist  nun  aber  einmal  wieder  Zeit,  dass  ich  Dir,  lieber 

Vater,  über  meinen  Eeiseplan  ein  Paar  Worte  schreite,  und 
zwar  dieses  Mal  aus  vielen  Gründen  ernster,  als  gewöhnlich. 
Da  möchte  ich  denn  erst  einmal  das  Allgemeine  zusammen- 
fassen und  an  das  denken,  was  Du  mir  vor  meiner  Abreise 
als  meine  Zwecke  hingestellt  hast  und  fest  zu  halten  befahlst: 
ich  solle  mir  nämlich  die  verschiedenen  Länder  genau  betrach- 
ten, um  mir  das  auszusuchen,  wo  ich  wohnen  und  wirken 
wolle;  ich  solle  ferner  meinen  Namen  und  das,  was  ich  kann, 
bekannt  machen,  damit  die  Menschen  mich  da,  wo  ich  bleiben 
woUe,  gern  aufnehmen  und  ihnen  mein  Treiben  nicht  fremd 
sei ;  und  endlich,  ich  solle  mein  Glück  und  Deine  Güte  benutzen, 
um  meinem  späteren  Wirken  vorzuarbeiten.  Es  ist  mir  ein 
freudiges  Gefühl,    Dir  nun  sagen  zu  können,  ich  glaube,  daa 


810  1830—1834. 

sei  geschehen.    Die  Fehler  abgerechnet,  die  man  zu  spät  ein- 
sieht,  denke  ich  diese  Deine  hingestellten  Zwecke   erfüllt  zu 
haben.     Die  Leute  wissen  jetzt,   dass   ich  lebe  und  dass  ich 
etwas  will,  und  was  ich  Gutes  leiste,  werden  sie  wohl  gut  an- 
nehmen.   Sie  sind  mir  hier  entgegengekommen  und  haben 
von  meinen  Sachen  verlangt,  was  sie  sonst  nie  gethan  haben, 
da  sich  alle  Anderen,   sogar  Onslow,   darum  haben  melden 
müssen.     Von  London  aus   hat   mich    das   Philharmonie   zum 
lOten  März  einladen  lassen,    um  etwas  Neues  von  mir  aufzu- 
führen; meinen  Münchener  Auftrag  (eine  Oper)  habe  ich  eben- 
falls bekommen,   ohne  den  geringsten  ersten  Schritt  zu  thun, 
tind  zwar  erst  nach  meinem  Concert.    Nun  will  ich  noch  hier 
(wenn  es  sich  macht)  und  gewiss  in  London,  falls  die  Cholera 
mich  nicht  an  dem  Hinreisen  im  April  verhindert,  ein  Concert 
für  meine  Rechnung   geben   und   mir  etwas  Geld  verdienen, 
damit  ich  mich  auch  darin  versucht  habe,    ehe   ich  zu  Euch 
zurückkomme,   so   dass  ich  hoffe,    den  Theil  Deiner  Absicht, 
mich  den  Leuten  bekannt  zu  machen,  erfüllt  nennen  zu  können. 
Aber  auch  die  andere  Absicht,  dass  ich  mir  ein  Land  aufsuchen 
solle,  wo  ich  leben  möchte,  ist  mir,  wenigstens  im  Allgemeinen, 
gelungen.     Das  Land  ist  Deutschland,  darüber  bin  ich  jetzt  in 
mir  ganz  sicher  geworden.     Die  Stadt  aber  wüsste  ich  nicht 
zu  sagen,   denn  die  wichtigste,  zu  der  es  mich  aus  so  vielen 
Gründen  hinzieht,  kenne  ich  noch  nicht  in  dieser  Beziehung  — 
ich  meine  Berlin,   ich  muss  also   erst  bei  meiner  Rückkunft 
prüfen,  ob  ich  da  werde  bleiben  und  stehn  können,  wie  ich  mir 
es  denke  und  wünsche,  nachdem  ich  alles  Andere  gesehen  und 
genossen  habe." 

Felix  kam  nicht  mit  leeren  Händen  aus  der  Fremde  zurück : 
aber  charakteristisch  für  seine  Richtung,  die  eben  eine  durchaus 
germanische,  nordische,  wenn  man  so  sagen  darf,  war,  sind  seine 
Hauptkompositionen,  die  er  im  Süden  gemacht:  die  Hebriden- 
Ouverture  und  die  Walpurgisnacht.  Beide  erinnern  in  Nichts 
an  die  speciellen  Umgebungen,  in  denen  sie  entstanden  sind; 
von  Lorbeeren  und  Orangen  umgeben,  zog  ihn  seine  Neigung 
zu  den  Wogen  des  Nordmeeres  und  in  die  Eichenwälder  Deutsch- 
lands.    Ueber  die  Walpurgisnacht  spricht  er  verschiedentlich 


Walpurgisnacht.  311 

in  seinen  Keisebriefen,  so  schreibt  er  an  Devrient:  „Ich  habe 
seitdem  wieder  eine  grosse  Musik  komponirt,  die  vielleicht  auch 
äusserlich  wirken  kann  (die  erste  Walpurgisnacht  von 
Göthe).  Ich  fing  es  an,  bloss  weil  es  mir  gefiel  und  mich  warm 
machte,  und  an  die  Aufführung  habe  ich  nicht  gedacht.  Aber 
nun,  da  es  fertig  vor  mir  liegt,  sehe  ich,  dass  es  zu  einem 
grossen  Concertstück  sehr  gut  passt,  und  in  meinem  ersten 
Abonnementsconcert  in  Berlin  musst  Du  den  bärtigen  Heiden- 
priester singen.  Ich  habe  ihn  Dir  in  die  Kehle  geschrieben 
mit  Erlaubniss,  also  musst  Du  ihn  wieder  heraussingen,  und 
wie  ich  bis  jetzt  die  Erfahi^ang  gemacht  habe,  dass  die  Stücke, 
die  ich  mit  der  wenigsten  Eücksicht  auf  die  Leute  gemacht 
hatte,  grade  den  Leuten  immer  am  Besten  gefielen,  so  glaube 
ich,  wird  es  auch  mit  diesem  Stück  gehn." 

Damit  hatte  er  sich  nicht  getäuscht.  Die  Walpurgisnacht 
war  immer  ein  grosser  Liebling  des  Publikums,  aber  fast  in 
noch  höherem  Grade  ein  Liebling  der  Mitwirkenden.  Sie  wurde 
sehr  häufig  bei  Fanny  Hensel  aufgeführt,  und  immer  sangen 
AUe  mit  solcher  Lust  und  solchem  Feuer,  wie  bei  keiner  an- 
dern Musik,  es  war  stets  ein  ganz  besonderes  Fest,  wenn  die 
Walpurgisnacht  vorgenommen  wurde.  Ihre  Töne  waren  auch 
die  letzten,  die  Fanny  vernahm  —  bei  eüier  Probe  derselben 
ereüte  sie  der  Tod. 

Dass  die  Walpurgisnacht  von  ihr  oft  aufgeführt  wurde, 
war  nur  natürliches  Gefühl,  eiue  Art  Mutterliebe,  denn  die 
Sonntagsmusiken  waren  eigentlich  Veranlassung  zu  ihrer  Kom- 
position. Felix  schreibt  darüber  an  seine  Schwester:  „Ein 
Stück  dankt  diesen  Sonntagsmusiken  wahrscheinlich  schon 
seine  Entstehung.  Als  Du  mir  nämlich  neulich  davon  schriebst, 
dachte  ich,  ob  ich  Dir  nicht  etwas  dazu  schicken  könnte,  und 
da  tauchte  denn  ein  alter  LiebUngsplan  wieder  auf,  dehnte 
sich  aber  so  breit  aus,  dass  ich  E.  nichts  davon  mitgeben  kann 
und  es  also  später  nachliefere.  Höre  und  staune!  Die  erste 
Walpurgisnacht  von  Göthe  habe  ich  seit  Wien  halb  komponirt 
\md  keine  Courage,  sie  aufzuschreiben.  Nun  hat  sich  das 
Ding  gestaltet,  ist  aber  eine  grosse  Cantate  mit  ganzem  Or- 
chester geworden  und  kann  sich  ganz  lustig  machen,  denn  am 


312  1830—1834. 

Anfang  giebt  es  Frülilingslieder  und  dergleichen  vollauf,  — 
dann,  wenn  die  Wächter  mit  ihren  Gabeln  und  Zacken  und 
Eulen  Lärm  machen,  kommt  der  Hexenspuk  dazu,  und  Du 
weisst,  dass  ich  für  den  ein  besonderes  Faible  habe;  dann 
kommen  die  opfernden  Druiden  in  C-dur  mit  Posaunen  heraus ; 
dann  wieder  die  Wächter,  die  sich  fürchten,  wo  ich  dann  einen 
trippelnden,  unheimlichen  Chor  bringen  will,  und  endlich  zum 
Schluss  der  volle  Opfergesang  —  meinst  Du  nicht,  das 
könne  eine  neue  Art  von  Cantate  werden?  Eine  Instru- 
mentaleinleitung habe  ich  umsonst  und  lebendig  ist  das  G-anze 
genug.*  — 

Die  Walpurgisnacht  wurde  übrigens  von  Felix  im  Jahre 
1842  noch  einmal  umgearbeitet  und  erschien  dann  erst  in  ihrer 
jetzigen  Gestalt.  Es  müssen  noch  zwei  Kuriositäten  erwähnt 
werden,  die  in  Bezug  auf  sie  sich  ereigneten :  In  einer  der  Auffüh- 
rungen bei  Fanny  Hensel  freute  sich  ein  der  höheren  Aristokratie 
angehöriger  und  sehr  frommer  Herr  über  den  schönen  ver- 
söhnenden und  erhebenden  christlichen  Schlusschor  — 
der  Gute  hatte  den  Gesang  der  Heiden  nach  Vertreibung  der 
christlichen  Wächter  in  diesem  ihm  mehr  zusagenden  Sinn  auf- 
gefasst.  —  In  Oesterreich  dagegen  strich  die  Censur  die  Stelle: 
„Mit  dem  Teufel,  den  sie  fabeln,  wollen  wir  sie  selbst  er- 
schrecken" —  und  es  musste  statt  dessen  gesungen  werden: 
„Mit  dem  Teufel,  mit  dem  Teufel  wollen  wir  sie  selbst  er- 
schrecken." Der  Teufel  gehörte  damals  in  Oesterreich  nicht 
zu  den  Fabeln.  Es  sei  hier  erwähnt,  dass  mehrere  Briefe,  die 
Felix  aus  dem  österreichischen  Oberitalien  mit  Noten  darin 
abschickte,  nicht  ankamen;  sie  wurden  wahrscheinlich  ge- 
öffnet und  wegen  der  den  Beamten  unentzifferbaren  Noten- 
schrift, in  denen  sie  etwas  Hochverrätherisches  ahnen  mochten, 
konfiscirt. 

Ausser  diesen  beiden  Hauptwerken  brachte  Felix  noch 
manches  an  Kirchenmusik,  sowie  einige  Lieder  mit  Worten 
und  ohne  Worte  von  der  Eeise  zurück. 

Ferner  war  in  dieser  Zeit  entstanden  das  g-moll-Concert 
für  Pianoforte  und  Orchester  in  München  und  das  Capriccio 
brillant  h-moll  in  London.   Und  endlich  angefangen  die  grosse 


Pie  Singakademie  wählt  Felix  nicht.  313 

a-dui'-Symphonie,  die  er  in  den  Eeisebriefen  immer  die  „ita- 
liänische*  nannte  und  in  Berlin  später  beendete.  Er  kam 
nicht  mit  leeren  Händen  nach  Berlin  zurück,  nm  der  Vater- 
stadt die  Frage  zu  thun,  ob  daselbst  für  ihn  ein  Platz  sei  zu 
tüchtiger  Arbeit. 

Berlin  hat  diese  Frage  verneint,  obgleich  ein  Platz  wohl 
dagewesen  wäre,  und  ein  ausserordentlich  geeigneter,  zu  dessen 
Ausfüllung  Felix  Mendelssohn  alle  wünschenswerthen  Eigen- 
schaften in  sich  vereinigte:  Zelter  war  während  seiner  Reise 
gestorben  und  die  Singakademie  sah  sich  nach  einem  andern 
Dirigenten  um.  Mendelssohn  war  Zelter's  Liebüngsscliüler  ge- 
wesen, er  hatte  ihn  verscliiedentlich  in  der  Direktion  vertreten, 
er  hatte  durch  die  Aufführung  der  Passion  schon  drei  Jahre 
früher  bewiesen,  dass  er  vollkommen  dazu  befähigt  war;  jetzt, 
nach  einer  Eeise  durch  fast  ganz  Europa,  auf  der  er  überall 
mit  offenen  Armen  aufgenommen  war  und  seinen  Namen  weit 
über  die  Grenzen  des  Vaterlands  bekannt  gemacht  hatte,  kam 
er  zurück  und  die  Singakademie  konnte  ihn  haben,  wenn  sie 
wollte:  er  war  sogar  bereit,  die  Dii-ektion  mit  Eungenhagen 
gemeinsam  zu  führen,  eine  Stellung,  w^elche  ihn  diesem  gewisser- 
massen  untergeordnet  hätte.  Die  Akademie  aber  wählte  mit 
überwältigender  Majorität  Eungenhagen,  und  wie  Devrient  in 
seinen  „Erinnerungen  an  Felix  Mendelssohn  Bartholdy"  sehr 
richtig  bemerkt,  sie  war  damit  auf  eine  lange  Eeihe  von  Jahren 
zur  Mittelmässigkeit  verdammt,  nur  gut,  um  einem  neuer- 
stehenden Gesangverein  als  Folie  zu  dienen. 

Felix  verlebte  den  ganzen  Sommer  1832  und  den  darauf 
folgenden  Winter  in  Berlin  und  gab  mehrere  Concerte;  in  dem 
einen  wurden  die  Hebriden-Ouverture  und  die  Walpurgisnacht 
aufgeführt.  Das  Leben  in  der  Familie  war  reizend:  alle  Feste^ 
Weihnachten,  die  Geburtstage  von  Abraham,  Lea  und  Felix 
wurden  durch  Aufführungen  verherrlicht.  Das  war  Alles  selir 
hübsch,  aber  in  der  Hauptsache,  dem  Versuch,  in  Berlin  festen 
Fuss  zu  fassen,  war  es  doch  ein  verfehltes  Jahr  mit  vielen 
Enttäuschungen.  Da  er  und  sein  Vater  in  der  üeberzeugung 
einig  waren,  dass  er  nicht  als  blosser  Musiker,  sondern  mit 
einer   festen  Stelle,    einem    bestimmten  Wirkungskreis   leben 


314  1830—1834. 

müsse  und  ausser  jener  Direktorschaft  nichts  derartiges  in 
Berlin  frei  war,  es  sich  überhaupt  mehr  und  mehr  heraus- 
stellte, dass  dort  nicht  das  geeignete  Feld  für  ihn  sei,  so  war 
es  leider!  klar,  dass  er  ein  anderes  suchen  müsse;  das  war 
eine  schmerzliche  Wahrheit,  die  sich  Allen  aufdrängte.  Nicht 
in  Berlin  bei  den  Schwestern  komponiren  und  es  den  Leuten 
draussen  aufführen  und  dann  wieder  „nach  Hause"  zurück- 
kehren und  komponiren,  wie  er's  in  jenem  Briefe  an  Eebecka 
sich  vorgenommen  hatte  —  nicht  so  sollte  fortan  das  Leben 
werden,  —  sondern  das  „zu  Hause"  soUte  er  sich  draussen 
bei  den  „Leuten"  suchen  und  dort  komponiren  und  höchstens 
hin  und  wieder  zum  Besuch  nach  dem  alten  Hause  kommen 
und,  wenn's  Glück  gut  war,  aufführen,  was  er  anderswo  ge- 
schrieben. Das  wurde  noch  ein  anderer  Abschied,  als  er  jetzt 
Berlin  verliess,  als  damals  vor  den  Reisen  nach  England  und 
Italien,  es  war  ein  Abschied  für's  Leben.  Und  Vater  und 
Mutter  wurden  älter  —  v/ie  oft  konnten  sie  noch  hoffen,  den 
Sohn  zu  umarmen!  —  Dass  unter  den  unangenehmen  Ereig- 
nissen dieser  Zeit  auch  die  Produktionskraft  Htt,  ist  natürlich. 
Von  bedeutenden  Kompositionen  aus  diesem  Berliner  Aufenthalt 
ist  nichts  zu  erwähnen.  Und  solcher  Mangel  an  Produktivität, 
wie  er  aus  der  Stimmung  entstanden,  wirkte  auch  wieder  auf 
die  Stimmung  zurück. 

Im  April  des  Jahres  1833  reiste  er  von  Berlin  ab  und 
ging  zunächst  nach  Düsseldorf,  wo  sich  nun  die  Fäden  an- 
knüpften, die  zu  seinem  dauernden  Aufenthalt  daselbst  führen 
soUten.  Wir  wissen,  wie  ilm  das  ganze  Wesen  und  Leben, 
das  künstlerische  Treiben  in  Düsseldorf  bei  seinem  Aufenthalt 
daselbst  auf  der  grossen  E-eise  angezogen  hatte.  Jetzt  wurde 
nun  zunächst  verabredet,  dass  er  das  grosse  Düsseldorfer 
Musikfest  des  Jahres  1833  dii'igiren  soUe.  Die  Zwischenzeit 
benutzte  er  zu  einem  Ausflug  nach  England,  wo  seine  italiä- 
nische  A-dur- Symphonie  mit  grossem  Erfolg  im  Philharmonie 
gegeben  wui^de.  Dann  ging's  zurück  nach  Düsseldorf  zum 
Musikfest.  Felix  hatte  das  Glück  gehabt,  die  Originalpartitur 
von  Israel  in  Egypten  aufzufinden  und  die  Aufführung  dieses 
Werkes  soUte  das  Hauptstück  des  Festes  sein.  Abraham  ging 


Düsseldorfer  Musikfest.  315 

dazn  nach  Düsseldorf  und  wir  haben  in  einer  ganzen  Reihe 
von  Briefen  von  ihm  an  seine  Frau  einen  ausführlichen  Be- 
richt über  das  Fest  und  eüie  sich  daran  schliessende  Reise 
von  ihm  und  Felix  nach  England.  Einiges  aus  diesen  Briefen 
möge  hier  eine  Stelle  finden. 


Düsseldorf,  den  22.  Mai  1833. 

„Da  Du  erst  ganz  vor  Kurzem  Voltaü^e's  Romane  gelesen 
hast,  so  wirst  Du  Dich  erinnern,  mit  welchen  Vorsätzen  der 
weise  Memnon  des  Morgens  ausging  und  wie  consequent  er 
solche  bis  zum  Abend  ausgeführt  hatte.  Nun  bin  ich  zwar 
nicht  der  weise  Memnon,  aber  doch  der  Sohn  des  weisen  Men- 
delssohn, und  da  ich  Felix  aufgetragen  hatte,  mir  eine  Woh- 
nung teile  quelle  zu  besorgen,  wenn  ich  sie  nur  bezahlte,  dies 
sei  eine  conditio  sine  qua  non  —  so  folgt  ganz  natürlich  daraus, 
dass  ich  jetzt  bei  Herrn  von  Woringen  Vater  in  einem  seiner 
schönsten  Zimmer  wohne,  eben  bei  ihm  zu  Mittag  gegessen 
habe  und  jetzt,  da  ich  mich  hinsetze  zum  Schreiben,  mir  der 
alte  vierundsiebenzigjährige  Präsident  selbst  eine  Karaffe  frischen 
Wassers  aufs  Zimmer  bringt,  seine  Bedienten  oder  Mädchen 
habe  ich  noch  nicht  mit  Augen  gesehen.  Die  Sache  ging  so 
zu:  Ich  fuhr  in  fürchterlicher  Hitze,  müde  und  sehr  herunter, 
auf  Düsseldorf  zu,  bemerkte  ein  Gebäude,  welches  ich  nach 
der  Beschreibung  für  den  Musiksaal  hielt,  als  mich  Jemand 
sehr  freundlich  grüsste  und  auf  den  Wagen  zuging.  Ich  lasse 
halten,  kenne  den  Mann  nicht  und  sage  daher  ganz  getrost: 
„Guten  Tag,  Herr  von  Woringen!"  denn  kein  anderer  mir 
unbekannter  Mensch  konnte  mich  in  Düsseldorf  kennen,  als 
eben  dieser.  Er  erzählte  mii',  Felix  habe  in  keinem  einzigen 
Wirths-  oder  Privathause  mehr  em  Logis  für  mich  finden 
können  und  ich  müsste  schon  bei  seinem  Vater  wohnen.  Ich 
schlug  dies  beharrlich  ab,  er  aber  blieb  noch  beharrlicher  dabei 
und  sagte  unter  anderm,  das  Zimmer,  welches  Felix  meinem 
bestimmten  Wunsche  nach  doch  einstweilen  genommen,  sei  in 
einem  schmutzigen  Hause  etc.  Nun  war  ich  selbst  so 
schmutzig   von  dem   fürchterlichen  Staube   der  beiden  letzten 


316  1830-1734. 

Tage,  und  mir  selbst  so  zum  Ekel,  dass  jenes  Wort  meine 
ganze  Widerstandskraft  brach;  zugleich  musste  das  Gespräch 
auf  der  Landstrasse  doch  ein  Ende  nehmen,  Woringen  hatte 
sich  in  den  Wagen  hineingedi'ängt,  ich  Hess  mir  eine  dowe 
violence  anthun  —  und  wohne  hier.  Ich  würde  es  vergeblich 
versuchen.  Dir  von  der  wirklich  unglaublichen  Freundlichkeit 
und  wahi'haft  antiken  Gastfreundschaft  einen  Begriff  zu  machen, 
mit  der  ich  von  diesen  Leuten  povo'  les  heaux  yeux  de  —  mon 
fils  behandelt  werde ;  und  ich  kann  nicht  leugnen,  dass  ich  dem 
Zufall,  welcher  mich  Woringen  auf  der  Strasse  treffen  und  ihn 
mich  erkennen  Hess,  herzlich  dankbar  bin  für  die  ungemein 
comfortable  Existenz,  die  ich  hier  geniesse.  Reiseerzählungen 
mancher  Art  und  sonstiges  Erlebte  später,  für  jetzt  nur  von 
Felix  und  dem  Fest.  Felix  war  eben  in  der  Probe,  als  ich 
ankam.  Woringen  war  gleich  hingelaufen,  ihm  dies  anzukün- 
digen, und  mit  besonderem  Triumph,  dass  ich  bei  ihm  wohne, 
welches  Felix  gar  nicht  glauben  wollte.  Nach  einiger  Zeit 
kam  er  denn  an,  und  ich  kann  es  Dir  allerdings  weder  ver- 
schweigen, noch  leugnen,  er  hat  mir  vor  Freude  die  Hand  ge- 
küsst.  Er  sieht  sehr  wohl  aus,  hat  sich  aber,  wenn  mich  mein 
Auge  nicht  ganz  trügt,  in  der  kurzen  Zeit  wieder  sehr  ver- 
ändert; sein  Gesicht  ist  noch  marquirter,  alle  Formen  schärfer 
geschnitten  und  herausgetreten,  dazu  die  Augen  wie  sonst, 
und  das  macht  Alles  zusammen  einen  ganz  eigenen  Effekt ;  es  ist 
mir  ein  solches  Gesicht  noch  nicht  vorgekommen.  Es  ist  aber  mir 
auch  noch  nicht  vorgekommen,  einen  Menschen  so  auf  Händen 
getragen  zu  sehen,  wie  Felix  hier;  er  selbst  kann  den  Eifer 
aller  zum  Fest  Mitwirkenden,  ihr  Zutrauen  zu  ihm  nicht  genug 
rühmen,  und,  wie  überall,  setzt  er  Alles  durch  sein  Spiel  und 
sein  Gedächtniss  in  Erstaunen  und  Bewegung.  So  hat  er  es  z.  B. 
nur  dadurch  bewirkt,  dass  eine  früher  angesetzte  Beethoven'sche 
Symphonie,  welche  schon  einigemal  hier  gespielt  wurde,  auf- 
gegeben und  die  Pastoral-Symphonie  (mir  wird  brühwarm,  wenn 
ich  bedenke,  dass  ich  solche  übermorgen  in  der  fürchterlichen 
Hitze  werde  hören  müssen)  an  die  Stelle  gesetzt  worden,  dass 
er  dieselbe,  als  die  Rede  davon  war,  nicht  allein  sofort  aus- 
wendig spielte,   sondern  für  den  Tag  darauf,   als  eine  kleine 


Düsseldorfer  Musikfest.  317 

Probe  davon  gemacht  wurde  und  keine  Partitur  da  war, 
sie  auswendig  dirigirte  und  die  ausbleibenden  Instrumente 
mitsang  etc. 

Das  Drängen  und  Treiben  zu  diesem  Fest  ist  allerdings 
etwas  Eigenes  und  Erfreuliches ;  aus  Holland  kommen  die  Leute 
und  eine  Hauptsängerin  z.  B.  aus  Utrecht.  Dass  in  der  Stadt 
kein  Platz  mehr  ist,  ersehe  ich  zu  meiner  Freude,  denn  es 
gefällt  mir  sehr  hier  im  Hause.  Dasselbe  ist  ein  Hauptpfeiler 
des  ganzen  musikalischen  Wesens  hier,  und  der  Vater,  wie 
gesagt,  vierundsiebzig  Jahre  alt,  singt  tapfer  im  Tenor  mit. 
Gestern  (ich  schrieb  dies  Alles  nämlich  heute,  einen  Tag  später 
als  gestern  und  glaube  auch,  meinen  Brief  falsch  datirt  zu 
haben,  denn  gestern  war  wohl  der  20te),  nachdem  ich  bei 
Woringen  zu  Mittag  gegessen,  kamen  Kaffeevisiten,  die  Decker, 
die  Schadow  u.  A.  Nach  dem  Kaffee  wurde  eine  Landpartie 
gemacht,  von  der  ich  mich  aber  ausschloss,  weil  ich  zu  müde 
war  und  zu  schreiben  anfangen  wollte.  Felix  hatte  bei  dem 
Prinzen  dinirt  und  kam  mit  Immermann  zurück,  mit  dem  ich 
ein  langes  Gespräch  hatte.  (Felix  sagte,  dieser  Besuch  sei 
eine  hohe  Ehre  und  Immermann  für  stolz  bekannt.)  Dann 
blieb  ich  einige  Stunden  mit  Felix  allein ;  nachher  wurden  wir 
zum  Thee  gerufen,  und  ich  glaubte  mich  wirklich  zu  Hause. 
"Wir  waren  mit  der  Familie,  einem  Thee  und  einem  Butter- 
brod  ganz  allein  und  wir  gingen  erst  um  elf  einhalb  Uhr 
auseinander. 

Heute  Vormittag  ist  hier  Probe  am  Klavier  von  den 
Solosachen  im  Israel,  Nachmittags  um  3  Uhr  Hauptprobe  des 
ganzen  Israel,  welche,  wie  Felix  meint,  bis  gegen  acht  Uhr 
dauern  wird  (ich  werde  schwitzen  wie  auf  dem  Rhigi,  denn 
da  sie  hier  die  gescheite  Einrichtung  getroffen,  dass  Jeder, 
welcher  sein  BiUet  zu  der  Aufführung  genommen  und  be- 
zahlt hat,  für  zehn  Sübergroschen  ein  Probebillet  be- 
kommen kann,  so  wird  dieselbe  fast  so  voll,  als  die  Auf- 
führung.) —  Morgen  ist  Vor-  und  Nachmittag  Probe,  Sonntag 
und  Montag  die  Concerte,  Dienstag  ein  grosser  BaU  und 
dann  noch  ein  drittes  Concert,  in  welchem,  hoffe  ich,  alle  fünf 
oder  sechs  Beethoven'schen  Symphonien  hinter  einander  gegeben 


318  1830-1834. 

werden,  die  Decker  singen,  Felix  spielen  und  dann  noch  einiges 
geschehen  -svird.  Ich  werde  vorschlagen,  solches  nm  zehn  Uhr 
Abends  anfangen  und  die  ganze  Nacht  hindurch  dauern  zu 
lassen.  Es  hat  Manches  für  sich.  Erstens  ist  es  jetzt  nur 
Nachts  erträglich  (daher  ich  mir  vornehme,  sie  zur  Besich- 
tigung der  Ateliers  zu  benutzen,  da  wir  wieder  Mondschein 
haben),  dann  ist  es  nur  natürlich  und  Niemandem  übel  zu  neh- 
men, wenn  man  einschläft,  wozu  die  Nacht  denn  doch  gemacht 
ist;  so  würde  sich  Natur  und  Kunst  in  die  Hände  arbeiten, 
ich  würde  dann  zur  Einleitung  oder  als  Ouvertüre  zu  den 
Symphonien  den  ersten  Chor  aus  dem  „Doctor  und  Apotheker" 
erwählen,  und  wenn  dann  die  Decker  die  Arie  aus  dem  Frei- 
schützen (mit  der  sie  hier  Furore  macht),  sänge,  so  würde 
ein  Jeder  sich  bei:  „Welch  schöne  Nacht"  denken  oder  träumen 
lassen  können,  was  ihm  gefiele;  ich  würde  ein  solches  Concert 
als  Gegensatz  zum  Dejeuner  dansant  —  Concert  dormant  nennen; 
die  nähere  Ausarbeitung  dieser  Ideen  überlasse  ich  dem  Comit6 
für  schlechte  Witze  in  der  Leipzigerstrasse  Nr.  3. 


Düsseldorf,  Pfingstsonntag  1833. 
„Wenn  mich  etwas  gereuet,  so  ist  es  nicht,  hierherge- 
kommen zu  sein,  sondern  keinen  von  Euch  bei  mir  zu  haben, 
denn  ein  Musikfest  am  Ehein  ist  ein  schönes  und  eigenes 
Ding;  es  ist  ein  Ereigniss,  nur  von  der  Musik  zu  veranlassen 
und  nur  in  diesem  Lande  möglich.  Die  ungeheuer  kompakte 
Bevölkerung  dieses  Landstrichs,  vielleicht  die  dichteste  in 
Europa,  der  rasche,  rege  Gewerbfleiss,  welcher  sie  zusammen- 
drängt, haben  zu  ihren  Zwecken  zahllose  Transportmittel  zu 
Wasser  und  zu  Lande  veranstaltet,  und  alle  sind  für  diese 
zwei  Tage  in  Anspruch  genommen;  seit  vorgestern  bringen 
Dampfboote,  Eilwagen  jeder  Art,  Extraposten,  eigene  Equipagen, 
ganze  Familien  aus  allen  Gegenden  bis  zu  zwanzig  Meilen  in 
der  Runde,  einzelne  auch  weiter,  z.  B.  einige  aus  Breslau  her; 
alle  diese  Leute  sind  gewöhnt,  das  Vergnügen  auch  als  ein 
Geschäft  zu  betrachten  und  lassen  sich  daher  aufs  Eifrigste 
angelegen  sein,    sich   möglichst  zu  amüsii-en,  alle  ihre  Kräfte 


Düsseldorfer  Musikfest,  319 

aufzubieten,  dass  das  Vergnügen  reussire;  dadurcli  wii'd  es 
denn  auch  nur  allein  möglich,  dass  eine  solche,  nach  und  nach 
angeschwemmte  und  angefahrene  Masse  sich  zu  einem  Ganzen 
büdet  und  theilweise  Ausserordentliches  leistet.  Denk  Dil*, 
dass  gestern  und  vorgestern  von  früh  acht  bis  Abends  neun 
mit  geringen  Unterbrechungen  für  Pausen  und  Mttagessen, 
gestern  Abend  sogar  bis  zehn  Uhr  probirt  wurde,  dass  heut, 
am  Tage  der  ersten  Aufführung  (Felix'  Ouvertüre  und  Israel), 
von  acht  Uhr  Morgens  bis  gegen  zehn  Uhr  Instrumentalprobe 
ist,  von  elf  Uhr  bis,  ich  weiss  nicht  wie  lange,  Solosachen  hier 
im  Hause  probirt  werden,  dass  bei  allen  diesen  Proben  kein 
einziger  Freiwilliger  fehlt  und  aUenfallsige  Störungen  nur  von 
den  bezahlten  Blaseinstrumenten  (sie  repräsentiren  unsere 
Ivönigl.  Kammermusiker)  veranlasst  werden,  und  dass  aUe 
diese  Leute  in  der  fürchterlichen  Hitze  diese  schwere  Arbeit 
gewissenhaft  und  lustig  verrichten,  um  sich  zu  amüsiren. 

Zu  diesen  aktiven  Beförderungsmitteln  kommen  nun  auch 
viele  hier  fehlende  Hemmungen.  Es  giebt  hier  keinen  Hof, 
keine  Einmischung  oder  Einstörung  (kommt  her  von  Einfluss) 
von  Oben,  keiuen  General-Musikdirektor,  keine  Königl.  Dies 
oder  Jenes.  Es  ist  ein  wahres  Volksfest,  daher  ich  auch  bis 
jetzt  keinen  Polizeimann  oder  Gensd'arm  bemerkt  habe,  und 
der  Magistrat  die  Wege  bis  zum  Concertsaal  —  er  liegt 
ausserhalb  der  Stadt  —  mit  Feuerspritzen  reichlich  besprengen 
lässt.  Aber  auch  das  Lokal  selbst  trägt  viel  zur  eigenthüm- 
üchen  Gestalt  des  Ganzen  bei. 

An  der  Landstrasse  von  Berlin,  etwa  zweitausend  Schritt 
vor  der  Stadt,  in  einem  grossen,  schattenreichen,  zu  einer  Gast- 
wirthschaft  gehörigen  Garten,  ist  ein  Saal  von  eiuhundertfünf- 
unddreissig  Fuss  Länge,  etwa  siebenzig  Fuss  Breite  und  leider 
nur  siebenundzwanzig  und  eiuem  halben  Fuss  Höhe  (offenbar  zehn 
bis  fünfzehn  Fuss  zu  wenig)  hineiugebaut,  ganz  ohne  alle  und 
jede  Verzierung  und  —  ich  erröthe  —  geweisstü  —  *)  Es 
ist   allerdings   unbegreiflich,    dass   in    einem   geweissten   Saal 


*)  Eine    Neckerei    für   Hensel,    dem    geweisste    Wände    ein 
Greuel  waren. 


820  1830—1834. 

Mnsik  klingen  kann,  aber  es  ist  wirklich  wahr.  Der  Saal 
fasst  ungefähr  eintausendzweihundert  bis  eintausenddreihundert 
Menschen;  ein  Drittheil  davon  ist  für  Orchester  und  Chor  ab- 
getheüt,  den  übrigen  Theil  füllen  Reihen  Stühle,  welche  aber 
am  Boden  befestigt  und  numerirt  sind;  ich  halte  dies  für 
besser,  als  mit  Nummern  bezeichnete  Plätze  auf  Bänken. 

Während  der  Pausen,  welche  hier  länger  als  bei  uns 
dauern  (z.  B.  wird  die  Pause  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
Theil  von  Israel  heut  Abend  wohl  wenigstens  eine  halbe  Stunde 
dauern),  stürmt  Alles  in  den  Garten,  Massen  von  Butterbroden, 
Maitrank,  Selterwasser,  saurer  Milch  u.  s.  w.  werden,  um  denn 
auch  dem  Gastwirth  ein  Musikfest  zu  geben,  an  grossen  und 
kleinen  Tischen  von  Einzelnen  und  Gesellschaften  verzehrt, 
und  das  Ganze  sieht  einer  Kirmess  gar  sehr  ähnlich.  In- 
zwischen werden  in  dem  Saal  Thüren  und  Fenster  geöf&iet, 
und  wenn  die  Luft  gehörig  erneut  und  die  Pause  abgelaufen 
ist,  ertönt  vom  Orchester  in  den  Garten  hinein  ein  starker 
Tusch,  worauf  denn  Alles  wieder  rasch  und  lustig  in  den 
Saal  hineinzieht;  etwa  Säumige  oder  noch  Durstige  ruft  ein 
zweiter  Tusch  und  Israel  schreit  wieder  zum  Herrn.  So  war 
es  des  Vormittags  und  des  Abends  in  den  Proben,  von  denen 
ich  keine  einzige  versäumt  habe. 

Ueber  Nacht  aber  hat  sich  das  Wetter  plötzlich  sehr  ab- 
gekühlt, es  hat  ein  wenig  geregnet,  der  Himmel  ist  heute  grau 
und  drohend,  so  dass  jene  schöne  unordentliche  Ordnung  heute 
Abend  wohl  gestört  werden  dürfte.  Da  nun  aber  zu  einem 
Musikfest  ein  Direktor  gehört,  so  muss  ich  wohl  noch  Einiges 
von  dem  diesjährigen,  dem  hiesigen  Herrn  Felix  (er  heisst  auch 
hier  kaum  anders),  erzählen.  Liebes  Kind!  Wir  erleben 
einige  Freude  an  diesem  jungen  Mann,  und  ich  denke  manch- 
mal, Martens  Mühle  soU  leben  1  *)  —  Er  hat  wirklich  ein  unge- 
heures Stück  Arbeit,  aber  er  vollbringt  es  mit  Lust,  Kraft,  Ernst 
undGewandheit  und  thut  wirklich  Wunder !  —  Mir  wenigstens  er- 
scheint es  oft  als  etwas  Wunderbares,  dass  vierhundert  Menschen 
aUer  Geschlechter,  Stände  und  Alter,  wie  der  Schnee  zusammen- 


*)  Siehe  oben  Seite  87. 


Düsseldorfer  Musikfest.  321 

geweht,  sich  von  einem  der  Jüngsten  von  ilmen,  allen  fast  zum 
Fi^eund  zu  jung,  ohne  Titel  und  Würden,  wie  die  Kinder 
führen  und  regieren  lassen.  So  ist  ihm  unter  Anderm  durch 
eine  einzige  feste  Anordnung  (wenn  er  nur  noch  seine  Aus- 
sprache verbesserte,  so  wüi'de  es  mit  dem  Reden  sonst  ganz 
gut  gehn)  gelungen,  was  meines  Wissens  bis  jetzt  noch  keinem 
Dirigenten  ii'gendwo,  nämlich  das  abscheuliche,  mii'  von  jeher 
in  den  Tod  widerliche  Stimmen  abzuschaffen.  Am  ersten  Probe- 
tag wüthete  dieses  Charivari  ganz  toll,  denselben  Nachmittag 
redete  er  sie  an  und  untersagte  es  ihnen,  als  Einzelne  darauf 
versuchten  zu  recidivii^en ,  verbot  er  es  aufs  Ernsteste,  und 
jetzt  habe  ich  nicht  einen  Ton  stimmen  gehört.  Ferner  war 
es  hier,  bei  dem  successiven  Eintreffen  Fremder  von  allen 
Punkten,  die  sich  im  Orchester  meist  zum  ersten  Mal  treffen 
und  dort  mit  den  hiesigen  Freunden  zusammenkommen,  früher 
zur  Mode  geworden,  das  Orchester  zugleich  als  Parloir  zu  be- 
nutzen ;  es  wurde  ungeheuer  viel  geschwatzt,  die  Proben  gingen 
schlecht,  der  Dirigent  musste  sich  die  Lunge  ausschreien  und 
wurde  nicht  gehört;  und  da  bis  zur  Stunde  der  Aufführung 
immer  neue  hinzukamen,  so  wurde  die  Störimg  unleidlich. 
Nachdem  Alles  dies  am  ersten  Probetage  sich  wieder  zugetragen 
hatte,  stellte  ihnen  Felix  vor,  dass  er  sich  das  nicht  gefallen 
lassen  könne,  dass  er  weder  schreien  könne  noch  wolle,  dass 
sie  ihn  hören  müssten,  und  dass  er  auf  die  unbedingteste 
Stille  und  Euhe  im  Orchester,  während  er  spräche,  rechnen  und 
halten  müsste.  Nachdem  er  auch  dieses  ein  zweites  Mal  sehr 
emst  und  bestimmt  wiederholt  hatte,  versichere  ich  Dich,  dass 
ich  eine  pünktlichere  Befolgung  einer  Anordnung  nicht  gesehn ; 
es  leuchtet  ihnen  ein,  dass  es  nothwendig  und  richtig  sei,  und 
sowie  er  nun  aufklopft  und  etwas  sagen  will,  hört  man  ein 
allgemeines  „Pst"  und  es  ist  tiefe  Stille.  — 

Dadurch  hat  er  nun  auch  bewii'kt,  dass,  zum  ersten  Mal, 
wie  man  mich  allgemein  versichert,  Nuancen  in  Chor  und  Or- 
chester hineinkommen,  was  sie  wieder  Alle  erfreut  und  ihi'en 
Leistungen  in  ihren  eigenen  Augen  und  Ohren  einen  höheren 
Werth  beilegt.  Gestern  Vormittag  war  eine  vorläufige  Probe 
von   „Winter's  Macht   der  Töne",    es   waren  nur  wenige  Zu- 

Die  Familie  Mendelssohn.   I.  21 


322  1830—1834. 

hörer  gegenwärtig ;  die  Decker  aber  sang  eine  tüchtige  Bravour- 
Arie  so  ausserordentlich  schön,  dass  Zuliörer  und  Orchest-er  in 
lebhaftes  Applaudissement  ausbrachen.  Gestern  Abend  war 
Generalprobe  von  Felix'  Ouvertiu'e  und  Israel.  Der  Saal  war 
gepfropft  voll.  Die  Ouvertüre  gefiel  sehr;  aber  der  letzte 
Chor  des  ersten  Theils  „Er  gebeut  der  Meeresfluth  —  und  sie 
trocknete  aus"  und  dann  der  erste  des  zweiten  Theils  mit 
seinem  furchtbaren  Schluss:  „Eoss  und  Reiter  hat  er  in  das 
Meer  gestürzt",  erregten  unter  den  Hörern  und  Ausführern 
einen  so  Ungeheuern  Jubel,  eine  Aufi'egung,  wie  sie  mir  selten 
vorgekommen,  es  dauerte  eine  Viertelstunde,  ehe  Alles  wieder 
in's  Geleis  kam.  Und  dies  in  einer  bezahlten  Generalprobe !  — 
üebrigens  gehen  die  Chöre  ganz  vortrefflich,  doch  scheinen  mir 
die  Männerstimmen  zu  überwiegend,  die  Maler  singen  alle  mit 
und  schreien  nicht  schlecht. 

Sie  glauben  hier,  Felix  habe  die  Ouvertüre  für  das  Fest 
geschrieben  und  finden  sie  ausserordentlich  charakteristisch  dem 
Oratorium  angepasst;  merkwürdig  genug  ist,  dass  der  Zufall 
es  so  fügt,  dass  ich  mir  wirklich  keine  bessere  Ouvertüre  zu 
Israel  -wünsche." 


Düsseldorf,  den  28.  Mai. 

„ Gestern  Abend  war  es  schön:  die  Symphonie  pa- 

storale  ging  ganz  vortrefflich,  darauf  eine  Cantate  von  Wolff 
tödtlich  langweilig,  dann  Leonore  allgemein  hinveissend  und 
einschlagend.  Darauf  Pause  von  dreiviertel  Stunden,  der  ganze 
Garten  kribbelnd  und  wibbelnd  voll;  meine  Hausleute  begeg- 
neten mii',  und  der  alte  Präsident,  eine  Flasche  Maitrank  in 
der  Tasche  und  ein  Glas  in  der  Hand,  schenkte  mir  ein  und 
labte  mich.  Tusch  im  Saal.  Der  Strom  wälzt  sich  zurück, 
"^ür  den  Augenblick,  da  Felix  vor  sein  Pult  trat,  hatte  das 
Orchester,  selbst  erstaunt  und  erfreut  über  seine  eigenen  Lei- 
stungen, einen  neuen  Tusch  verabredet,  in  welchen  diesmal  der 
ganze  Saal  laut  und  lang  mit  einstimmte.  Winter's  Macht  der 
Töne !  Eine  der  beiden  Woringen,  ein  ganz  charmantes  Mäd- 
chen, hat  in  zwei  Worten  über  WolfiTs  Cantate  und  Winter's 


Düsseldorfer  Musikfest.  323 

Macht  alles  erschöpft,  was  sich  darüber  sagen  lässt:  „Ueber 
die  Macht  der  Töne  kann  man  sich  doch  ärgern,  aber  bei  der 
Cantate  muss  man  einschlafen."  Doch  erregte  die  Decker  mit 
ihrer  Bravour-Arie  grossen  Jubel.  Inzwischen  aber  hatten  die 
Mädchen,  ich  glaube  auch  die  Frauen  des  Chors,  sich  jede  mit 
einem  Vorrath  Blumen  bewafinet  und  die  junge  Woringen  ein 
Sammetkissen  mit  einem  Lorbeerkranz  wähi-end  der  ganzen 
zweiten  Abtheilung  auf  ihrem  Schooss  unter  der  Schürze  ver- 
steckt. Im  Moment  also,  da  Felix  hinabstieg,  empfing  er  die 
Blumen-Salve  und  soll  (wie  mir  erzählt  wurde,  denn  ich  sass 
nach  hinten  und  habe  daher  gar  nichts  gesehen,  von  der  Sache 
selbst  aber  keine  Silbe  voraus  erfahren)  ein  halb  verwundertes, 
halb  böses  Gesicht  gemacht  haben,  als  ihm  die  ersten  Bouquets  um 
den  Kopf  flogen:  Nun  ^vurde  er  wieder  hinauf  gedrängt  und  die 
älteste  Woringen  wollte  ihm  den  Kranz  aufsetzen.  Darauf  soll 
er  sich  im  eigentlichsten  Sinne  bis  auf  die  Erde  gebückt  haben, 
um  dem  zu  entgehen.  Aber  ein  grosser  starker  Mann  (Keiner 
von  den  starken  Männern  aus  Potsdam)  aus  dem  Chor  hob  und 
hielt  ihn  auf,  und  er  musste  den  Kranz,  der  ihm,  nachdem  er 
ihn  vieimal  abgenommen,  zum  fünften  Male  aufgesetzt  worden, 
unter  fortwährendem  Tusch  des  Orchestei*s  und  Applaus  des 
Chors  und  der  Zuschauer  eine  Zeit  lang  tragen  und  er  soll  ihm 
gut  gestanden  haben. 

Wir  sollten  uns  nach  dem  Concert  alle  wieder  bei  Scha- 
dow's  versammeln,  ich  wollte  aber  zu  Hause,  um  mich  nicht 
zu  übermüden !  Doch  der  weise  Memnon  blieb  consequent,  wie 
immer:  Im  Herausgehen,  oder  vielmehr  Geschobenwerden  kam 
ich  mit  Schadow  zusammen  und  da  war  keine  Rede  mehr  von 
nach  Hause  gehen.  Schadow  sagte  mir,  er  habe  mir  etwas 
Dringendes  mitzutheüen ,  ich  gab  im  Gedränge  der  Madame 
Schadow  den  Arm,  weil  er  den  Wagen  suchen  wollte,  dieser 
war  nicht  zu  finden,  so  wenig  wie  Schadow  selbst  und  so 
brachte  ich  Madame  Schadow  zu  Fuss  in  ilir  Haus.  Dass  die 
Aufregung  der  Scene  im  Concert  mit  dazu  beitrug,  meine 
Weisheit  zu  Schanden  zu  machen,  ist  gewiss.  Es  ging  Andern 
nicht  besser,  denn  kaum  bei  Schadow  angekommen,  folgten  die 
Andern  und  mit  ihnen  die  älteste,  etwas  kränkliche,  Lorbeer 

21* 


324  1830—1834. 

ertheilende  Woringen,  mit  der  ich  mich  engagtrt  hatte,  uns  zu 
Hause  zu  treffen,  und  da  wir  uns  nun  hei  Schadow  trafen, 
lachten  wir  uns  aus  und  waren  unseres  Wortes  quitt.  Hier 
ging  nun  die  tolle  Wii'thschaft  von  Neuem  los:  Einer  fing  an 
auf  dem  Ciavier:  „Seht,  er  kommt  mit  Preis  gekrönt,"  zu 
spielen,  und  Felix  musste  seinen  Kranz  wieder  aufsetzen  und 
ein  Paarmal  in  Procession  durch  die  Zimmer  ziehen.  Kaum 
war  darauf  eine  Tasse  Thee  herunter,  als  Tische  und  Stühle 
hei  Seite  geschohen  wurden  und  das  tollste  Walzen  und  Galop- 
piren losging.  Felix  musste  anfangs  spielen,  wurde  aber  dann 
abgelöst  und  tanzte  lustig  mit.  Mme.  Decker  meinte,  er  könne 
wohl  nicht  tanzen  und  sei  zu  ernsthaft  und  mit  zu  vielen 
anderen  Dingen  beschäftigt;  er  überzeugte  sie  aber  bald  vom 
Gegentheil,  und  sie  sagte  mir,  als  sie  sich  zum  ersten  Mal 
ausruhte:  „Felix  (ich  glaube  schon  geschrieben  zu  haben,  dass 
der  kleine  Toffel*)  auch  hier  seinen  Namen  beibehalten  hat) 
tanzt  ja  ganz  vortrefflich."  Das  tolle  Wesen  stieg  nun  immer 
mehr  und  mehr,  als  wir  uns  zusammensetzten,  um  aus  der 
Hand  Butterbrod  zu  essen,  zu  welchem  Schadow  Massen  von 
Aleatico  und  Vino  Santo  hergab;  ich  hatte  mir  zum  Glück 
nicht  vorgenommen,  nicht  zu  trinken  und  trank  daher  nicht; 
Felix  auch  nicht.  Nun  ging  es  an  ein  Rundsingen  und  aus 
vollem  Halse  schreien.  Alles  musste  mit,  und  als  wir  zu  Hause 
kamen,  war  es  zwei  Uhr  nach  Mitternacht.  Was  Schadow  zu 
sagen  hatte,  bestand  darin,  dass  ich  ihm  rathen  solle,  was  das 
Comit6  für  FeKx  zum  Andenken  wählen  könnte.  Sie  hatten 
für  ihn  die  Loos'sche  Medaille  in  Gold  prägen  lassen,  die  gefiel 
ihnen  aber  nicht  und  sie  wollten  sie  behalten,  Einige  hatten 
nun  einen  Brillantring  proponirt,  Andere  Händel'sche  Partituren, 
ich  war  entschieden  gegen  den  Ring,  mehi-  für  die  Musik, 
meinte  aber,  es  sei  das  Beste,  dass  ich  Felix  selbst  frage,  was 
Schadow  auch  sehr  gut  fand.  Ich  frug  Felix  auf  der  Stelle, 
und  er  erbat  sich  ein  Petschaft,  so  eingerichtet,  dass  er  es 
zum  täglichen  Gebrauch  nehmen  könne.  Schadow  fand  die 
Wahl  sehr  richtig  und  zv/eckmässig ,   und   so   wird  ihm  nach 


*)  Anspielung  auf  Lichtwer's  Gedicht:   „Der  kleine  Toffel" 


Düsseldorfer  Musikfest.  325 

einer  Zeichnung  von  Schadow  in  Berlin,  wo  jetzt  ein  sehr 
geschickter  Steinschneider  leben  soll,  ein  Petschaft  geschnitten 
werden. 

Gestern  früh  in  der  Probe  hatte  Woringen  dem  Orchester 
und  dem  Publikum  angekündigt,  dass  sie  zum  ersten  Mal  seit 
der  Existenz  der  Musikfeste  ein  drittes  Concert  zu  geben  beab- 
sichtigten, und  der  Vorschlag,  welcher  im  Comite  grossen 
Widerspruch  erfahren,  weil  er  neu  war,  und  man  fürchtete,  es 
werde  misslingen,  wurde  allgemein  mit  dem  grössten  Applaus 
aufgenommen,  weil  die  Decker  singen,  Felix  spielen  und  der 
zweite  Theil  von  Israel  noch  einmal  gehört  werden  sollte. 
Proben  waren  nicht  nöthig  und  so  wurde  denn  gestern  um  elf 
Uhr  (ich  schreibe  nämlich  dies  heute,  den  29ten  Mai)  das  Con- 
cert nach  folgendem  Programm  gegeben: 

Erster  Theil:  Felix'  Ouvertüre,  Scene  aus  dem  Freischütz 
(Mme.  Decker),  Concertstück  von  Weber  (Felix),  Arie  aus  dem 
Figaro  (Mme.  Kufferath). 

Zweiter  Theil:  Ouvertüre  zu  Leonore.  Der  zweite  Theil 
von  Israel. 

Die  Ausfülu'ung  war  durchaus  trefflich,  Orchester  und 
Chöre  wetteiferten  auf  eine  wirklich  begeisterte  Weise,  und 
der  letzte  Chor  von  Israel  wurde,  ich  kann  es  nicht  anders 
nennen,  rasend  execntirt.  FeUx  erschien  erst  um  elf  einhalb 
Uhr,  was  mich  zu  beunruhigen  anfing  (Ihr  wisst,  dass  wir  nicht 
zusammen  wohnen),  als  er  aber  kam,  wui'de  er  sofort  mit  drei- 
fachem Tusch  empfangen,  und  als  er  gespielt  hatte,  donnerte 
der  Saal  und  vor  Allem  Chor  und  Orchester.  Alle  Gesangs- 
stücke wiTi'den  blos  durch  ihn  am  Ciavier  begleitet,  imd  obschon 
er  auf  diese  Weise  während  des  ganzen  Concerts  unablässig 
und  auf  die  mannigfaltigste  Weise  in  Arbeit,  und  wie  ich  nach- 
her erfuhr,  die  Nacht  unwohl  gewesen  und  daher  so  spät  ge- 
kommen war,  hinderte  ihn  dies  nicht,  an  einem  Diner,  welches 
im  Garten  arrangii^t  worden  und  bei  welchem  ihm  die  Kölner 
ein  Gedicht  überreichten,  sodann  an  der  allgemeüien  Landpartie 
(zu  welcher  in  ganz  Düsseldorf  kein  Pferd  und  Wagen,  selbst 
keine  Postpferde  mehr  zu  haben  waren)  und  endlich  Abends 
am  Ball  Theil  zu  nehmen. 


326  1830-1834. 

Ich  aber  fühlte  mich  gleich  nach  dem  Concert  so  ermattet, 
so  ausserordentlich  angegriffen,  dass  ich,  mühselig  nach  Hause 
gelangend,  an  garnichts  mehr  Theil  nahm,  seit  vierundzwanzig 
Stunden  mich  ausruhe,  um  heute  hei  dem  grossen  Diner  nicht 
zu  fehlen.  Zu  diesem  wurde  ich  gestern  durch  eine  Deputation 
des  Comit6  feierlichst  eingeladen,  sie  hatten  mich  gestern  im 
Hause  aufgesucht,  und  da  ich  schon  fort  war,  so  folgten 
sie  mir  in's  Concert,  wo  denn  während  der  Pause  die  Ein- 
ladung erfolgte.  Ich  bin  also  von  jetzt  an  der  Stadtrath  und 
Eingeladene. 

Der  musikalische  Theil  des  Festes  hatte  also  gestern  ge- 
endet und  heute   wird   dasselbe  schliesslich  ausgegessen.    Es 
waren  ein  Paar  sehr  schöne,  mir  unvergessliche  Tage,  welche 
der  Zufall  mir   vergönnt   und   durch   den  Aufenthalt  hier  im 
Hause  erst  recht  erhöht  und  geschmückt  hat,  die  ich  zunächst 
Felix,  dann  Euch,   die  Ihr  mich    dazu    beredet  habt,  schuldig 
und  dafür  sehr  dankbar  bin.     Ueber    das    hiesige  Haus    kann 
ich  Euch  nur  erzählen,    schreiben   lässt    sich   nicht,    was  mir 
hier   ward,   und   seit  1813  im  Hause   der   Tante  Arnstein  in 
Wien  habe  ich  nichts    erfahren,    was    sich   damit   vergleichen 
lässt.     Und  doch  hat  ja  auch  die  Bigot   gelebt,   deren  Mutter 
Felix  krank  in  ihr  Haus  genommen.    Gastfreundschaft  ist  eine 
göttliche  Sache  und  dass  man  solche  in  grossen  Städten  nicht 
ausübt,  vielleicht  nicht  ausüben  kann,   brandmarkt  diese.     Ich 
kann  es  wahrhaftig  Zeune  nicht  mehr  verdenken,  als  er,  von 
einer  Reise  in  diese  Gegenden  zurückkehrend,   ganz  Deutsch- 
land aufforderte,  eiuen  Bund  der  Gastfreundschaft  zu  scMiessen 
und  ärgere  mich  über  mich  selbst,    dass  ich  in  meiner  gross- 
städtischen Verstocktheit   dies  bloss  lächerlich  fand.     Freilich, 
wo  sollte  es  herkommen?    die    einzige  Veranlassung  zu  prak- 
tischer Ausübung  jener  göttlichen  Gastfreiheit    giebt  uns    der 
Hof,  indem  er  uns  das  Gefolge  seiner  eigenen  Gäste  zur  Auf- 
nahme in  die  Freihäuser  schickt ;  wir  aber  sagen  mit  Fug  und 
Recht  zu  solchen  Gästen:   „Drei  Schritt  vom  Leibe!"  —  und 
geben  der  Freihäuser-Kommission  Vollmacht,  in  unserem  Nameu 
gastfrei  zu  sein.  —  Es  ist  ein  langes  Kapitel.    Von  morgen 
an  besehe  ich  hier  Alles,  was  zu  sehen  ist,  bespreche  mich  mit 


Düsseldorfer  Mnsikfest.  327 

Felix  über  seine  Zukunft,  welche  sich  nach  meinen  Wünschen 
gestalten  zu  wollen  scheint,  und  Sonntag  oder  Montag  geht 
es  fort  von  hier.  Ich  nehme  eine  Pflicht  des  Dankes  und  die 
unlösbarste  Verbindlichkeit  gegen  meine  Wrrthe  mit,  deren 
Ei'füllung  mir  leichter  sein  wird,  als  die  Erwiderung  auch  nur 
eines  Theiles  des  Guten,  welches  ich  hier  genossen.  Möge  uns 
das  möglich  werden  gQgi^n  einen  der  Söline  des  Hauses,  welcher 
in  Kurzem  als  Privatdocent  m  der  juristischen  Facultät  zur 
Universität  nach  Berliri  geht. 


Düsseldorf,  31.  Mai  33. 

„Das  musikalische  Freudenfeuer  ist  ausgebrannt  und  es 
steigen  aus  der  Asche  mu'  noch  wenige  Funken,  desto  mehr 
aber  Rauch  in  höchsten,  hohen  und  bürgerlichen  Privatcirkeln 
auf,  von  denen  wenig  zu  melden  ist.  Zu  den  ersten  bin  ich 
nicht  gezogen  worden,  von  den  zweiten  halte  ich  mich  zurück, 
w^eü  ich  sie  für  langweilig  halte,  in  den  letzten  geht  es,  wie 
schon  beschrieben,  sehr  lustig  und  toll  her ;  doch  sind  wir  Alle 
müde,  nur  der  Katzenjammer  nicht. 

Das  vorgestrige  Diner  ist  ganz  gut  abgelaufen.  Vor 
einer  aus  musikalischen  Instrumenten  und  Emblemen  sehr  zier- 
lich und  geschmackvoll  aufgebauten  Trophäe  sass  vor  der 
Mitte  des  Tisches  Felix  zwischen  den  Damen  Decker  und 
Kufferath.  Nach  der  Gesundheit  des  Königs  brachte  Schadow 
die  Felixens  mit  einigen  sehr  schön  klingenden  und  sehr  klin- 
gend gesprochenen,  ehrenvollen  und  ernsten  Worten  aus.  Dem 
folgten  bald  sehr  viele  Toaste,  es  wurde  am  untern  Ende  des 
Tisches  überlaut  und  lärmend,  so  dass  der  Theil  der  Gesell- 
schaft, wo  sich  die  Damen  befanden,  früh  aufbrach,  und  dass 
ich  dazu  die  Gelegenheit  mit  Freuden  ergriff,  kannst  Du  Dir 
denken. 

Aus  allem  diesem  aber  ist  nun  für  Felix  ein  bedeutungs- 
reiches Verhältniss  entstanden,  über  welches  ich,  da  es  nun 
festgestellt  ist,  in  Kurzem  berichten  will,  Näheres  für  münd- 
liche Mittheilungen  vorbehaltend.  Felix  ist  für  drei  Jahrs, 
welche  mit  dem  1.  October    anfangen,   mit   einem  Gehalt  von 


328  1830—1834. 

sechshundert  Thalern  (etwa  acht-  bis  neunhundert  Thalern  in 
Berlin  entsprechend)  und  einem  jälu-lichen  Urlaub  von  drei 
Monaten,  welche  er  sich  zwischen  Mai  und  November  nach 
seiner  Wahl  nehmen  kann,  zum  Vorsteher  und  Leiter  des 
ganzen  musikalischen  (städtischen  und  Privat-)  Wesens  hier 
ernannt  worden.  Seine  städtischen  Geschäfte  bestehen  in 
Leitung  der  Kiixhenmusik,  seine  Privat-Obliegenheiten  in  der 
Direktion  des  hier  bestehenden  Gesang-  und  Instmmental- 
vereins,  zur  Stunde  noch  getrennt,  aber  bestimmt  vereinigt 
zu  werden,  und  in  Veranstaltung  von  vier  bis  acht  Concerten 
mit  diesen  beiden  A^er einen  jährlich,  die  eigentlichen  Musik- 
feste ausgenommen.  Wie  das  entstanden,  die  wahrscheinlichen, 
weiteren  und  reicheren  Folgen  dieses  Verhältnisses  (welche 
mich  bestunmt  haben,  Felix  sofort  zur  Annahme  zu  rathen), 
die  schon  gleich  daraus  für  ihn  entstehende  nützliche  und 
wichtige  Vorschule,  die  äusserst  angenehmen  Verhältnisse,  in 
welchen  er  sie  antritt,  die  kluge  und  noble  Manier,  in  welcher 
er  sich  selbst  dabei  betragen,  alles  das  erzähle  ich  Euch  bald 
und  zweifle  nicht,  dass  Du,  liebe  Lea,  einverstanden  und  froh 
sein  wirst,  Felix  in  einer  bestimmten,  ihn  genug,  aber  auf 
keine  Weise  zuviel  beschäftigenden  Berufsthätigkeit,  in  Deutsch- 
land, uns  nahe,  auf  dem  unfehlbar  geraden  Weg  zu  seinem 
höheren  Zwecke,  in  künstlerischer  Umgebung  und  auf  eine 
wirklich  ausserordentliche  Weise  geliebt,  verehi't,  geachtet  und 
mit  luibeschi'änktem  Vertrauen  bekleidet,  an  der  Spitze  bereits 
bestehender,  von  ihm  aber  erst  ihre  Entwickelimg  und  Leitung 
ganz  in  seinem  Sinn  erwartender  Institute  zu  sehen.  Ich  kann 
mir  für  ihn  und  seine  eigene  fernere  Entwickelung  kein  besseres 
und  günstigeres  Verhältniss  wünschen. 

Der  w^eise  Memnon  hat  geschrieben,  ich  gehe  bestimmt 
nicht  nach  London,  und  ist  nun  auf  einen  gestern  von  daher 
erhaltenen  Brief  soweit,  nicht  zu  wissen,  ob  er  Felix  nicht  nach 
Calais  begleitet.  Ich  will  nun  zwei  Stunden  vor  der  Abreise 
mich  entschliessen  und  dann  weiter  berichten.  Was  mir  an 
Felix'  hiesiger  Stellung  mit  gefällt,  ist,  dass  während  Andere 
so  viele  Titel  ohne  Amt  haben,  er  ein  ordentliches  Amt  ohne 
Titel  haben  wird. 


Felix  und  sein  Vater  in  England.  329 

Düsseldorf,  2.  Juni  33. 
„Ich  habe  mich  nun   entschlossen,  Felix  morgen  früh  za 
begleiten.     0  Memnonü  —  Indessen  vogue  —  wenn  auch  nicht 
la  galere,  doch  le  häteau  h  va/peur! 

Wir  waren  gestern  bis  ein  Uhr  in  der  Nacht  bei  Immer- 
mann,  er  hat  uns  seinen  ganz  umgearbeiteten  Hofer  vorge- 
lesen und  mich  versichert,  dass  ihm  Bartholdy's  Werk  über 
Tyrol  von  grossem  Nutzen  dabei  gewesen;  er  lässt  sich  Dir 
angelegentlichst  empfehlen  und  wird  uns  im  November  besuchen 
auf  seiner  Rückreise  aus  Tyrol,  wohin  er  im  September  zu 
reisen  gedenkt!  Er  ist  unläugbar  ein  sehr  interessanter  Mann. 
Näheres  über  ihn  mündlich,  oder  schriftlich  aus  Buenos  Ayres, 
oder  den  kanarischen  Inseln,  oder  Griechenland,  oder  Kon- 
stantinopel, ear  il  n\j  a  pas  de  raison,  pour  qtie  cela  finisse. 
Fürs  Erste   speise   ich,    so  Gott   will,  Donnerstag  Mittag  in 

London.     Lebt  Alle  wohl! " 

Die  Anregung   zu   dieser   Reise   mochte   wohl   von  Felix 
ausgegangen  sein,  der  England  sehr   liebte,    worüber   in   den 
Briefen  seines  Vaters  manche  anmuthige  Spöttereien  vorkommen, 
so  z.  B.:  „ Felix  fand  in  seinem  Enthusiasmus  die  abgemähten, 
gelbgebrannten  Wiesen  grün,  den  schwarzgrauen  Horizont  blau, 
ich  beides  nicht"  —  oder  an  einer  andern  Stelle:  „Heute  früh 
um  neun  Uhr  vierzehn  Minuten   hatte   die  Sonne  grade  Kraft 
genug,  um  den  Nebel  gelb  zu   färben,   und  die  Luft  sah  aus, 
wie  der  dicke  Rauch  während  eines  grossen  Brandes;  „«  very 
fine  morning'^,  sagte  mein  Raseur  (heisst  hier  hair dresser)',  „/« 
it?'^  frug  ich;  ,.Yes,  a  very  fine  morning^'-  —  und    ich   lernte 
also,  was  hier  ein  schöner  Sommermorgen  bedeutet.     Jetzt  ist 
es  Mittag,  der  Nebel   hat   gesiegt,    die  Beleuchtung  während 
feuchter  Schwüle   die    eines  Novembertages   bei   uns  um  vier 
Uhr  Nachmittags,  und  ich   muss   meinen  Tisch    dicht   an  das 
Fenster  rücken,    um   zu   sehen,    nicht  was,    sondern  dass  ich 
schreibe.   Felix  spielt  die  Orgel  in  St.  Paul  und  ich  kann  mich 
nicht  entschliessen,  das  Zimmer   zu  verlassen;   wenn  er  nach 
Hause  kommt,  findet  er  gewiss  auch,  dass  man  nirgends  solche 
Sommertage  erlebt,  als  in  London."  — 

Auch  von  dieser  Reise   ist    eine    ganze  Reihenfolge   von 


330  1830—1834. 

Briefen  Abraham's  vorhanden,  aus  denen  einige  Stellen  folgen 

mögen. 

—  „Gestern  früh"  (den  Tag  nach   der  Ankunft)  „begab 
ich  mich  zuerst  mit  Felix  zu  Doxat.    Der  Weg  führt  unter 
anderm   an    St.  Pauls   vorbei  und   dieses    mächtige   Gebäude 
mitten  in  der  City  zu  finden,   überraschte  mich;    ich   glaubte 
es  in  einem  ganz  andern  Stadttheil ;  ich  erkläre  mir  nun  aber 
auch,  wai-um   der  in  der  Luft   befindliche  Theil  ganz   ausser 
Verhältniss  gross   zu  der  auf   der  Erde   stehenden  Unterlage 
ist.    In  der  City  ist  Platz  nur   etwa  in  der  Luft  übrig!    Von 
liier  aus  machten  wir   dann   zu  Fuss   einen  grossen  Weg,  um 
zu  Moscheies  zu  gehen,  welcher  uns  durch  Neukomm,  den  wir 
auch  in   der  Probe   trafen,   zu   heute   Mittag   hatte   einladen 
lassen.    Ich  kam  durch  Oxfordstreet,  Eegentstreet,  Portland- 
Place,  Eegents-Park  und  muss  allerdings    sagen,   dass  ich  an 
Pracht  und  Geschmack   der  Baulichkeiten,  an  Eleganz,  Rein- 
lichkeit  der    Strassen,  Bequemlichkeit   des  Trottoii's  u.  s.  w., 
kurz  in  allem,  was  einen  bloss  sinnlichen  Eindi'uck  ohne  tiefe 
Wirkung  auf  das  Gemüth  hervorbringt,   nichts   gesehen  habe, 
was  sich  irgend   mit  den  Wundem  dieses,    etwa  eine  Stunde 
langen  Weges  nui'  vergleichen  lässt;    aber   wenn   ich   an  die 
)üächtige  Grossartigkeit  der  Tuilerien,  der  Flace  de  Louis  XV. y 
der  Champs  Mysüs^  der  alles  dies  begrenzenden  und  umfassen- 
den Boulevards   und  Quais   und   an    die   unfehlbare  Wirkung 
denke,  welche  dieser  Punkt   der  Erde   täglich,  jahrelang  auf 
mich  ausgeübt  hat,   so    sage  ich  nur,  London  ist  die   reichste 
und  Paris   die   grösste   Stadt,   die   ich   gesehen.     London   ist 
allerdings  auch  die  weiteste;   das   eigentliche  London  (Mauern 
hat  es  bekanntlich  nicht)  enthält  jetzt  eine  Million  vierhundert- 
tausend Menschen,  ist  aber  ringsum  in  geringen  Entfernungen 
von  jetzt  noch  selbstständigen  Städten,  worunter  mehrere  von 
dreissig  bis  vierzig    Tausend   Einwohnern,  umgeben,    welche, 
wie  Klingemann  sehr-  richtig  sagt,  ängstlich  und  neugierig  in 
den  grossen  Rachen  hineinblicken,  welcher  sie  unfelübar  näch- 
stens verschlingt. —  — 

Heute  nun  ist  Sonntag.    Ich   bin  noch  in  Pantoffeha  und 
es  ist  vier  Uhi*.     Die  Strasse  ist  still  und  diese  Ruhe  ist  mir 


Englischer  Sonntag.  331 

nicht  allein  sehr  angenehm,  sondern  der  Sinn  des  Londoner 
Sonntags  ist  mir  nun  ganz  erklärlich  und  deutlich  in  seiner 
iinhedingten  Nothwendigkeit,  während  er  mir  bis  jetzt  nach 
den  einseitigen,  dummen  Berichten  von  Reisenden  und  Schrift- 
stellern unglaublich  und  lächerlich  erschien.  Der  Sonntag  ist 
den  Londonern  so  nöthig,  als  die  Brache  den  Feldern,  als  der 
Winter  der  Vegetation,  als  die  Nacht  dem  Tage.  Der  Sonn- 
tag wird  nicht  gehalten,  weil  das  Gesetz  es  geboten,  sondern 
das  Gesetz  ist  hier  nur  deutlicher,  als  fast  irgend  sonst,  der 
Ausdruck  des  allgemeinen  Willens,  des  dringenden  Bedürfnisses. 
Wenn  die  Londoner  ein  Jahr  ohne  Sonntag  lebten,  so  wären 
sie  alle  zusammen  toll  oder  stumpf,  und  je  angestrengter,  er- 
müdender, durch  und  durch  aufgeregter  das  Leben  aller  Ein- 
zelnen und  aller  Klassen  in  London  sechs  Tage  lang  in  der 
Woche  ist,  je  unverbrüchlicher  wird  ohne  besondern  äussern 
Zwang  die  grosse  Mehrheit  den  Sonntag  feiern. 

Doch  ich  vergesse,  dass  ich  von  London  aus  schreibe,  wo 
jede  Zeile  den  Brief  theurer  macht,  und  muss  suchen,  mich 
kürzer  zu  fassen.  Doch  willst  Du  gern  noch  lesen,  wie  viel- 
fach geliebt  und  wahrhaft  angesehen  hier  Felix  ist.  Ich  fühle 
es  am  deutlichsten  par  ricochet  und  der  alte  Horsley  dachte 
jnir  heute  ein  grosses  Kompliment  zu  macheu,  als  er  mir  sagte, 
er  schätze  mich  glücklich,  der  Sohn  und  der  Vater  eines 
grossen  Mannes  zu  sein.  „Wo  bleibt  die  Katz?"  dachte  ich 
und  wäre  wahrscheinlich  sehr  böse  geworden,  wenn  ich  nicht 
selbst  schon  sehr  oft  darüber  und  über  mich  selbst  mich  mo- 
quirt  hätte,  dass  ich  zwischen  Vater  und  Solm  gewissermassen 
wie  ein  Gedankenstrich  dastehe.  — 

Ich  spreche  übrigens  mit  Horsley  italiänisch,  denn  er 
spricht  weder  deutsch  noch  französisch  und  italiänisch  sprechen 
wir  wenigstens  Beide  nicht.  Gott  weiss,  was  wir  eigentlich 
gesagt  und  wie  wir  uns  eigentlich  verstanden  haben.  Was 
das  Englische  betrifft,  so  rufe  ich  zwar:  ^,Hoiv  do  you  do,  Sir^'-, 
„  Waäer,  a  mutton  chop^^  und  andere  tiefsinnige  Phrasen  derart, 
doch  werde  ich,  wenn  ich  zu  Hause  komme,  das  Deutsche  nicht 
vergessen  haben  und  bin  wahrhaftig  noch  zu  eitel,  um  mit 
Damen  englisch  zu   sprechen.     In   der  nächsten  Woche   geht 


332  1830-1834. 

aber  der  Teufel  los !  Ich  habe  schon  zwei  Dinners  bei  Attwood 
und  Horslej'-  angenommen,  es  sind  aber  keine  Parties,  sondern 
Familiendinners,  und  da  werde  ich  Englisch  sprechen,  es  komme 
aus  Brust,  Kopf  oder  Kehle.  Aus  dem  Gehirn  kann  es  freilich 
nicht  kommen,  denn  da  ist's  nicht  drin ! 

Ich  empfange  heut  über  Düsseldorf  die  ersten  Zeilen  seit 
langer  Zeit  von  Euch.  Du  sagst,  Du  erwartest  ungeduldig 
Nachrichten  von  uns ;  es  müssen  also  Briefe  von  mir  ausgeblie- 
ben sein,  denn  Gott  und  die  Post  sind  meine  Zeugen,  dass  ich 
entsetzlich  oft,  viel,  lang-und  breit-  weilig  und  spuiig  geschrie- 
ben habe.     0  Gott!  wenn  das  Alles  verloren  wäre!  — 

Wenn  Du  hier  durch  besondere  Protektion  eine  Karte  zu 
Lord  Levison  Gower's  Gallerie  erhältst  und  das  Wetter  schön 
ist,  so  siehst  Du  in  einer  "VMinderschönen  Einrichtimg,  von  der 
ich  erzählen  werde,  Bilder,  für  deren  Hälfte  wir  unser  Museum 
dreimal  geben  könnten,  unter  Andern  drei  so  unläugbare  Ra- 
phael's,  dass  X.  sie  für  Murillo's  und  unser  Museums-Catalog- 
Verfasser  (wie  heisst  er  doch?)  sie  füi'  eine  Jugendidee  von 
Pimperlepaccio  ausgeben  würde.  — 

12.  Juni  33. 

„ Oh  Sebastian,  Du  fehlst  mir  hier,   mit  noch 

vielen  Andern,  und  ich  danke  Gott,  dass  Du  nicht  das  Kind 
von  vier  und  ein  halb  Jahren  bist,  welches  vor  fünf  Tagen 
durch  tausend  Affichen  als  verloren  angezeigt  worden.  Der 
Gedanke  daran  verlässt  mich  nicht  und  geht  wie  ein  schwarzer 
Faden  durch  mein  Londoner  Leben.  Das  Kind  ist  gewiss  nicht 
wiedergebracht,  sondern  verhungert,  verschmachtet,  verkommen, 
gestohlen,  nackt  auf  die  Strasse  geworfen,  und  nur  der  aller- 
ausserordentlichste  Glücksfall  kann  bewirken,  dass  es  sich  zum 
Mitglied  einer  Bettler-  oder  Diebsbande  heranbilde.  Alles,  weil 
die  Eltern  es  \ielleicht  auf  eine  halbe  Minute  aus  den  Augen 
gelassen,  haben.     Und  das  ist  London.  — 

Ich  glaube  einen  charakteristischen  Grund  -  Unterschied 
zwischen  Paris  und  London  aufgefunden  zu  haben.  In  Paris 
können  Deutsche,  Engländer,  Chinesen  und  Türken  leben,  alle 
Annehmlichkeiten  der  Stadt   geniessen,  ohne  auch  nur  einen 


London  und  Paris.  333' 

Punkt  ihrer  Individualität  oder  Nationalität  aufzugeben;  sie 
können  sich  einbilden,  Paris  sei  ihretwegen  gemacht,  es  gehöre 
ihnen.  Ob  dies  nun  mit  daher  kommt,  weil,  oder  ob  es  bewirkt, 
dass  ein  Achtel  der  Stadtbewohner  aus  Fremden  besteht,  kommt 
auf  Eins  heraus.  In  England,  ich  will  sagen  London,  sind  die 
Fremden  ein  ganz  ignoiirter  Punkt.  Es  soll  eigentlich  keine 
Fremden  geben,  es  giebt  überhaupt  nur  Engländer.  Der 
Fremde  muss  sich  ganz  verläugnen,  entnationalisiren,  er  muss 
in  Engländer-  und  Londonerthum  übergehen,  um  irgend  zu 
einer  Existenz,  zu  einer  An-  und  Einsicht  zu  gelangen.  Ich 
erkläre  mir  daher  auch  und  entschuldige  es  weit  leichter  als 
früher,  dass  Fremde,  welche  eine  Zeit  lang  in  England  gelebt 
haben,  uns  viel  affenartiger  erscheinen,  als  die  aus  Frankreich 
kommen.  Man  ist  fast  gezwungen,  durch  die  Affenstation  hier 
dui'chzugehen,  bis  Einem  das  Angenommene  zur  zweiten  Natur 
wird.  ^^Company  excepted,''^  nämlich  Eosen,  Klingemann  und 
Felix,  obschon  alle  drei  mit  dem  Kopf  rechts  ab  nicken,  um 
guten  Tag  zu  sagen.  Wenn  ich  es  als  ausgemacht  annehmen 
muss,  dass  ein  geborener  Engländer  oder  ein  im  Londonerthum 
aufgegangener  Fremder  alle  Bequemlichkeiten  im  höchsten, 
berechnetsten  Grade  geniesst,  so  ist  andererseits  nicht  zu 
läugnen,  dass,  wer  sich  darauf  nicht  einlassen  kann  oder  will, 
wer,  wie  Graf  Pückler  und  ich,  ein  Langschwanz*)  bleiben  will, 
hier  sehr  viel  entbehren  und  leiden  muss;  denn  eine  andere 
Bequemlichkeit  als  die  englische,  allgemein  typische,  giebt  es 
nicht.  Aus  Allem  dem  ziehe  ich  nun  endlich  den  Schluss,  dass 
ich  nicht  gar  zu  lange  hier  bleiben  werde  und  mir  fest  vor- 
nehme, entsetzlich  zu  lügen,  wenn  ich  nach  Hause  kommen 
werde,  um  von  Allem  zu  erzählen. 

Ich  bin  soeben  um  eine  halbe  Guinee  leichter  geworden 
(solche  wiegt  aber  drei  und  einen  halben  Thaler),  um  Gramer 
in  seinem  Concert  spielen  zu  hören,  und  bereue  solche  weniger, 
als  einen  Livre  Sterling  und  14  Schilling  (etwa  12  Thaler), 
welche  ich  für  eine  sehr  einfache  schildpattene  Brille  an  Dol- 


*)  Im  Gegensatz  zu  den  damals  üblichen  englisirten,  kurz- 
geschwänzten  Pferden. 


334  1830—1834. 

lond  bezahlt  habe,  und  dadurch  eben  so  viel  sehe,  als  durch 
eine  von  Petitpierre  in  Silber  für  zwei  Thaler,  das  heisst  soviel 
als  ohne  beide,  das  heisst  nifhts.  Ich  weiss  daher  auch  von 
allen  Schönheiten,  in  welche  sich  Felix  im  Morgenconcert  sum- 
marisch verliebt  hat,  Nichts,  als  dass  sie  alle  Hüte  aufhatten 
und  den  ganzen  inuern  Raum  des  Saales  einnahmen ;  es  waren 
drei  bis  vierhimdert  Venüsse  auf  einen  Klump.  Gramer  spielt 
rein,  fein,  weich  und  sehr  gebildet;  sein  Concert  war  nicht 
sehr  bedeutend,  aber  hörte  sich  angenehm. 

Geschwinder  als  die  Dampfboote  auf  dem  Fluss  und  die 
Pferde  in  den  Strassen,  rennen  hier  die  Guineen  aus  der  Ta- 
sche; es  ist  kein  Halten  darin,  und  ich  erstaune  selbst  über 
die  Ruhe,  mit  welcher  ich  sie  aus  der  Börse  in  den  grossen 
Schlund  hiaabgleiten  sehe,  aus  welchem  sie  nie  wiederkehren; 
was  ist  so  ein  pauvrer  Berliner  für  ein  Narr!  Für  das,  was 
ich  hier  verfahren  habe,  kaufe  ich  das  ganze  Berliner  Kremser 
Fuhrwerk.  Ich  büi  aber  auch  geizig  auf  Mord.  Ich  lasse  mir 
hier  keinen  Faden  machen,  und  lüge  mich  mit  meiner  grünen 
Perrücke  (denn  auch  die  Eurige,  o  Hensel  und  Fanny,  sieht 
mehr  der  eines  Flussgottes,  als  der  eines  honneten  Sterblichen 
ähnlich)  ruhig  durch,  obgleich  der  zweite  Haird/resser  bereits 
alle  englische  Schmäh  werte  auf  dieselbe  an  mir  verschwendet: 
ich  thue  aber ,  als  verstände  ich  es  nicht ,  und  antworte 
^•fVery  well.'"'' 

Erwartet  am  Sonntag  keinen  Brief  von  mir;  ich  schreibe 
wahrscheinlich  erst  heute  über  acht  Tage,  und  will  diese  Woche 
nun  benutzen,  Mehreres  zu  besehn.  Ich  glaube  zwar  kaum, 
dass  mich  z.  B.  die  Brauereien  oder  das  Parlament  sehr  inter- 
essiren  werden;  ich  denke  mir  ein  Bierfass  so  gross  wie  der 
Montblanc  und  eine  Schöpfkelle  wie  das  Heidelberger  Fass; 
mehr  wird  es  doch  nicht  sein;  und  da  ich  die  M.  P's.*) 
weder  sehen  noch  verstehen  kann,  so  könnte  ich  mir  auch 
leichter  ihre  Bilder  kaufen  und  ilire  Reden  selbst  machen, 
oder  in  der  Staatszeitung  lesen.  Aber  man  muss  doch  etwas 
sehen." 


")  Parlamentsmitglieder. 


Musikalisches  und  Malerisches.  335 

.  Den  23.  Juni. 
„ —  Bekanntlich  gehören  Kaufleute,  welche  fünfzig  Procent 
zahlen,  zu  den  ehrlichsten  Leuten,  und  so  kann  ich  mit  einiger 
Grewissensruhe  darauf  zurückblicken,  dass  ich  Euch  von  Allem, 
was  ich  Euch  erzählen  wollte,  jedesmal  kaum  die  Hälfte  zu 
Stande  gebracht.  Es  schlägt  jetzt  eben  sechs  Uhr,  ich  bin 
heut  um  a^iht  Uhr  aufgestanden  und  habe  wahrlich  nicht  früher 
dazu  kommen  können,  diesen  Brief  anzufangen,  den  ich  wieder 
abbrechen  muss,  sobald  Felix  rasirt  sein  \vird.  Heut  früh 
spielte  Felix  Orgel  in  St.  Pauls,  wozu,  da  die  Balgentreter 
schon  fort  waren,  Klingemann  und  noch  zwei  Gentlemen  deren 
Stelle  vertraten.  Felix  spielte  eine  Introduction  und  Fuge, 
improvisirte,  und  dann  ein  Coronation  Anthem  von  Attwood 
mit  diesem  vierhändig,  sodann  drei  Sebastiane.  Es  klang  selir 
gut,  die  Kirche  war  leer,  nur  zwei  Besucherinnen  des  Philhar- 
monie hatten  sich  versteckt,  um  zu  hören.  Von  da  gingen 
wir  zu  einem  sonntägigen  Quartett,  welches  bei  einem  Privat- 
mann im  verborgensten  Zimmer  seines  Hauses  stattfindet.  Wir 
fielen  in  ein  Quartett  von  Onslow,  es  waren  gewiss  schon 
wenigstens  zwei  dieser  Quartette  vorausgegangen;  sie  wollten 
Felix'  Octett  machen,  ich  erbat  mir  das  Quintett  welches  auch 
gespielt  und  dann  sofort  das  Octett  darauf  gesetzt  wurde.  Um 
vier  Uhr  kam  ich  nach  Haus  und  wollte  schreiben,  als  ich 
aber  London  geschiieben  hatte,  kam  Herr  von  Bülow  und 
blieb  ein  und  eine  halbe  Stunde  —  es  ist  sicherer,  dass  ich 
von  der  Zukunft  spreche,  denn  die  Vergangenheit  geht  gar 
zu  schnell  in  Vergessenheit  über  —  doch  muss  ich  Ihnen, 
lieber  Hensel,  erzählen,  dass  ich  vorgestern  die  Ausstellung 
von  Werken  lebender  Künstler  gesehen  habe,  die  berühmtesten 
Namen  und  Titel  standen  im  Katalog,  den  Werken  aber  war 
es  nicht  anzusehen,  dass  Meisterarbeiten  sich  darunter  befän- 
den. Ich  habe  nie  und  nirgend  einen  solchen  Haufen  schlechter 
Sachen  zusammen  und  unter  allen  auch  nicht  ein  einziges 
Bild  gesehen,  das  etwas  anderes  verrieth  als  Geschmacklosig- 
keit und  Untalent;  in  keinem  einzigen,  ich  wage  es  zu  sagen, 
auch  nur  eine  tüchtige  Praktik.  Felix  ist  hierin  nicht  meiner 
Ansicht,    er   findet   ein   Bild    von   Wilkie,    einen   beichtenden 


336  1830—1834. 

jungen  Kapuziner,  interessant  und  gut,  ich  kann,  um  den  Frie- 
den zu  erhalten,  höchstens  die  Hälfte  zugeben.  Der  alte 
Pater,  der  die  Beichte  empfängt,  ist  hart  und  grimmig  genug ; 
von  dem  jungen  aber  habe  ich,  Michel  Wolf  eingedenk,  be- 
hauptet, er  habe  zu  beichten  eingenommen;  das  Mittel  fängt 
an  zu  wirken,  und  er  ist  eben  im  Begriff,  die  Beichte  za. 
vomiren.  Uebrigens  eine  Unzahl  der  schlechtesten  Portraits, 
Familienbilder,  Landschaften,  kui'z  —  ein  Gräuel;  schade  um 
einen  grossen,  von  oben  sehr  günstig  beleuchteten  Saal,  in 
welchem  die  Missgeburten  hingen. 

Dass  in  unsern  Zeitungen  nichts  über  das  Düsseldorfer 
Fest  steht,  beunruhigt  Dich  sehr,  liebe  Lea,  und  Du  willst 
von  uns  den  Grund  wissen?  Ich  für  meine  Person  kann  mir 
nur  einen  dafür  denken.  Es  würde  nämlich,  wenn  es  gut  ge- 
macht wäre,  einen  interessanten  und  amüsanten  Artikel  geben, 
mit  welchem  unsere  Zeitungen  ihre  Leser  nicht  zu  verwöhnen 
bedacht  sind." 

6,  Juli  33. 

„ —  Ich  fange  ä  tout  hasard  schon  heute  wieder  einen 
neuen  Brief  an,  obschon  erst  gestern  eiaer  abgegangen  und 
von  Euch  bis  diesen  Augenblick  kein  neuer  angekommen  ist. 
Der  Westwind  macht  sich  aus  meiner  Ungeduld  nichts  und 
wird  nicht  eher  Ostwind  werden,  bis  ich  überschiffen  wiU  und 
er  mir  entgegenblasen  kann.  Ich  muss  es  wohl  nur  der  un- 
vermuthet  langen  Abwesenheit  von  Euch,  der  hauptsächlich 
durch  die  Sprache  so  ganz  veränderten  und  wie  ein  neues 
lOeid  unpassenden  Umgebung,  der  dadurch  plötzlich  abge- 
rissenen Gegenwart  beunessen,  dass  ich  hier  mehr  und  öfter 
an  frühere,  vergangene  Zeiten  denke,  als  sonst  irgendwo,  und 
London  sich  mehr  an  Hamburg  knüpft  als  an  Berlin.  So  lebe 
ich  die  Sommer  von  1808  und  1809  hier  wieder  fast  in  jedem 
Tage  durch,  in  dankbarer  Erinnerung  des  Guten,  was  mir  mit 
Dil-  und  diu'ch  Dicli  geworden  ist.  An  unsern  wunderbar 
schönen  Pavillon  in  Flors  Hof,  auf  der  Elbe,  auf  der  wir  unten 
schöne  Schiffe  fahi-en  sahen,  denke  ich  nicht  allein  jeden  Tag 
in  dem  nebligen,  räucherigen,  schwerluftigen,  nervenbedi'ücken- 


Greenwich  Hospital  und  Les  Invalides.  337 

den  London,  sondern  bin  ganz  besonders  zweimal  aufs  Leb- 
hafteste an  ihn  erinneit  worden,  in  Greenwich  und  Portsmouth. 
In  ersterem  Orte  nahmen  wii*  unser  Mittagbrod  in  einem  über 
der  Themse  belegenen  Wirthshaus  m  einem  Zimmer  ein,  dessen 
Vorderwand  lauter  Fenster  waren,  und  übersahen  die  Themse 
nach  allen  Richtungen.  Diesmal  war  unter  den  Mitspeisenden 
mein  majorenner  Sohn,  welchen  ich  in  Flors  Hof  im  kleinen 
Rollwagen  umlierfuhr.  Du  fehltest,  Gottlob  nur  eben  im  Augen- 
blick, viele  andere  leider!  für  immer.  Die  Zeit  war  eine  andere, 
aber  die  Themse  erfrischte,  wie  dort  die  Elbe,  durch  ihi'e  reine, 
scharfe  Luft,  und  unzählige  grosse  und  kleine  Schiffe,  vom  Dampf, 
vom  Winde,  oder  vom  Ruder  getrieben,  gaben  Leben  und  Bewe- 
gung in  fast  lautloser  Stille,  was  eben  der  Schifffahi't  einen  so  eige- 
nen, beruhigenden  Reiz  verleiht.  Alte  Matrosen  aus  dem  Hospital, 
junge  Schiffer,  Volk  aller  Art  war  unter  unserm  Fenster  am 
Quai  versammelt,  liin  und  wieder  lustig  die  Abfahrenden  und 
Ankommenden  begrüssend,  meist  aber  still  in's  Wasser  schauend. 
Tausend  Sujets  zu  Marinebildern  folgten  einander,  und  wenn 
ich  mir  manche  Ursachen  denken  kann,  warum  die  Engländer 
überall  keine  Künstler  haben,  so  bleibt  es  mii'  unbegreif- 
lich, warum  sie  auch  keinen  Marinemaler  haben,  oder  gehabt 
haben.  —  —  — 

D.  7ten.  Ich  wiU  versuchen  mich  wieder  in  Greenwich 
hineinzusclireiben ,  um  dann  morgen  von  unsrer  letzten  Reise 
erzählen  zu  können.  Les  Invalides  und  Greenwich  Hospital  re- 
präsentiren  Frankreich  und  England,  xArmee  und  Marine.  Die 
Einen  in  w^ildem,  unstätem  Leben,  häufig  unter  den  empörend- 
sten  Schandthaten ,  unter  Unsittlichkeiten  jeder  Art,  unter 
Grausamkeiten  und  Bedrückungen  weit  r.ber  die  Selbstver- 
theidigungsnoth  hinaus  verlängert,  alt,  aber  nicht  ruhig  gewor- 
den, von  der  ganzen  Umgebung,  Trophäen,  Fahnen,  Kanonen, 
die  sie  in  der  Regel  nicht  einmal  selbst  erbeutet,  aufgeregt, 
lebendig,  wissbegierig  und  daher  fleissigere  Besucher  der  Bi- 
hliotheque  des  Invalides  als  der  Kapelle  derselben  —  die  Andern, 
ganz  Resultat  des  Elementes,  auf  welchem  sie  ihr  Leben  ver- 
bracht, des  engen  Raums,  der  ihre  Welt,  der  harten  Arbeit, 
die  ihr  Loos,  der  fürchterlich  despotischen  Disciplin,   die  ihre 

Die  Familie  Menäelssohn.   I,  *^ 


338  1830-1834. 

Erziehung  war,  der  niliigen  Hartnäckigkeit,  mit  welcher  allein 
sie  die  tausend  Gefahren  belcämpfen  und  besiegen  konnten,  die 
sie  umgaben,  die  fast  nie,  oder  doch  nur  in  den  äusserst  sel- 
tenen Fällen  des  Enterns  in  wildes  Getümmel,  in  persönliche, 
individuelle  Handlungen  übergehende  Tapferkeit,  welche  dann 
auch  nach  errungenem  Siege  oder  erlittener  Niederlage  sofort 
ihre  Wü'ksamkeit  und  Bedeutung  aufgiebt,  daher  müde,  still, 
in  sich  gekehrt,  fijister,  vielleicht  roh,  aber  ruhig  in  allen  Be- 
wegungen, gemessen,  in  ihrer  äussern  Erscheinung  respektabel. 
Es  leben  ihrer  an  Viertausend  in  dem  aus  zwei  durch  einen 
grossen  Platz  getrennten  und  durch  zwei  eiserne  Gitter  ver- 
bundenen, einander  ganz  gleichen  Gebäuden  bestehenden  Hospi- 
tal. Die  langen  Eäume,  aus  denen  beide  bestehen,  sind  auf 
der  den  Fenstern  gegenüberliegenden  Seite  in  lauter  gleiche 
Kabinette,  oder  Kajüten  ähnliche  Zellen  von  etwa  fünf  Fuss 
breit  und  sechs  Fuss  lang  abgetheilt,  in  deren  jeder  Einer 
wohnt  und  deren  letzte,  an  die  Wand  gelehnte  Seite  von  dem 
Bett  eingenommen  wird.  Dieses  bekommen  sie,  die  ganze 
übrige  Ausstattung  und  Möbelirung  derselben  aber  muss  ein 
Jeder  zubringen.  In  einer  Höhe  von  sieben  Fuss  etwa  ist 
jedes  Kabinet  durch  eine  bewegliche  Decke  geschlossen,  die 
wir  alle  offen  gefunden,  welche  die  Bewohner  aber  Nachts, 
oder  wenn  ihnen  kalt  ist,  schliessen  können,  in  jedem  Saale 
ist  ein  grosser  Kamin,  sonst  habe  ich  keinen  Erwärmungs- 
apparat gesehen.  Von  einer  Bibliothek  keine  Spur;  aber  bei 
Manchen  fand  ich  Bücher  aufgestellt  und  Karrikaturen  bei  sehr 
vielen.  In  allen  Kabinetten  ohne  eine  Ausnahme  die  höchste 
musterhafteste  Reinlichkeit  und,  schon  von  dem  engen  Raum 
gebotene,  Ordnung.  An  den  Tagen,  an  denen  das  Publikum 
zugelassen  wird,  und  ich  glaube  gehört  zu  haben,  dass  dies 
an  allen  Wochentagen  geschieht,  sind  alle  Thüren  aller  Kabi- 
nette offen  und  es  kann  sich  also  ein  Jeder  selbst  von  dem 
Zustande  überzeugen.  Eine  bessere  Kontrole  füi'  die  Bewohner 
sowohl,  wie  für  die  Behörden  ist  nicht  denkbar  und  das  Re- 
sultat derselben  fäUt  in  die  Augen.  Jeder  Saal  fülu-t  den 
Namen  eines  Schiffes  und,  soviel  es  sich  tliun  lässt,  werden, 
die  auf  einem  Schiff  zusammengedient  haben,  auch  in  denselben 


Mme-  Malibran.  339 

Saal  verlegt.  Sie  essen,  soviel  ich  weiss,  g-emeinscliaftlicli  und 
bekommen  soviel  Fleisch  und  Bier  zu  Mittag,  und  Abends  soviel 
Thee  und  Brod,  als  sie  verzehren  wollen.  In  geringer  Ent- 
fernung von  diesen  Gebäuden,  auf  einem  Hügel,  welcher  den 
Hintergrund  zwischen  beiden  ausfüllt,  liegt  die  Sternwarte, 
auf  welcher  Herschel  gearbeitet  hat.  Unter  diesen  Umständen 
und  Umgebungen,  im  Angesicht  der  Themse,  welche  hier  schon 
viel  breiter  ist,  als  der  Rhein  bei  Koblenz  und  Mainz,  und  der 
unzähligen  Schiffe,  welche  sie  durchschneiden,  die  sie  aber 
gewiss  mit  einer  Art  stolzer  Verachtung  ansehen,  da  es  nur 
Kauffahrer,  keine  Kriegsschiffe  sind,  erwarten  die  alten  Jungen, 
welche  die  Eulie  nicht  im  Wasser  gefunden  haben,  dieselbe  in 
der  Erde;  sie  haben  mir  gar  wohl  gefallen.  Vielleicht  wäre 
■das  Hospital  noch  besser  in  Portsmouth  gelegen,  in  so  fern 
die  Bewohner,  zähe  aber  sicher  wie  die  Taue,  an  welchen  sie 
so  oft  über  der  Meerestiefe  schwebten,  hier  Wiege  und  Grab 
zusammen  gefunden  haben  würden,  denn  Portsmouth  ist  ein 
Kriegshafen,  die  Schiffe  daselbst  sind  Kriegsschiffe !  Vornehme 
Ijcute,  welche  sich,  da  allerhand  anderes  Gesindel  sich  auch 
Schiffe  schelten  lässt,   „Kriegsmänner"  (Menofwar)  nennen.  — 

^ Ich  hatte   gestern  Abend  die  W^ahl,  Mrs. 

Austin  zu  besuchen,  oder  die  Malibran  singen  zu  hören,  die, 
wie  Ihr  Euch  entsinnen  werdet,  mii^  das  erste  Mal  im  Theater 
fast  gar  keinen  Eindinick  gemacht  hatte;  ich  habe  der  Mali- 
bran-Gesellschaft  den  Vorzug  gegeben,  et  fai  m  le  ne%  fin.  Ich 
hatte  mit  Klingemann  gegessen,  Felix  war  auf  dem  Lande, 
wohin  es  mir  zu  weit  war,  und  wir  kamen  um  zehn  ein  halb 
Uhr  zur  Gesellschaft.  De  Bdriot  spielte  eben  ein  Quartett 
von  Haydn  mit  Liebe  und  Achtung,  sehr  präcis  und  feurig, 
kurz,  sehr  schön,  Avenn  auch  vielleicht  hier  und  da  mit  einigen 
modernen  französischen  Druckern;  sodann  sang  Mme.  Malibran 
eine  etwas  langweilige,  geistliche  Musik  des  Hausherrn  sehr 
«infach,  ruhig  und  rein,  mit  vortrefflicher  Haltung.  Nachdem 
nun  noch  vierstimmig  ein  englisches  Madrigal  und  ein  Glee 
gesungen  worden  (sonderbare  nationale  Gesänge,  eigenthümlich, 
ganz  angenehm,  deren  nähere  Beschreibung  ich  Felix,  wenn 
«r  Lust  hat,  überlasse),  wälu-end  welcher  Felix  sich  auch  eia- 

22* 


340  1830     1834. 

fand,  setzte  sich  Mme.  Malibran,  sang  ein  spanisches  Lied, 
dann  auf  Felix'  Bitten  noch  zwei  andere,  dann  ein  englisches 
Ruderlied  und  ein  französisches  Tamboui'lied.  Wenn  sich  hier- 
nach an  den  Fingern  abzählen  lässt,  dass  diese  Frau  (J.  P. 
Schmidt  würde  sie  unbedenklich  unsere  geniale  M.  M.  nennen) 
in  vier  Sprachen  (italiänisch  versteht  sich  von  selbst)  singen 
kann,  so  geht  daraus  ebensowenig,  wie  aus  dem,  was  ich  dar- 
über schi-eiben  kann,  auf  irgend  eine  Weise  hervor,  welch  ein 
Strömen,  Sprudeln,  Brausen  von  Kraft  und  Geist,  von  Laune 
und  Uebermuth,  von  Leidenschaft  und  Esprit,  welche  Keckheit 
\md  Sicherheit  der  Mittel  diese  nun  auch  mir  aufgegangene 
Frau  in  den  kleinen  Gesängen  entfaltete.  Dieselbe  Kehle  sang 
spanische  Glut,  französische  wieder  an  Natur  gränzende  Co- 
quetterie,  englische  ungehobelte  Derbheit  und  wiederum  fran- 
zösischen, etwas  gottlosen,  aber  frischen,  lauten  Muth  so  ent- 
schieden charakterisirt,  national  und  doch  wieder  aus  ihr  selbst 
hervorgehend;  sie  liebte,  schmachtete,  ruderte  imd  trommelte 
mit  so  wunderbarer  Sicherheit,  mit  so  übermüthiger  Beherr- 
schung und  Verschwendung  aller  ihrer  unerschöpflichen  Mittel, 
dass  man  wii'klich  von  ihi*  sagen  kann:  sie  sang  Lieder  ohne 
Worte,  sie  sang  Gefühle,  Stimmungen,  Situationen.  Es  war 
wieder  einmal  ganz  etwas  Neues  und  ich  gönute  es  Euch  wohl 
einmal,  sie  zu  hören.  Felix,  der  sich  mit  Recht,  oder  doch 
wenigstens  mit  Anstand  weigerte,  nacliher  zu  spielen,  holte  sie 
aus  dem  Nebenzimmer  imd  zwang  üin  an's  Klavier,  und  so 
improvisirte  er  denn  über  die  eben  von  ihi'  gesungenen  Lieder 
zu  aUgemeinem  Ergötzen  und,  wie  es  mir  schien,  sehi'  gut. 
Sie  sang  darauf  noch  zwei  spanische  Lieder  und  endlich,  mit 
zwei  Töchtern  des  Hauses  und  Accompagnement  von  Felix,  das 
Tiio  aus  dem  Matrimonio  ganz  imvergleichlich. 

Den  9ten  Juli.*)  „Gottlob  und  Dank  und  Dil',  liebe  Re- 
becka.  Glück,  Segen  und  Gedeihen.  Du  hast  Deine  Sache  vor- 
trefflich gemacht  und  ich  freue  mich  sehi\     Diiichlet  gratulii-e 


*)  Es  war  die  Nachricht  gekommen,  dass  Rebeeka  am  6ten 
ihr  erstes  Kind  bekommen  hatte.  Ueber  ihre  Verheirathung  mit 
dem  Mathematiker  Professor  Dirichlet  siehe  unten  Seite  348  ff. 


Krankenlager  Abrahams.  341 

ich,  wenigstens  scliriftlicli,  niclit,  da  er's  über's  Herz  hat  bringen 
können,  mir  auch  bei  diesem  Anlass  nicht  ein  Wort  zu  schrei- 
ben; er  hätte  doch  wenigstens  schreiben  können:  2  -f-  1  =  3." 
(Dirichlet  war  einer  der  schi'eibefaiüsten  Menschen.) 

Abraham  M.  B.  war  nun  nahe  am  Termin  seiner  Abreise, 
er  verkündete  dieselbe  schon  ganz  fest  und  bestimmt,  da  w^irde 
ihm  durch  eine  Schienbeinverletzung,  gerade  wie  Felix  bei  sei- 
nem ersten  englischen  Aufenthalt,  ein  unangenehmer  Strich 
durch  die  Rechnung  gemacht.  Der  eigentlichen  Veranlassung 
zu  dieser,  anfangs  jedenfalls  sehr  unbedeutenden  Wunde  \\Tisste 
er  sich  selbst  nicht  mehr  zu  entsinnen ;  durch  Vernachlässigung 
wurde  sie  bedeutend;  am  2 Osten  Juli  musste  er  dies  nach  Hause 
schreiben  und  so  lag  er  fest  und  konnte  erst  am  25sten  August 
London  verlassen.  Wieviel  Aufmerksamkeit  und  Freundlichkeit 
ihm  während  dieses  Krankenlagers  ^^iirde,  mag  er  selbst  er- 
zählen. 

Den  1.  August. 

„ —  ■ Arrow  Root,  acht  ostindisch,  einer  meiner  Commis 

hat  es  kürzlich  aus  Ostindien  mitgebracht;  Portwein,  vierzig 
Jahre  alt;  Jüngern  desgleichen,  ganz  ohne  Sprit,  mein  Bruder 
hat  ihn  zum  eigenen  Gebrauch  aus  Portugal  verschrieben. 
Scottish  Marmelade,  aus  Pomeranzen,  mein  Onkel  Mc.  Lero, 
ein  schottischer  Clanhäuptling,  die  halbe  Insel  My  gehört  ihm, 
hat  sie  in  seinem  Hause  verfertigen  lassen;  Blumen,  die  schönsten, 
wohlriechendsten,  feinsten,  wie  sie  England  nui'  darbietet,  sie 
kommen  aus  unserm  Garten,  -sdr  haben  sie  selbst  gezogen; 
Kupferwerke,  alte  und  neue,  mir  unbekannt  und  zum  Theil  sehr 
interessant.  Wem  verdanke  ich  seit  vierzelm  Tagen  alles  dies 
und  persönlichen  Besuch  und  tägliches  Nachfragen?  Doxat's? 
Ich  habe  noch  Keinen  von  ihnen  mit  Augen  gesehen  oder  von 
ihnen  gehört.  Goldschmidt's  ?  0  nein,  denen  verdanke  ich  mehr. 
Moscheies  und  seiner  Frau?  Nein,  wahrhaftig  nicht,  denn  was 
die  für  mich  thmi,  lässt  sich  nicht  so  artikelweise  zählen  und 
bezeichnen,  dafür  muss  ich  mir  erst  einen  Ausdruck  erfühlen, 
ich  kann  sie  mit  trocknen  Augen  nicht  von  mii'  weggehen  sehen. 
Aber  Hanover  Terrace,  Regents-Park  wohnan  drei  Schwestern, 


342  1830—1834. 

nuverlieirathet,  walirsclieinlich  sehr  reich,  gewiss  sehr  ver- 
mögend, highhj  fashionalle,  verwandt  mit  den  ersten  Familien 
Schottland's  und  von  Seiten  ihrer  Brüder  verschwägert  mit  bedeu- 
tenden Familien  Londons,  mit  irgend  einem  der  gewesenen 
Könige  wahi'scheinlich  näher  verwandt  als  ich  mit  Schaul  "Wohl, 
einnächtigem  König  von  Polen ;  *)  die  älteste  von  ihnen  zeichnet 
und  beschäftigt  sich  viel  mit  Bildern,  von  denen  sie  selbst  mehrere» 
besitzt;  die  zweite  poUtisirt  toryistisch,  die  dritte,  jüngste,  noch 
recht  sehr  angenehm  hübsch,  ist  eine  Enthusiastin,  musikalisch 
und  treibt  Deutsch.  Felix  hatte  sie  früher  gekannt,  mir  aber 
nie  ein  Wort  von  ihnen  gesagt,  und  ich  habe  sie  hinter  sei- 
nem Eücken  bei  Moscheies  kennen  gelernt.  Das  Glück  ver- 
gönnte mir,  sie  mii'  sehr  zu  verbmden.  Nicht  etwa  dadurch, 
dass  ich  mit  Miss  Margaret  über  Gemälde  sprach  (es  leben  die 
Gemälde,  sie  haben  mir  stets  Genuss  und  Glück  gebracht),  son- 
dern wahrscheinlich  mehr  dadurch,  dass  ich  ihnen  erlaubte, 
mir  den  Emgang  zu  mehreren  vächtigen  und  nicht  Jedem  zu- 
gänglichen Gallerien  zu  verschaffen,  mich  dazu  selbst  in  ihrem 
Wagen  abzuholen,  dass  ich  mii'  gefallen  Hess,  besondere  Billete 
zu  Ober-  und  Unterhaus  von  ihnen  anzunehmen,  und  ausser 
mehreren  solchen  Herablassungen  meinerseits  auch  die  besonders, 
dass  ich  mir  eine  Party  gefallen  liess,  zu  welcher  sie  mich 
einluden.  Diese  fiel  zufällig  auf  den  Abend  des  Montags,  an 
welchem  zuerst  mein  Scliienbein  mitspielte;  ich  konnte  die 
Schmerzen  nicht  ganz  verbergen,  und  da  ich  nun  krank  wurde, 
schrieben  die  guten  Damen  die  Yerschlimmerung  ihrer  Soiree  zu, 
und  wussten  nun  nicht  mehr,  was  sie  alles  thun  konnten.  Sie 
besuchten  mich  persönlich  in  den  ersten  Tagen,  was  ich  ihnen 

*)  Im  sechzehnten  Jahrhundert  soll,  so  wurde  die  Geschichte 
in  der  Mendelssohnschen  Familie  erzählt,  einer  ihrer  Vorfahren, 
Rabbi  Saul,  bei  einer  der  periodischen  Vacanzen  und  Successions- 
streitigkeiten  der  königlichen  Republik  Polen  auf  eine  Nacht  die 
polnische  Krone  getragen  haben.  Abends  wählten  sie  ihn  gegen 
eine  anständige  Erkenntlichkeit  in  baarem  Gelde,  und  am  anderen 
Morgen  beeilten  sie  sich,  ihn  todtzusc klagen. 

Etwas  abweichend  erzählt  es  W.  Goldbaum  in  „Entlegene 
Kulturen".    Berlin  1877.    A.  Hoffmaun.  Seite  296  ff. 


Liebenswürdigkeit  der  Freunde.  343 

kaum  so  hoch  ani^echne,  als  dass  sie  in  ihi-er  Freundlichkeit 
nicht  nachliessen,  obschonich  sie  seitdem  nicht  wieder  v orliess ! ! 
—  Wenn  Du  nun,  liebe  Lea,  aus  allen  diesen  folgende  Schlüsse 
ziehst:  erstens,  ich  werde  ein  Fat;  zweitens,  ich  werde  ein 
Scäufer;  drittens,  ich  werde  besser,  so  habe  ich's  ad  eius  und 
zwei  selbst  schon  gefürchtet  und  ad  drei  sind  meine  Aerzte 
seit  gestern  entschieden  derselben  Meinung.  Am  ruliigsten  bin 
ich  über  das  erste ;  der  lüiüppel  liegt  beim  Hunde.  Aber  Wein 
werde  ich  in  Berlin  auch  sehr  trinken,  denn  das  bekommt  mir 
herrlich,  und  auch  viel  Fleisch  essen.  Sie  sollen  leben, 
Hensel ! 

Den  2ten.  Mme.  Moscheies,  meine  eigentliche,  wohlthätige 
Fee,  die  mir  heute  schon  ihren  Morgenbesuch  gemacht,  die 
^Times"  vorgelesen  und  ihren  Abendbesuch  angekündigt,  hat 
mir  aufgetragen.  Dich  bestens  zu  grüssen  und  Dir  zu  sagen, 
Du  möchtest  Nichts  von  allem  Guten  glauben,  das  ich  Dir 
über  sie  schreibe;  ich  aber  sage:  Glaube  Alles  und  setze  Dir 
das  Beste  hinzu!  Die  lebhafte,  sehr  bequeme,  aufmerksame,  nie 
peinliche,  graciöse  Gutmüthigkeit,  mit  der  alles  Gute  gescliieht, 
wie  nur  Frauen  sie  haben  können,  und  unter  diesen  vielleicht 
wieder  mit  besonderer  Fertigkeit  eine  geborene  Deutsche  und 
gewordene  Engländerin;  das  jüdische  Blut  n'y  gäte  rien.  E  con 
tutto  cib  fängt  mir  die  Geduld  an,  zu  reissen,  und  ich  freue 
mich  kaum  mehr  so  sehr  über  alles  Gute,  das  ich  erfahre,  als 
ich  mich  darüber  gräme,  es  Andern  als  Euch  verdanken  zu 
müssen. 

Es  wird  Dich  vielleicht  amüsii^en  zu  hören,  dass  mir  die 
eine  der  Misses  Alexander,  die  Bilderliebende,  nachdem  ich  ihr 
einmal  viel  von  Dir  erzählt  hatte,  sagte,  sie  sei  überzeugt,  Du 
müsstest  einer  Eaphael'schen  Madonna  ähnlich  sehn.  So  ge- 
schmeichelt ich  mich  von  diesem  Resultate  meiner  Schilderung 
fühlte  und  so  gewiss  Du  mir,  unbeschadet  meiner  Liebschaft 
mit  der  Jardmiere  zehntausend  Mal  mehr  gesagt  hast  und  lieber 
warst  als  alle  Raphael'sche  Madonnen  zusammen,  so  woDte  ich 
mich  doch  dieses  jesuitischen  Behelfs  nicht  bedienen  und  sagte 
ihr  offen,  ihre  Phantasie  sei  wohl  zu  weit  gegangen,  und  dass, 
was  die  linearische  Schönheit  des  Gesichts  betrifft,  Dein  wirk- 


344  1830—1834. 

lieh  vorhandenes  sich  mit  der  wohlfeilen  Schönheit  eines  Ge- 
malten nicht  zusammen  stellen  Hesse.  Das  wollte  aher  jene 
weder  verstehen  noch  zugeben  und  Hess  erst  nach  langem  Hin- 
und  Herreden  sich  gefallen,  zu  behaupten,  dass,  wenn  also 
keiner  Raphael'schen ,  Du  doch  gewiss  einer  Guido'schen  Ma- 
donna glichest,  wobei  es  denn  auch  blieb.  Ich  freute  mich, 
besser  zu  wissen,  wie  es  eigentlich  sich  verhielte  und  wie  wenig 
mir  mit  einer  gemalten  Madonna  oder  Venus  (wenn  zu  Letz- 
terer selbst  Mme.  B.  gesessen)  wäre  geholfen  gewesen.  Gestern, 
als  die  drei  Damen,  welche  mit  denen  aus  der  Zauberflöte  nicht 
allein  das  schwarze  Kostüm,  sondern  auch  das  gemein  haben, 
dass  stets  jede  von  ilmen  eine  eigene  Gabe  bringt,  mich  wieder 
besuchten,  kam  diese  Sache  abermals  zur  Sprache  und  Felix' 
Buch  mit  den  Zeichnungen  von  Hensel  zum  Vorschein.  Obschon 
nun  Letzterer,  als  -wirklicher  Schwies'ersohn  und  Ehemann 
Fannj^'s,  in  diesem  Buch  Dir  und  mir  nicht  im  Mindesten  ge- 
schmeichelt hat,  so  wollte  oder  konnte  er  doch  die  Lebhaftig- 
keit Deiner  Augen  nicht  überbieten,  wie  er  es  sonst  unfehlbar 
thut,  und  ihrer  bemächtigte  sich  nun  Miss  Margaret,  um  mir 
zu  beweisen,  sie  habe  sich  nicht  geiiTt.  Ich  gab  mich  über- 
wunden und  konnte  ganz  im  Stillen  Dich,  als  ich  mein  Bild 
wieder  ansah,  zugleich  bedauern  und  dankbar  anbeten,  dass 
Du  eine  so  unwüi'dige  und  unpassende  Wahl  gethan.  Maria 
hat  es  besser  verstanden,  die  hat  sich  zu  den  Engeln  gehalten. 

Den  9.  August. 
„ —  —  Ich  schreibe  wieder  in  meinem  alten  Zimmer,  und 
bin  die  Treppe  hinunter  oline  Schwierigkeit  imd  Anstrengimg 
gegangen  und  hoffe  auf  ein  nahes  Ende  dieses  Intermezzo  semi 
serio.  Bei  sogleich  vorgenommener  Untersuchung  eines  Wand- 
spinds  fanden  sich  darin:  ein  halber  Pudding,  ein  Pye,  eine 
sehi'  grosse  schöne  Weintraube,  Geschenk  meiner  Wirtliin, 
sechs  Töpfe  Scotch  Marmelade  imd  ein  Topf  Eingemachtes 
(Misses  Alexander),  zwei  Tüten,  was  wir  Kaffeebrod  nennen 
(j\Ime.  Moscheles),  einige  Tops  and  Bottoms  (Zwiebäcke),  ein 
gebratenes  Huhn  von  gestern  (Mme.  Goldschmidt),  eine  Flasche 
köstlichen  Portwein  witlwut  hrandy  (Misses  Alexander)  und  eiiid 


Genesung.  345 

dito  vortrefflichen  Ciaret  (Mme.  Goldschmidt) ,  woraus  hervor- 
geht, dass  hier  einige  Menschen  Hungers  sterben,  andere  nicht ; 
ernsthaft  aber  genommen,  dass,  wenn  die  beiden  grössten  Uebel, 
welche  die  Menschen  betreffen  können,  Armuth  und  Krankheit, 
wie  es  in  der  Regel  geschieht,  sich  vereinigen,  der  Zustand 
schauderhaft  und  gränzenlos  elend  sein  muss.  Ich  hoffe,  dass 
diese  Betrachtung,  welche  sich  mii-  in  grösster  Lebendigkeit 
während  der  ganzen  letzten  Zeit  aufgedrängt  hat,  als  ich  er- 
fuhr, dass  vor  einigen  Tagen  die  Frau  und  zwei  Kinder  eines 
irländischen  Arbeiters  hier  Hungers  gestorben,  während  mir, 
dem  Fremden,  von  allen  Seiten  das  Angenehmste  und  Erfreu- 
lichste widerfuhr,  nicht  unfruchtbar  wieder  vergessen  werden 
wird.*)  Nächst  Gott  und  vor  meinen  Aerzten  bin  ich  meine 
Genesung  dem  schuldig,  dem  ich  am  liebsten  etwas  schuldig 
bin,  wenn  ich  mich  getrennt  von  Euch  befinde.  Ich  kann  nicht 
sagen,  was  Felix  an  mir  gethan,  ich  kann  nicht  sagen,  welchen 
Schatz  von  Liebe,  Geduld,  Ausdauer,  Ernst  und  Freundlichkeit 
und  zärtlichster  Sorgfalt  er  gezeigt,  und  so  unendlich  viel  ich 
ihm  auch  mittelbar  schuldig  gev/orden  durch  die  tausend  Freund- 
lichkeiten und  Annehmlichkeiten,  die  mir  von  Anderen  seinet- 
wegen geworden,  so  kam  das  Beste  doch  von  ihm  selbst  und 
mein  bester  Dank  gilt  ihm." 

Der  Zufall  wollte  es,  dass  zur  selben  Zeit  ein  junger, 
der  Familie  bekannter  Engländer  an  einer  Knieverletzung  in 
Berlin  krank  darniederlag.  Da  ist  denn  Abraham  natürlich 
dringend  in  seinen  Wünschen,  demselben  möchte  von  Lea  alles 
geschehen,  was  seine  Lage  angenehm  machen  könnte,  sowohl 
durch  materielle  Genüsse,  als  auch,  und  darauf  dringt  er  haupt- 
sächlich, duiTh  ihren  Besuch.  Der  Brief  schliesst:  „Doch  was 
rede  ich  viel?  Du  bist  ja  am  Ende  Du  und  die  Tochter  Deiner 
Mutter.  Wohlthätigkeit  und  Vorsorglichkeit  ist  ja  Eure  ange- 
stammte Tugend  und  was  ich  wünsche,  ist  gewiss  Alles  schon 
geschehen,   vielleicht  bis  auf  den  Besuch,   weil  das  in  Berlin 


*)  Nach  der  Rückkehri  machte  Abraham  M.  B.  in  einem  Ber- 
liner Krankenhause  eine  Stiftung  zur  unentgeltlichen  Verpflegung 
eines  Kranken. 


3-46  1830-1834. 

nicht  üblich  ist,   setze  Dich  aber  darüber  hinweg  und  sei  ge- 
^\1ss,  Du  thust  ein  edles  Werk." 

Und  so  war  denn  endlich  die  Erlösungsstunde  da.  Abra- 
ham machte  sich  zur  Abreise  fertig,  Felix  wollte  ihn  noch  auf 
einige  Tage  nach  Berlin  begleiten,  ehe  er  seine  Stelle  in 
Düsseldorf  antrat;  sie  beschlossen  aber,  daraus  eine  Ueber- 
raschung  für  die  Familie  zu  machen  und  so  schrieb  denn 
Abraham  in  seinem  letzten  Brief  von  London:  „Ich  habe  die 
Bekanntschaft  eines  jungen  Mannes  gemacht,  der  in  Kui'zem 
nach  dem  Norden  von  Deutschland  reisen  und  sich  einige  Tage 
in  Berlin  aufhalten  will;  er  gefällt  mii'  ungemein  wohl  und 
wenn  er  sich  in  der  nächsten  Zeit  bewährt,  so  werde  ich  ihm 
vorschlagen,  die  Eeise  gemeinschaftlich  zu  machen ;  er  hat  ein 
hübsches  musikalisches  Talent  und  wird  Euch  auch  gewiss  be- 
hagen, und  w^enn  ich  bedenke,  welch'  lebhaftes  Interesse  Du, 
Frau,  an  Mr.  Lechat  genommen  (es  war  fast  mehr  ein  schwe- 
s-terliches  als  ein  mütterliches)  und  wie  Du  noch  ganz  kürzlich 
Klingemann  als  den  Schönsten  angesclirieben  hast  und  wie  sehr 
eine  neue  musikalische  Bekanntschaft  Dich,  Fanny,  in  Anspruch 
nehmen  wii'd,  so  finde  ich  es  fast  zu  uninteresstrt  imd  kühn 
von  mir  und  muss  Sie,  lieber  Hensel,  um  Entschuldigung 
bitten,  dass  ich  ihn  in's  Haus  bringe;  ich  habe  mir  schon  aus- 
gedacht, ihn  am  Thor  in  eine  Droschke  hinein  zu  komplimen- 
tiren,  um  nicht  gleich  im  ersten  Moment  ein  getheiltes  Inter- 
esse zu  finden.  Zum  Glück  wird  die  ganze  Geschichte  nicht 
lange  dauern  und  er  wohl  bald  weiter  reisen,  imd  lasst  Ihr 
mich  wegen  eines  jungen  Künstlers  im  Stich,  so  lasse  ich  Euch 
Alle  wegen  des  noch  Jüngern  Sebastian  laufen,  von  dem  alles, 
was  Ihr  meldet,  mich  rührt  und  freut  und  mir  eine  wahre 
Sehnsucht  giebt,  ihn  wiederzusehn.  —  Ich  bemerke  eben,  dass 
ich  vergessen  habe,  meine  neue  Bekanntschaft  bei  Namen  zu 
nennen:  der  junge  Mann  heisst  Alphonse  Lovie,  ist  eigentlich 
Maler  seines  Zeichens  und  macht  besonders  Portraits  mit  der 
Feder,  in  einer  eigenthümlichen  Manier  Unglaubliches  leistend. 
Ich  habe  ihn  heute  wieder  gesehen  und  denke,  wir  werden 
Reisegefährten." 

Und  so,  wähi^end  die  Berliner  sich  den  Kopf  zerbrachen, 


Rückkehr  nach  Berlin.  347 

wer  wohl  dieser  Alphonse  Lovie  sein  möchte,  zu  dem  der 
Vater  eine  so  plötzliche,  bei  ihm  nicht  gewöhnliche  Zuneigung 
gefasst  hatte,  imd  Fanny  unmuthig  in  ihrem  Tagebuche  ihre 
getäuschte  Hoffnung,  Felix  wiederzusehen,  niederschrieb  und 
nicht  begriff,  was  ihn  in  England  noch  länger  zurückhalten 
könne,  eilten  Abraham  und  Mr.  Lovie,  alias  Felix  Mendelssohn, 
über  den  Canal  und  nach  kui'zem  Aufenthalt  in  Horchheim 
nach  BerKn.  Die  Ueberraschung  war  vollkommen  gelungen, 
Felix  verlebte  wieder  einige  äusserst  vergnügte  Tage  mit  der 
Familie  und  ging  dann  nach  Düsseldorf,  wo  wir  ihn  vorläufig 
verlassen,  um  die  Verhältnisse  der  Familie  in  Berlin  weiter  zu 
verfolgen. 

Auch  der  jüngste  Sohn,  Paul,  schied  aus  dem  elterlichen 
Hause,  ging  am  4.  Mai  1831  als  Kaufmann  nach  London  und 
wurde  hier  mit  offenen  Armen  von  Klingemann  aufgenommen. 
Dieser  schrieb  an  Paul  über  den  Zeitpunkt  seiner  Ankunft  in 
London:  „Uebrigens  kommst  Du  zui-  guten  Stunde  nach  Eng- 
land, noch  mitten  in  die  Eeform-Bill  herein  —  glücklicher 
darin,  wie  Felix  mit  der  Katholiken-Emancipation,  die  war  seit 
vierzehn  Tagen  vorbei  und  vergessen,  er  aber,  der  Unschuldige, 
sah  sich  noch  in  allen  Ecken  nach  ihi'  um  und  war  ganz  ver- 
wundert über  ihi-e  Unsichtbarkeit.  Wärst  Du  z.  B.  etwa  vor- 
gestern gekommen,  wo  die  hiesige  Volksstimme  zu  Nutz  und 
Frommen  der  Oel-  und  Talg-Branchen  als  Illumination  laut 
wui'de,  so  hätte  man  Dir  Deine  unwissend-dunklen  Fenster  sehr 
eingeschmissen,  und  Du  hättest  den  folgenden  Tag  wenigstens 
an  etwas  Freies,  nämlich  an  freie  Luft  glauben  müssen  — 
nebenbei  hättest  Du  das  sonderbare  Brausen  einer  imposanten 
Volksmasse  vernommen,  die  durch  die  Strassen  fuhr,  wie  eine 
Windsbraut,  und  die  Respekt  einflösste,  eben  weil  sie  nicht 
respektabel  war.  Ich  habe  grosse  Lust,  hier  Einiges  politisch 
aufzuschneiden,  damit  sie  Dich  zu  Haus,  im  Glauben,  Du 
steigest  in  einen  wahren  mörderischen  Revolutions- Krater 
hinab,  zu  guter  Letzt  noch  recht  hätscheln  und  verziehn  — 
doch  ich  glaube,  es  thut  nicht  Noth,  es  sind  gute  und  liebende 
Leute,  die  Deinigen."  — 

Für  das   letzte  der  Kinder,  Eebecka,    war   ebenfalls    die 


348  1830-1834. 

Zeit  gekommen,  wo  sie  sich  einen  eignen  Lebensweg  suchen 
sollte.  Sie  war  weniger  musikalisch  als  die  älteren  Geschwister, 
aber  die  Schärfe  ilires  Verstandes,  ilu'  Geist  und  ihr  sprudeln- 
der Witz  zeichneten  sie  vor  Allen  aus. 

Sobald  die  Verlobung  von  Fanny  ein  offenes  Geheimniss 
war,  wendeten  sich  aUe  Huldigungen  der  jüngeren  Schwester 
zu  und  es  fehlte  ihr  nicht  an  Bewerbern.  Es  waren  unter 
diesen  Männer,  hervorragend  an  Geist  und  Talent.  Zu  keinem 
konnte  Rebecka  eme  entschiedene  Neigung  fassen,  bis  der 
schon  in  einem  Brief  Fanny 's  an  Klingemann*)  erwähnte  Pro- 
fessor Dirichlet  den  Kampfplatz  betrat  und  den  Sieg  über 
seine  Mitbewerber  davontrug. 


*)  Siehe  Seite  187. 


Gustav  Peter  Lejeiine  Dirichlet. 


Gustav  Peter  Lejeune  Dirichlet  wurde  im  Jahr  1805  den 
13.  Februar  in  Düren,  einem  Städtchen  zwischen  Köln  und 
Aachen,  geboren,  woselbst  sein  Vater  Post-Dii-ektor  war. 
Dieser,  ein  sanfter,  gefälliger  und  liebenswürdiger  Mann,  und 
die  Mutter,  eine  geistvolle,  gebildete  Frau,  gaben  dem  von 
der  Natur  ungewöhnlich  beanlagten  Knaben  eine  sorgfältige 
Erziehung,  obgleich  ilmen  dies  wohl  manchmal  schwer  genug 
werden  musste,  da  sie,  keineswegs  wohlhabend,  nur  reich  an 
Kindern  waren,  von  denen  sie  eilf  hatten.  Schon  in  sehr 
frühem  Alter  zeigte  sich  bei  ihm  eine  seltene  Begabung  und 
Vorliebe  für  die  Mathematik.  Noch  nicht  zwölf  Jahr  alt,  ver- 
wendete er  sein  Taschengeld  zum  Ankauf  mathematischer 
Bücher,  mit  deren  Studium  er  seine  ganze  freie  Zeit  und 
namentlich  die  Abende  zubrachte.  Wenn  man  ihm  das  aus- 
zureden versuchte  und  ihm  einwendete,  er  könne  sie  ja  doch 
nicht  verstehen,  so  gab  er  zur  Antwort:  „Ich  lese  sie  so 
lange,  bis  ich  sie  verstehe."  Seine  Eltern  wünschten  einen 
Kaufmann  aus  ihm  zu  machen,  indessen  gaben  sie  den  in- 
ständigen Bitten  des  Knaben,  der  dagegen  einen  entschiedenen 
Widerwillen  und  den  ebenso  entschiedenen  Wunsch  zum 
Studiren  zeigte,  nach  und  schickten  ihn  vorerst  im  Jahr  1817 
nach  Bonn  aufs  Gymnasium.  So  kam  er  als  zwölfjähriger 
Knabe  aus  dem  elterlichen  Hause,  das  er  von  da  ab  immer 
nur  vorübergehend  wieder  betreten  hat. 


350  Gustav  Peter  Lejeune  Diriclilet. 

Li  Bonn  blieb  er  zwei  Jahre  rastlos  fleissig,  vornämlich 
in  der  Mathematik  und  Geschichte.  Vor  allen  andern  ge- 
schichtlichen Begebenheiten  hat  ihn  schon  damals  und  zeit- 
lebens die  französische  Geschichte  am  meisten  iiiteressirt,  und 
er  war  ein  genauer  Kenner  der  ganzen  betreffenden  Litteratur. 
Das  hing  theils  mit  den  Erzählungen  seiner  Eltern,  die  das 
grosse  Drama  zum  Theil  sogar  als  französische  Unter- 
thanen  miterlebt  hatten,  theils  mit  seinen  eigenen,  sogleich  zu 
erzählenden  Erlebnissen  zusammen,  am  meisten  aber  leitete 
ihn  auf  das  Studium  dieser  Zeit  seine  entschieden  freie,  bis  an 
sein  Lebensende  bethätigte  Gesinnung,  die  ihn  in  der  Revo- 
lution den  Anfangspunkt  aller  freieren  Regungen  auf  dem  Kon- 
tinent erkennen  und  lieben  liess.  —  Nach  zwei  Jahren  kam 
er  auf  das  Jesuiten-Gjannasium  in  Köln  (er  war  Katholik) 
und  hatte  hier  das  Glück,  zum  Lelu^er  der  Mathematik  den 
nachmals  durch  die  Entdeckung  des  nach  ihm  benannten  Ge- 
setzes des  electrischen  Leitungswiderstandes  berühmt  gewor- 
denen Georg  Simon  Ohm  zu  bekommen.  Durch  dessen  Unter- 
richt und  fleissiges  Selbststudium  mathematischer  Bücher  machte 
Dirichlet  in  seiner  Lieblingswissenschaft  bedeutende  Fortschritte. 
Im  Jahr  182 1,  sechszehn  Jahr  alt,  verliess  er  die  Schule  mit 
dem  Abgangszeugniss  für  die  Universität.  Der  Kaufmannsplan 
war  von  den  Eltern  aufgegeben,  jetzt  aber  baten  sie  den  Sohn 
dringend,  wenigstens  ein  Studium  zu  wählen,  das  grössere 
Aussicht  auf  praktisches  Fortkommen  in  der  Welt  böte,  z.  B. 
die  Jurisprudenz.  Indess  auch  diesmal  gelang  es  Dirichlet, 
durch  die  bescheidene  aber  feste  Erklärimg,  er  werde  sich 
fügen,  aber  die  Nächte  wenigstens  der  Mathematik  widmen, 
w^enn  er  auch  bei  Tage  einem  „Brodstudium"  obliegen  müsse, 
die  eben  so  vernünftigen  als  zärtlichen  Eltern  umzustimmen 
und  er  erhielt  die  Eimvilligung,  Mathematiker  zu  werden. 

Wo  aber  war  dazu  Gelegenheit?  Das  Studium  der  Mathe- 
matik in  Deutschland  lag  damals  arg  darnieder.  Die  Vorle- 
sungen erhoben  sich  nur  selten  über  den  Gesichtskreis  der 
Elementar-Mathematik,  die  Docenten  boten  eine  Speise,  die  dem 
Geiste  Dirichlet's  nicht  zusagen  konnte;  von  wh'klich  bedeu- 
tenden Namen  gab  es  nur  den  einen  Gauss.  Dieser  aber  hatte 


Jugendgeschichte.  351 

durchaus  nicht  die  Gabe  des  Mittheilens;  es  kam  ihm  nur  dar- 
auf an,  für  sich  klar  zu  werden  über  ein  Problem;  war  dies 
geschehen,  so  war  die  Sache  für  ihn  abgemacht.  Es  soll  mehr 
als  einmal  vorgekommen  sein,  dass  Mathematiker  mit  einer  eben 
vollendeten  Entdeckung  zu  ihm  kamen,  ihn  um  seine  Memung 
zu  fragen  und  dass  er  ihnen  dann  antwortete:  „Ja,  ja,  das  ist 
ganz  richtig,  das  habe  ich  vor  zehn  Jahren  schon  ausgearbeitet; 
ziehen  Sie  mal  das  Schubfach  da  auf"  —  und  dann  zeigte  sich 
den  erstaunten  Blicken  des  Besuchers  auf  vergübtem,  altem 
Papier  seine  neue  Entdeckung,  gewöhnlich  allerdmgs  in  weit 
prägnanterer,  besserer  Form  fix  und  fertig.  In  dieser  sich 
selbst  genügenden  Abgeschlossenheit  war  nun  aber  Gauss  nichts 
weniger  als  ein  guter  Docent.  Dagegen  stand  damals  in  Frank- 
reich d.  h.  in  Paris  (denn  auch  in  diesem  Zweige  menschlicher 
Thätigkeit  bestätigte  sich  was  Felix  schrieb,  dass  Paris  Frank- 
reich ist)  die  Mathematik  in  vollster  Blüthe;  und  Namen  wie 
Laplace,  Legendre,  Fourier,  Poisson  und  Cauchy  glänzten  als 
helle  Sterne  an  ihrem  Himmel.  Paris  also  erkannte  Diiichlet 
als  den  Ort,  wo  für  seüie  mathematischen  Studien  der  grösste 
Gewinn  zu  hoffen  war;  und  die  Eltern,  welche  aus  der  „Fran- 
zosenzeit" her  noch  gute  Freunde  in  Paris  hatten,  willigten 
in  seinen  Wunsch  ein,  dorthm  zu  gehn.  Im  Mai  1822  bezog 
er  diese  Hochschule  der  Mathematik.  — 

Sein  Leben  war  hier  anfangs  höchst  einfach,  sogar  dürftig, 
denn  die  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mittel  waren  nur  sehr  gering, 
sein  Umgang  ein  besclu'änkler.  Aber  er  erinnerte  sich  dieser  Zeit 
mit  dem  grössten  Vergnügen,  wo  er  zum  ersten  Mal  mit  vollen 
Zügen  aus  dem  Quell  des  Wissens  trinken  durfte  und  die 
Entbehrungen,  denen  er  sich  in  Nahrung,  Kleidung  und  Woh- 
nung unterwerfen  musste,  erhöhten  —  wenigstens  in  der  Eiin- 
nerunc-  —  den  Eeiz.  Ein  Versuch,  den  er  machte,  neben  den 
Vorlesungen  am  College  de  France  und  an  der  FacuUe  des  Sciences 
auch  denen  an  der  Ecole  poJytechnique  beizuwohnen,  scheiterte 
daran,  dass  der  preussische  Geschäftsträger  in  Paris  ohne  be- 
sondere Autorisation  des  l^Iinisters  von  Altenstein  es  nicht 
übernehmen  wollte,  die  Erlaubniss  beim  französischen  Mmisterium 
auszuwirken!!!  Welche  Verbindungen  aber  hätte  der  siebzehn- 


352  Gustav  Peter  Lejeune  Dirichlet. 

jährige  Student   aus    der  kleinen    rheinischen  Provinzialstadt 
gehabt,  diese  Autorisation  zu  erwii'ken? 

Bald  aber  sollte  in  seinem  stillen  Lehen  ein  grosser  Um- 
schwung eintreten:  der  General  Foy,  ein  geistreicher,  hoch- 
gebildeter Mann,  ein  Haupt  der  Opposition  in  der  Deputirten- 
kammer  und  einer  ihrer  berühmtesten  Redner,  mit  einer  glän- 
zenden militärischen  Vergangenheit,  suchte  einen  Lehrer  für 
seine  Kinder,  der  dieselben  hauptsächlich  in  deutscher  Sprache 
und  Litteratur  unterrichten  sollte,  und  durch  die  Vermittelung 
eines  alten  Kriegsgefährten  von  Foy  und  Hausfreundes  von 
Dirichlet's  Eltern,  Larchet  de  Chamont,  bekam  Diiichlet,  der 
gleich  bei  der  ersten  Zusammenkunft  einen  höchst  günstigen 
Eindruck  auf  Foy  machte,  diese  Stelle,  mit  einem  anständigen 
Gehalt  und  so  geringen  Verpflichtungen,  dass  ihm  ausreichende 
Zeit  zur  Fortsetzung  seiner  Privatstudien  blieb.  Merkwüi'diger- 
weise  ist  Foy  der  di'itte  französische  General  (von  Sebastiani 
und  Davoust  ist  in  Henriette's  Geschichte  dasselbe  berichtet 
worden),  dem  deutsche  Bildung  so  begehrungswerth  vor- 
gekommen war,  dass  er  sie  seinen  Kindern  auf  jeden  Fall 
sichern  wollte ;  hier  aber  war  die  Verpflichtung  eine  gegenseitige ; 
denn  Diiichlet  wurde  bleibend  und  bestimmend  beeinflusst  durch 
das  Beispiel  eines  thatkräftigen,  edlen  und  feingebildeten  Mannes, 
das  er  in  Foy  vor  sich  hatte,  und  durch  den  herzlichen  und 
zwanglosen  Umgang  mit  der  Generalin,  die  ihre  lange  ver- 
nachlässigten deutschen  Studien  bei  ihm  wieder  aufnahm  und 
ilim  dafüi'  seine  Germanismen  im  Französischen  austrieb.  Von 
grosser  Bedeutung  für  sein  ganzes  Leben  war  es  auch,  dass 
das  Haus  des  Generals,  welches  ein  Veremigungspunkt  der 
ersten  Notabilitäten  in  Kunst  und  Wissenschaft  der  Hauptstadt 
Frankreichs  war  und  in  welchem  von  den  angesehensten 
Kammermitgliedern  die  grossen  politischen  Fragen  verhandelt 
wurden,  die  zunächst  zu  der  Julii'evolution  1830  führten,  ihm 
zuerst  Gelegenheit  gab,  das  Leben  in  grossartigem  Massstabe 
zu  sehen  und  sich  daran  zu  betheiligen.  Eine  nette  Stelle 
findet  sich  in  einem  Klingemann'schen  Brief,  aus  der  man  ein 
sehr  lebendiges  Bild  von  Dirichlet  im  Foy'schen  Hause  bekommt, 
er  schreibt  Isten  März  1833  anRebecka:  „Es  ist  ein  Unglück, 


Dirichlet  und  Alexander  v.  Humboldt.  353 

dass  ich  Ihren  Gemahl  und  Ehe- Voigt  nicht  kenne  —  was 
hilft's,  wenn  wu*  uns  Jahrelang  durch  die  besten  Autoritäten 
die  schönsten  Sachen  sagen  lassen  (ich  lasse  ihn  z.  B.  jetzt 
aufs  herzlichste  und  verbindlichste  durch  seine  eigene  Frau 
grüssen)  —  man  bleibt  sich  immer  ungreifbar  und  ein  dürrer 
Begriff  bis  man  sich  sieht  und  spricht.  Nicht  einmal  durch 
unsere  Werke  lernen  ^vir  uns  kennen,  er  nicht,  weil  ich  keine 
schreibe,  ich  nicht,  weil  ich  die  seinigen  nicht  verstehe.  Gott! 
Wenn  Sie  wüssten,  was  für  einen  gränzenlosen  Respekt  ich 
vor  Mathematik  im  Allgemeinen  und  vor  Algebra  im  Speziellen 
habe,  schon  aus  dem  Grunde,  dass  ich  so  garnichts  davon  ver- 
stehe, so  fühlten  Sie ,  wie  ich  schon  vor  Ihnen  zittere,  geschweige 
denn  vor  dem  Professor  selber!  —  Das  Greifbarste  von  Letz- 
terem hörte  ich,  wie  ich  das  letzte  Mal  in  Paris  war,  von  der 
Generalin  Foy,  die  von  ihm  sprach,  d.  h.  ihn  lobte  und  er- 
zählte, wie  er  Tagelang,  auf  einem  kleinen  Ofen  sitzend,  bald 
die  Kinder  unterrichtet,  bald  weiterstudirt  habe.''  —  Diese 
Vorstellung  des  ausserordentlich  grossen,  dünnen  jungen  Men- 
schen auf  dem  eisernen  Oefchen  sitzend  und  Mathematik  stu- 
dirend,  während  der  Unterricht  der  Kinder  ihm  Zeit  lässt, 
hat  etwas  komisch  Rührendes  und  so  ungemein  Deutsches. 

Und  ein  Deutscher  blieb  Dirichlet  doch,  trotz  aller  Vor- 
liebe für  Frankreich,  trotz  aUes  Glanzes  und  aller  Annehmlich- 
keiten, welche  er  vom  Pariser  Leben  in  so  hohem  Grade 
kennen  lernte.  Nachdem  er  durch  seine  erste  der  OeffentUch- 
keit  übergebene  Schrift,  welche  in  der  Pariser  Akademie  vor- 
gelesen und  in  die  Sammlung  der  Denkschriften  auswärtiger 
Gelehrter  aufgenommen  wurde,  einen  glänzenden  Erfolg  errungen 
und  sich  den  Ruf  eines  ausgezeichneten  Mathematikers  mit  einem 
Schlage  erworben  hatte,  wui'de  er  mit  Alexander  von  Humboldt, 
der  damals  in  Paris  lebte,  bekannt,  der  ihn  schon  früher  von 
General  Foy  als  ausgezeichneten  Gelehrten  hatte  rühmen  hören, 
aber  auf  dieses  Lob,  als  aus  dem  Munde  eines  Laien  kommend, 
nicht  viel  gegeben  hatte.  Indess  die  Erstlingsarbeit  Dirichlet's 
überzeugte  ihn;  Humboldt  empfing  den  jungen  Mann  mit  aus- 
nehmender Freundlichkeit  und  es  wurde  zwischen  Beiden  eine 
stets  wachsende  und  bis  zum  Tode  unveränderte  Freundschaft 

Die  Familie  Mendelssohn.  L  23 


364  Gustav  Peter  Lejeune  Diriohlet. 

geschlossen.  Grleich  bei  der  ersten  Zusammenkunft  tlieilte  ihm 
Dirichlet  seine  Absicht  mit,  später  nach  Deutschland  zurück- 
zukehren; Humboldt  bestärkte  ihn  darin,  indem  er  ihm  ver^ 
sichei'te,  bei  der  geringen  Anzahl  guter  Mathematiker  könne 
es  ihm  nicht  fehlen,  sobald  er  es  wünsche,  eine  angemessene 
Stellung  zu  finden.  Durch  den  im  November  1825  erfolgten 
Tod  Foy's  und  den  Einfluss  Humboldt's,  der  bald  nachher  Paris 
verliess,  wurde  Dirichlet's  Entschluss,  die  Rückkehr  in's 
Vaterland,  zur  Reife  gebracht.  Mit  der  „angemessenen  Stellung", 
die  Humboldt  als  so  leicht  erreichbar  dargestellt  hatte,  sah  es 
indessen  traurig  aus.  Kurz  vorher  hatten  die  jahrelang  fort- 
gesetzten Unterhandlungen  mit  Gauss  über  seine  Anstellung 
in  Berlin  abgebrochen  werden  müssen,  weil  es  an  einigen 
hundert  Thalern  fehlte,  es  war  also  nicht  anzunehmen,  da  man 
sich  die  erste  deutsche  mathematische  Berühmtheit  einer  solchen 
Lappalie  wegen  hatte  entgehen  lassen ,  dass  man  dem  noch 
nicht  einundzwanzigjährigen  Dirichlet  besonders  glänzende 
Anerbietungen  machen  würde.  Und  wirklich  gehegte  die  ganze 
unermüdliche  Thätigkeit  und  der  grosse  Einfluss  Humboldt's, 
der  die  angesehensten  Mitglieder  der  Berliner  Akademie  bewog, 
die  Sache  auch  zu  der  ihiigen  zu  machen,  es  gehörte  eine 
dringende  Befüi'wortung  durch  Grauss  dazu,  um  für  Dirichlet 
als  fixes  Grehalt  —  vierhundert  Thaler  zu  erlangen,  damit  er 
sich  in  Breslau  als  Privatdocent  habilitiren  möge.  Indessen 
Dirichlet,  der  von  jeher  und  bis  an  sein  Lebensende  fast  ganz 
bedürfnisslos  war,  ging  darauf  ein,  in  der  Hoffnung,  seiner 
eigenen  Tüchtigkeit  und  Humboldt's  Freundschaft  werde  es 
mit  der  Zeit  gelingen,  ihm  eine  angemessene  Lage  zu  ver- 
schaffen. Li  Breslau  fühlte  sich  Dirichlet  nicht  behaglich;  die 
üniversitätsverhältnisse  müssen  damals  ziemlich  zopfig  gewesen 
sein  —  z.  B.  erregte  es  bei  einigen  Kollegen  grosse  Miss- 
stimmung, dass  er  von  der  öffentlichen  lateinischen  Disputation 
befreit  wurde  —  die  Studirenden  konnten  sich  an  seine  Lehi'- 
w^eise  nicht  gewöhnen ;  er  seinerseits  mochte  sich  um  das  stark 
grassirende  Coteriewesen  nicht  künmiern  und  so  kam  er  wäh- 
rend der  drei  Semester,  die  er  dort  blieb,  nie  zu  jener  lokalen 
oder  provinziellen  Berühmtheit,  die  in  beschränkteren  Kreisen 


Privatdoccnt  in  Breslau  und  Berlin.  855 

wirksamer  ist,  als  die  allgemeine  Anerkennung  von  Seiten  der 
ersten  Männer  der  Wissenschaft.  Diese  aber  wurde  ihm  in 
vollem  Masse:  Ueher  eine  in  dieser  Zeit  erschienene  Abhand- 
lung Dirichlet's  schrieb  Bessel  an  Humboldt:  „Wer  hätte  ge- 
dacht, dass  es  dem  Genie  gelingen  werde,  etwas  so  schwer 
Scheinendes  auf  so  einfache  Betrachtungen  zurückzuführen;  es 
könnte  der  Name  Lagrange  über  der  Abhandlung  stehen  und 
Niemand  würde  die  Unrichtigkeit  bemerken."  —  Fourier  aber 
beschwor  Dii'ichlet  selbst,  und  suchte  auch  durch  Larchet  de 
Chamont  auf  ihn  zu  wii-ken,  dass  er  wieder  nach  Paris  zurück- 
kehren möchte,  weil  er  dazu  berufen  sei,  an  der  dortigen  Aka- 
demie bald  eine  der  ersten  Stellen  einzunehmen. 

Indess  er  zog  eine  noch  so  bescheidene  Thätigkeit  in  der 
Heimath,  wenn  sie  ihm  nur  eben  zu  leben  gestattete,  vor.  Da 
um  diese  Zeit  die  mathematische  Lehrstelle  an  der  allgemeinen 
Kriegsschule  in  Berlin  frei  wurde,  benutzte  Humboldt  die  Ge- 
legenheit, Dirichlet  dem  General  Radowitz  zu  empfehlen.  Die- 
ser aber  und  der  Kiiegsminister  konnten  sich  nicht  entschliessen, 
ihm  die  Stelle  definitiv  zu  übertragen,  „weil  er  zu  jung  sei, 
um  den  Officieren  als  Lehrer  vorgestellt  zu  werden."  Indessen 
um  sie  interimistisch  zu  verwalten  schien  er  alt  genug  zu 
sein  und  so  erhielt  er  denn  von  Altenstein  vorläufig  auf  ein 
Jahr  Urlaub  und  übernahm  den  Unterricht  an  der  Kriegsschule 
im  Herbst  1828,  den  er  von  da  ab  bis  zu  seiner  Uebersiede- 
lung  nach  Göttingen  im  Jahre  1855  ununterbrochen  gehalten 
hat.  So  angenehm  ihm  in  den  ersten  Jahren  der  Umgang  mit 
den  ihm  gleichaltrigen  Officieren  war,  so  drückend  wurde  ihm 
später,  als  er  sich  an  der  Universität  einen  grossen  Kreis  von 
Zuhörern  gebildet  hatte,  die  ihm  mit  lebendigem,  wissen- 
schaftlichem Interesse  in  die  höchsten  Gebiete  der  Mathematik 
zu  folgen  willig  und  befähigt  waren,  dieses  Verhältniss  zu  den 
„Kriegsschülern",  die  die  Vorlesungen  nur  aus  Zwang,  als  zu 
absolvirendes  Pensum,  besuchten  und  an  denen  er  selten  wirk- 
liches Verständniss  und  Lust  und  Liebe  zur  Sache  entdeckte. 
So  war  es  auch  die  Kriegsschule,  welche  zuerst  ihn  nach 
Berlin  geführt  hatte,    die  ihn   nach  siebenundzwanzig  Jahren 

von  da  wieder  vertrieb. 

98* 


356  Gustav  Peter  Lejenne  Dirichlet. 

Bald  nach  seiner  Ankunft  in  Berlin  habilitii-te  er  sich  auch 
wieder  als  Privatdocent  an  der  dortigen  Universität,  da  er,  ob- 
gleich in  Breslau  schon  Professor  geworden,  als  Professor  einer 
fremden  Universität  in  Berün  nicht  Vorlesungen  halten  duifte 
und  erst  im  Jahre  1831  wurde  er  definitiv  als  ausserordent- 
licher Professor  an  die  Berliner  Universität  versetzt.  Merk- 
würdigerweise war  es  derselbe  Humboldt,  der  auf  die  Gestal- 
tung von  Dirichlet's  äusseren  Lebensschicksalen  so  bedeutenden 
Einfluss  gehabt  hat,  der  ihn  auch  in  das  Mendelssohn'sche  Haus 
einführte  und  dadurch  mittelbar  auch  bestimmend  auf  eine  an- 
dere Seite  seines  Lebens  einwirkte. 

Dirichlet  interessirte  sich  von  Anfang  an  lebhaft  für  Ee- 
becka  und  seine  Neigung  blieb  nicht  unerwidert;  indess  fand 
er  längere  Zeit  Widerstand  bei  den  Eltern,  die  andere  Be- 
werber lieber  sehen  mochten  und  von  dem  Ernst  und  der 
Nachhaltigkeit     semer    Liebe    nicht     vollkommen     überzeugt 

waren. 

Schliesslich  gelang  es  aber  namentlich  dm-ch  die  Bemühun- 
gen von  Hensel  und  Fanny,  sie  umzustimmen,  und  die  Verlo- 
bung fand  am  5ten  November  1831,  die  Verhcirathung  im  Mai 

1832  statt.  Auch  Dirichlet's  bezogen  eme  Wohnung  im  Hause 
der  Eltern,  und  so  hatten  diese  das  Glück,  wenigstens  die 
Töchter   in  unmittelbarster   Nähe  zu  behalten.    Am  2ten  Juli 

1833  wurde  Dirichlets  das  älteste  Kind,  Walter,  geboren. 
Das  Jahr  1834   brachte   neue  Veränderungen:    Paul   war 

Yon  seinem  auswärtigen  Aufenthalt  zurückgekehrt  und  Anfangs 
des  Jahres  bei  dem  alten  Handlungshaus  Mendelssohn  &  Co., 
dem  damals  Joseph  und  dessen  Sohn  Alexander  vorstände©, 
eingetreten.  Später  wurde  er  Associe  des  Geschäfts  und  ver- 
heirathete  sich  mit  Albertine  Heine,  die  schon  längere  Zeit 
dem  Freundeskreise  angehört  hatte. 

Den  September  1884  brachte  Felix  in  Berlin  zu.  Sein 
Verhältniss  zum  Vater  wurde  immer  inniger  imd  steigerte  sich 
Seitens  Felix'  zu  wahrer  Anbetung.  Und  Abraham  verdiente 
diese  in  vollstem  Masse.  Durch  die  Jahre  war  seine  früher 
etwas  harte  und  strenge  Natui-  immer  weicher,  milder,  harmo- 
nischer  geworden.    Leider   machte   sich    auch  Schwäche  de» 


Verheirathung  von  Kebecka  und  Paul.  357 

Alters  fühlbar.  Schon  auf  der  englischen  Reise  war  seine 
Kurzsichtigkeit  ihm  recht  störend;  jetzt  entwickelte  sich  mit 
grosser  Schnelligkeit  der  Staar,  und  bald  konnte  er  kaum  noch 
einen  Schimmer  sehn.  Er  trug  dies  Unglück  mit  unglaubli- 
cher Ruhe  und  Resignation  und  fühlte  die  grösste  Dankbarkeit 
gegen  die  Töchter,  die  abwechselnd  ihm  vorlasen  und  für  ihn 
schrieben.  Im  Jahi'  1835  soUte  es  zur  Operation  kommen. 
Zu  den  eigenen  Kindern  wurde  sein  Verhältniss  immer  mehr 
das  des  erprobten  Freundes,  und  namentlich  für  Felix  wurde 
er  der  liebende,    aber  unbestechliche  Berather  jedes  Schrittes. 


Das  Jahr  1835. 


Im  Frühling  fand  das  Musikfest  in  Köln  unter  Felix' 
Direktion  statt.  Diesmal  machten  sich  die  Eltern,  Dirichlet's 
und  Hensel's  dazu  auf.  Das  Fest  nahm  seinen  gewohnten 
frohen  Verlauf,  Felix  hegleitete  seine  Eltern  nach  Berlin  zu- 
rück, von  wo  Lea  an  Eehecka,  die  nach  Ostende  weiter  gereist 
war,  schreibt: 

y^JJne  douce  Sympathie  regne  entre  nozia,  chere  enfant!'*  Wir 
reisten  den  1  sten  ab  und  kamen  beiderseits  den  8ten  an.  Durch 
Felix  wirst  Du  erfahren,  dass  Lea  in  Abrahams  Schooss  wohl- 
behalten sass,  denn  er  schreibt  Dir  von  allen  Orten  mit  wahrer 
Pietät.  Dass  er  aber  eine  leibhaftige,  nur  noch  veredelte,  ge- 
steigerte, liebenswürdigere  Krankenpflegerin  ist,  wird  Dir  seine 
Bescheidenheit  verhehlt  haben.  Ich  durfte  im  eigentlichen 
Sinne  nicht  hart  treten,  was  bei  manchen  Wirthshaustreppen 
und  Schwellen  schwer  zu  vermeiden  ist.  „Er  hat  zu  Allem 
Geschick",  sagte  E.  einst  bei  andrer  Gelegenheit.  Ja,  fast  zu 
sorgsam  pflegte  und  hätschelte  er  mich  auf  der  Reise  und  hielt 
mich  ungefähr  wie  eine  Passalaqua'sche  Mumie.*)  Nur  lachen 
und  spassen  durfte  ich,  wozu  sein  angenehmes  Gespräch  mir 
genug  Gelegenheit  gab.  Sonst  ward  jede  Agitation  so  ge- 
wissenhaft vermieden,  dass   selbst  der  Herkules  in  Wilhelms- 


♦)  Passalaqua  war  der  damalige   Direktor  der   ägyptischen 
Sammlung  des  Berliner  Museums. 


Musikfest  1835.    Cravall  in  Berlin.  369 

höhe  als  ein  zu  aufregender  Mann  verholen  wurde,  ohgleich 
es  meinem  Herzen  gewiss  mehr  schadete,  umsonst  nach  ihm 
zu  schmachten,  als  mich  ihm  in  die  Arme  zu  werfen.  Eine 
halhe  Meile  von  Kassel  sahen  wir  ihn  emporragen,  und  Marie 
fragte  mich  Abends:  „Ist  denn  Herkules  ein  bedeutender 
Mann?"  Ich  fand  das  so  schön,  dass  ich  vor  Lachen  nicht 
antworten  konnte.  — 

Ich  rathe  Dir,  lass  Deine  Mine  bei  dieser  für  sie  so 
günstigen  Gelegenheit  die  edle  Kochkunst  lernen,  am  Rhein 
so  wissenschaftlich,  grossartig,  mannigfach  geübt!  Auf  der 
Reise  in  unsere  poor  country  streift  man  mit  jeder  Station  eine 
süsse  Gewohnheit,  eine  edle  Bequemlichkeit  nach  der  andern 
ab.  0  Albrecht  der  Bär,  Du  solltest,  geUndest  geredet,  der 
Esel  heissen! 

Ich  hoffe,  unsre  abgeschmackte  RebeUion  vom  3  ten  August 
und  folgenden  Tage  soll  Dich,  mit  belgischen  Lügen  gespickt, 
nicht  mehr  afficirt  haben  als  uns.  Das  schönste  Resultat  ist 
folgende  Poesie  der  Strassenjungen: 

Heil  Dir  im  Siegerkranz, 
Heut'  bleibt  keene  Scheibe  janz. 

Es  ist  leider  viel  unschuldig  Blut  geflossen,  denn  obschon 
die  Staatszeitungsdarstellung  wahr  gewesen,  dass  die  mit 
Steinen  geworfenen  Soldaten  nicht  geschossen,  so  haben  sie, 
was  mit  Stillschweigen  übergangen,  gehauen  und  Dieffenbach 
allein  hat  von  drei  gefö.hi*lich  Zugerichteten  gesprochen,  die  er 
unter  Händen  gehabt.  Wieviel  es  im  Ganzen  waren  und  ob's 
auch  Todte  gegeben,  weiss  man  durchaus  nicht  officiell,  nach 
unserm  schönen  Princip,  nichts  der  Art  zu  veröffentlichen,  und 
so  hat  Fama  gut  Spiel  und  nimmt  ihr  loses  Maul  desto  voller. 
Es  soU  Jemand  dem  Könige  das  Pariser  Mittel,  Aufläufe  durch 
Spritzen  zu  zerstreuen,  vorgeschlagen  und  er  gesagt  haben: 
»werden  gewiss  nicht  in  gutem  Zustand  sein.''  Ich  finde  das 
sehr  komisch. 

Zwei  Tagereisen  von  hier  bat  ich  Felix,  nur  den  zehnten 
Theil  seiner  Liebenswürdigkeit  für  Berlin  einzupökeln.  Ich 
merke  auch,  dass  er  sich  alle  Mühe  giebt,  aber  so  recht  geht's 


360  Das  Jahr  1835. 

ihm  nicht  von  Herzen,  ja  es  ist  nicht  übertrieben  von  mir, 
wenn  ich  behanpte,  sogar  seine  Physiognomie  hat  sich  ver- 
ändert, und  er  sieht  gar  nicht  so  hübsch  und  lebhaft  aus,  als 
am  Rhein.  Schadow  imd  Hildebrand,  die  ihn  seines  mobilen 
Ausdrucks  wegen  so  unsäglich  schwer  zu  malen  finden,  wer- 
den's  begreifen.  Er  thut  indess  was  er  kann:  ich  rechne  ihm 
jeden  Tag  längeren  Hierbleibens  auf  einem  Blättchen  meines 
Herzens  an.  Zum  Glück  arbeitet  er  am  Paulus  und  zwar 
sehi'  fleissig  und  gern;  den  ersten  Theil  kopirt  er  und  ändert 
bei  dieser  neuen  Durchsicht,  wie  Du  es  an  ihm  kennst,  wenn 
er  über  seine  Sachen  kalt  geworden.  Einmal  hat  er  uns 
himmlisch  vorgespielt,  auf  dem  dürren,  klapperigen,  alten 
Broadwood,  aus  dem  er  Klang,  Ton,  Gesang,  Zartheit  und 
Kraft  zu  ziehen  wusste.  Ich  glaube,  es  galt  Louis  Heidemann, 
der  selbst  jetzt  so  gut  spielt.  Du  weisst,  zwei  hörende  Ohren 
können  ihn  begeistern.  Dass  ich  ihn  etwas  anerkenne  —  ist 
Dir  nicht  neu.  Gott  segne  ihn!  Den  Tag  seiner  Abreise  hat 
er  noch  nicht  bestimmt,  auch  das  dank'  ich  ihm;  muss  man 
die  Stunden  so  zählen,  schemt  das  Verfliegen  derselben  noch 
schneller  und  sündlicher;  man  wii'ft  sich  vor,  jede  Minute  nicht 
noch  sorgsamer  benutzt  zu  haben." 

Nach  dem  Musikfest  reisten  Hensel's  nach  Paris.  Das 
Urtheil  über  die  französischen  Malerverhältnisse  spricht  Fanny 
in  einem  Brief  an  ihren  Vater  so  aus: 

„10.  Juli  35. Lieber  Vater,  Du  scheinst  doch  einige 

Furcht  zu  verrathen,  dass  Hensel  nicht  mit  völliger  Gerechtig- 
keit gegen  Paris  verfahren  würde;  ich  dächte,  die  Absicht 
ginge  schon  hinlänglich  aus  dem  Entschluss  hervor,  die  Reise 
nur  zu  unternehmen,  denn  es  wäre  ja  eine  wahi-e  Stupidität, 
so  viel  Geld,  Zeit  und  Kräfte  aufzuwenden,  nur  um  nachher 
sagen  zu  können:  ce  n'est  que  cela?  Er  sieht  und  hört  mit 
der  grössten  Unbefangenheit  und,  wie  immer,  mit  dem  Wunsch 
zu  lernen.  Dass  er  nicht  AUes  loben  und  billigen  kann,  ver- 
steht sich  von  selbst,  und  dass  wir  über  einzelne  Punkte 
Streit  bekommen  werden,  glaube  ich  auch.  Indessen  wirst  Du 
im  Ganzen  zufrieden  sein  mit  der  Art,  wie  er  gesehen  und 
seine  Zeit  angewandt  hat.    So  angestrengt  wie  in  der  ersten 


Hensel's  in  Paris.    Pariser  Maler.  ,361 

Zeit  darf  er  nun  nach  seinem  Krankheitsanfall  nicht  mehr 
umherlaufen  und  ich  sehe  schon  heute  ein,  dass  wir  manche? 
Interessante  werden  ungesehen  oder  halbgesehen  lassen  müssen, 
da  es  uns. an  Geld  und  Zeit  fehlt,  länger  hier  zu  bleiben  alg 
einen  Monat. 

Hier  zu  leben  kann  ich  kaum  wünschenswerth  finden, 
nach  allem,  was  wir  von  den  Künstlern  selbst  hören,  denn 
wenn  auch  freilich  die  Aufträge  mitunter  kolossal  sind,  so  ist 
auch  die  Masse  der  Intriguen,  Hindernisse  und  Schlechtigkeiten, 
die.  sie  erdulden  müssen,  in  gleichem  Masse  kolossal^  und  die 
Art,  wie  die  Reputationen,  die  das  Publikum  früher  selbst  ger 
schaffen  hat,  später  unter  die  Füsse  getreten  werden,  wirklicl^ 
unleidlich  anzusehen.  Wir  haben  seit  den  vierzehn  Tagen 
unseres  Aufenthalts  zwei  eklatante  Beispiele  davon  gesehen; 
es  ist  nur  eine  Stimme  darüber,  dass  eine  solche  Behandlung 
Gros  in  die  Seine  geführt  hat  und  Delaroche  ist  in  solcher 
Verzweiflung  über  die  grenzenlose  Perfidie,  mit  der  man  ilmi 
seinen  Auftrag  wieder  genommen  hat  (die  Ausschmückung 
einer  Kirche  mit  Fresken),  dass.  ich  mich  kaum  wunder^ 
würde,  wenn  er  denselben  Weg  ginge.  Aber  sehr  gern  würde 
Hensel  einmal  ein  Jahr  hier  sein,  ein  Bild  hier  malen  und  da« 
Museum  studiren,  alle  Künstler,  die  seine  Sachen  gesehen 
haben,  rathen  ihm,  ein  Bild,  womöglich  das  grosse,  zur  Au^r- 
Stellung  herzuschicken,  aber  alle  sind  auch  einig  darüber,  dass 
er  selbst  mitkommen  müsste,  weil  er  sonst  vor  Misshandluni: 
seines  Werkes  nicht  sicher  wäre,  und  dann  wird  Delaroehe's 
Beispiel  angefülirt,  dem  man,  während  er  in  Italien  die  Studiea 
zu  seiner  Kirche  machte,  die  Kirche  selbst  wegnahm,  was 
Vemet  (Delaroehe's  Schwiegervater),  der  anwesend  war,  mit 
allem  seinem  Kredit  nicht  abwenden  konnte.  Freunde  helfen 
nichts,  sagen  sie,  man  muss  selbst  da  sein,  und  das  erschwert 
die  Sache  natürlich  fast  bis  zum  Unmöglichen.  Das  Einzige, 
was  ich  den  Künstlern  hier  wirklich  beneide,  ist  das  Glüclc, 
ihre  Sachen  so  vortrefflich  publicirt  zu  sehn.  Da  ist  Calamatta, 
der  arbeitet  fast  nur  nach  Ingres,  und  wie  werden  Delarochö!« 
Sachen  gestochen!  —  — -".  .      '      ,'   ,  .'.-.    :'. 

.       Hensels   machten    natürlich   viele   interessante   Bekannt* 


362  Das  Jahr  1835. 

Schäften,  besonders  die  von  Delaroche  und  Vernet.  Fanny 
Bchildert  des  letzteren  Kostüm,  in  dem  er  im  Atelier  arbeitet, 
als  das  eines  Tanzmeisters,  Schübe,  weisse  Hosen,  Jacke,  eine 
rothe  Schärpe  nm  den  Leib.  Fünf  Jahre  später  zog  der 
geniale,  aber  excentrische  Mann  in  Eom  in  orientalischer 
Tracht  in  den  Strassen  einher,  mit  Dolch  und  Pistole  im 
Gürtel  und  ganz  einem  Türken  gleichend,  wie  ihn  auch  Hensel 
in  halbstündiger  Sitzung  gezeichnet  hat.  Gerard  erregte 
Fannys  lebhaftes  Interesse;  er  hatte  die  ganze  Revolutions- 
und  Kaiserzeit  mitgemacht  und  besass  selbstgemalte  Portraits 
der  bedeutendsten  Menschen  jener  Zeit;  von  denen  sie  Talma, 
Mlle.  Mars,  Napoleons  Jugendbild,  Humboldt  und  Canova  nennt. 

Der  Schluss  ihres  Aufenthalts  wurde  noch  durch  ein  er- 
schütterndes Ereigniss  bezeichnet,  das  dazu  beitrug,  der  ganzen 
Erinnerung  an  Paris  eine  trübe  Färbung  zu  geben,  das 
Fieschi'sche  Attentat. 

Unter  dem  Eindruck  dieses  Verbrechens  verliessen  Hensels 
Paris.  Aber  das  Reiseungiück  verfolgte  sie  noch  weiter.  Sie 
gingen  nach  Boulogne,  weil  Fanny  noch  das  Seebad  brauchen 
sollte.  Boulogne  war  aber  überfüllt,  namentlich  mit  Englän- 
dern, und  mehrere  Tage  verliefen  zuerst  mit  Wohnungsuchen. 
Als  endlich  eine  gefunden  war,  zeigte  sich  dieselbe  in  so  bau- 
fälligem Zustande,  dass,  nachdem  sie  einige  Tage  bewohnt  war, 
bei  einem  Platzregen  die  Decke  einstürzte  und  ein  grosser 
Strom  durch's  Dach  eingeregnetes  Wasser  sich  in's  Zimmer 
ergoss.  Dazu  kamen  sehr  mangelhafte  Postverbindungen,  so 
dass  Berliner  Briefe  bis  vierzehn  Tage  unterwegs  waren.  Zu 
allem  Uebrigen  bekam  Fanny  eine  ziemlich  heftige  Augenent- 
zündung, die  sie  an  jeder  Beschäftigung  und  an  allem  Genuss 
der  frischen  Luft  hinderte.  Natürlich  war  der  fashionable  und 
zwar  für  Engländer  fashionable  Badeort  unerschwinglich  theuer, 
alles  zusammen  bewirkte,  dass  Fanny  stets  mit  ganz  besonderem 
Widerwillen  an  Boulogne  zurückdachte.  Das  einzige  Gute  war 
angenehme  Gesellschaft:  Heinrich  Heine,  der  hier  in  Boulogne 
seine  schöne  Geschichte  mit  einigen  Engländerinnen  lieferte, 
die  sich  das  Lesezimmer  aussuchten,  um  ein  sehr  lautes 
Gespräch  zu  führen,  und  die  er  verscheuchte,   indem  er  ihnen 


Bouiogue.  363 

sagte :  ^Meine  Damen,  wenn  Sie  mein  Lesen  im  Sprechen  stört, 
kann  ich  ja  auch  wo  anders  hingehen.'*  Femer  die  englische 
Schriftstelleiin  Mrs.  Austin,  eine  sehr  liebenswürdige  Frau. 
Endlich  kam  Klingemann  auf  drei  Tage  aus  London  herüber, 
die  auf's  angenehmste  verplaudert  wurden.  Er  lernte  bei 
dieser  Gelegenlieit  Wilhelm  Hensel  kennen. 

Ueber  die  Rückreise  schreibt  Fanny  an  Klingemann: 

Berlin,  17.  Oktober  1835. 

^ Wir  haben  Ihnen  die  drei  einzigen  angenehmen 

Tage  zu  danken,  die  wir  in  Boulogne  zugebracht  haben,  denn 
ich  weiss  nicht,  welcher  freundliche  Dämon  unserm  Plagegeist 
von  Wirth  eingab,  uns  gerade  diese  wenigen  Tage  ungehudelt 
zu  lassen,  so  dass  wir  die  Freude  Ihres  Besuchs  ungetrübt 
geniessen  konnten.  Kaum  waren  Sie  an  jenem  blauesten,  herr- 
lichsten Tage  zu  Schiff  —  wir  sahen  dem  Dampfboot  lange 
nach,  dessen  Rauchsäule  gerade  in  die  Luft  stieg  und  dessen  frühe 
und  glückliche  Ankunft,  sowie  das  Wohlbefinden  sämmtlicher 
Passagiere  mit  Einscbluss  des  Pudels  wir  noch  den  Tag  vor 
unserer  Abreise  von  Boulogne  erfuhren  —  als  der  Tanz  wieder 
losging.  So  scliieden  wir  in  schlechtestem  Vernehmen  imd  in 
einem  Wetter,  von  dem  ich  behauptete,  dass  es  sich  nur  in  Boulogne 
und  in  Boulogne  nur  für  uns  vorfinden  könnte.  Mit  Sturm  und 
Regengüssen  entliess  uns  der  unfreundliche  Ort,  aber  schon  in 
Calais  hatte  es  sich  so  weit  aufgehellt,  dass  wii-  den  Hafen 
besuchen  und  uns  durch  den  Augenschein  überzeugen  konnten, 
dass  nichts  daran  zu  sehen  ist,  so  etwas  glaubt  Keiner  dem 
Andern.  Die  Nacht  blieben  wir  in  Dünkirchen  und  besahen  am 
andern  Morgen  wiedeinim  den  Kafen.  Es  war  mir  kurios,  so 
zufällig  gerade  nach  Dünkii-chen  gekommen  zu  sein,  dieser  Name 
klang  mir  immer,  wxnn  ich  als  Kind  Geographie  lernte  oder 
eine  Karte  besah,  so  ganz  besonders  fern  und  fremd,  wie  ein 
europäisches  Ostindien,  oder  wie  ein  Punkt,  den  keine  Berli- 
nische Seele  je  erreichen  könne,  und  nun  war  ich  drin  gewesen 
und  hatte  in  einem  ganz  vortrefflichen  Gasthause  übernachtet. 
Von  Dünkirchen  aus  nach  der  nächsten  Station,  die  schon 
belgisch   ist,   fährt   man  mehrere  Heues  auf  dem  nassen  Ebbe- 


364  Das  Jahr  1835. 

sande  und  einer  natürlichen  Chaussee  von  Muscheln,  einen  ganz 
wunderlich  reizenden  Weg,  auf  dem  man  stundenlang  nichts 
als  links  die  Meerlinie  und  rechts  das  Dünenmeer  sieht.  Aus 
Versehen  kamen  wir  nach  Ostende,  wo  wir  meine  Schwester 
nicht  mehr,  dafür  aber  zum  letzten  Mal  das  Meer  hei  voller 
Fluth  sahen,  und  gelangten  Nachmittags  nach  Brügge,  wo  wir 
die  paar  letzten  Stunden  des  Tages  und  die  paar  ersten  des 
folgenden  mit  Besichtigung  dieser  alten,  'wiinderbaren  Stadt 
zubrachten.  Ich  weiss  nicht,  ob  Sie  Belgien  kennen  und  be- 
finde mich  also  in  der  höchsten  G-efahr,  Urnen  lauter  Dinge  zu 
erzählen,  die  Sie  zehnmal  besser  wissen  als  ich,  aber  never  mind^ 
wess  das  Herz  voll  ist,  dess  fliesst  die  Feder  über,  und  dass 
mein  Herz  noch  immer  Belgiens  voll  ist,  das  kann  ich  nicht 
läugnen.  Wenn  Sie  in  Brügge  durch  die  wohlerhaltenen,  rein- 
lichen Strassen  des  fünfzehnten  Jahrhimderts  nach  dem  Hospital 
gehen,  wo  Hemelink  eben  krank  lag,  und  nach  seiner  Genesung 
zum  Dank  das  schöne  fromme  Bild  malte,  wenn  Sie  die  an- 
muthigen  barmherzigen  Schwestern  innen  gemalt  in  goldenen 
Rahmen  knieend,  und  dann  dieselben  frischen  Gesichter  in 
ihrer  Kirche  betend,  oder  in  Haus  imd  Hof  menschenfreundlich 
geschäftig,  wenn  Sie  dasselbe  katholische  Volk  in  derselben 
alten  Tracht  und  den  ernsthaften  schwarzen  Mänteln  in  die 
nämlichen  altherrlichen  Kirchen  wandeln  sehn,  so  bemächtigt 
sich  eine  unwillkürliche  Täuschung  der  Seele  und  der  Sinne. 
Sie  möchten  den  ersten  Vorübergehenden  fragen,  wo  der  edle 
Meister  Hemelink  oder  die  Brüder  Eyk  wolmen,  und  wenn  er 
vorüberginge,  ohne  Ihnen  zu  antworten,  so  wüi^den  Sie  nur 
denken,  er  verstehe  kein  Deutsch  und  Sie  kein  Flämisch, 

Den  andern  Tag  fuhren  wir  nach  Gent,  mit  dessen  Be- 
sichtigung wir  wieder  den  Rest  der  hellen  Stunden  verbrachten, 
und  zwar  in  so  grässlichem  Regen  und  Schmutz,  dass  jede 
Vorsicht  unnütz  erschien,  und  ich  am  Ende  geradezu  ging, 
ohne  irgend  mehr  meinen  Weg  zu  wählen.  Zu  Hause  angelangt, 
mussten  wir  einen  völligen  Trockenplatz  anlegen.  Gent  hat 
einen  ganz  andern  Charakter  als  Brügge,  und  zwar  vielmehr 
den  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  so  wie  Antwerpen  den  des 
siebzehnten  Jahrhmiderts.    In  Gent   wird  leider  viel  erneuert 


Belgien.  365 

tmd  ein  grosser  The'il  der  herrlichen,  eigenthümlichen  alten 
Häuser  durch  nichtssagende  neue  ersetzt.  Indess  ist  noch 
genug  des  Schönen  übrig  gebliehen,  um  zehn  Städte  wie  Ber- 
lin (sagen  Sie's  nicht  wieder)  damit  ausstatten  zu  können.  Die 
vielen  Quais,  die  zahllosen  Brücken,  das  ganze  kuriose  Wasser- 
wesen, die  schönen  alten  Kirchen  (der  grössere  Theil  des  be- 
rühmten Altarbildes  von  Eyk  ist  dort,  von  dem  wir  den  klei- 
neren Theil  hier  besitzen),  Alles  dies  macht  aus  Gent  eine 
in  ihrer  Art  nicht  weniger  interessante  Stadt,  als  es  Brügge 
in  anderer  Weise  ist.  Von  da  gingen  wir  nach  Antwerpen, 
was  für  mis  der  Kulminationspunkt  wenigstens  dieser  Rück- 
reise war,  eine  königliche  Stadt!  —  Nie  habe  ich  Hensel  so 
entzückt  gesehn,  als  in  der  Kathedi-ale,  welche  das  berühmte, 
grösste  Bild  von  Rubens,  die  Kreuzabnahme,  enthält.  Ich  ver- 
sichere Sie,  wäre  eine  Möglichkeit  der  Ausführung  vorhanden 
gewesen,  wir  hätten  uns  mit  Leichtigkeit  entschlossen,  in 
Antwerpen  zu  bleiben.  Rubens  kann  man  niu'  da  kennen  ler- 
nen, mehrere  Kirchen  und  das  Museum  enthalten  Meisterwerke 
von  ihm,  von  denen  man  nirgend  anderswo  eine  Idee  bekommt. 
Dabei  sind  die  Strassen  und  Bassins  von  der  höchsten  Gross- 
artigkeit. 

In  Brüssel  hatten  wir  mehr  ein  geselliges  Leben  zu  führen, 
da  wir  mehrere  sehr  angenehme  Bekannte  dort  fanden,  die 
sich  freuten,  Schulden  der  Gastfreundschaft  abtragen  zu  können, 
doch  sahen  wir  auch,  was  in  zwei  Tagen  liegend  möglich  war. 
Wir  kamen  noch  durch  Löwen,  wo  wir  das  berühmte  Rathhaus 
und  eine  sehr  merkwürdige  Privatsammlung  sahen,  wo  wir  uns 
nur  gerade  lange  genug  aufhielten,  dem  Dom  und  mit  ihm  für 
diesmal  allen  Herrlichkeiten  aller  Kunst  Lebewohl  zu  sagen; 
wir  eilten  nach  Bonn,  wo  wir  mit  Dirichlet's  zusammen  trafen, 
und  uns  einiger  Ruhetage  erfreuen  wollten,  denn  wir  waren 
erschöpft  von  acht  Tagen  des  herrlichsten  Reisens  und  ich 
besonders  von  einem  Zustande  steter  Bewunderung,  der  äusserst 
angenehm,  aber  auch  höchst  ermüdend  ist." 

Der  Morgen  des  19ten  wurde  in  Bonn  froh  mit  den 
schöhsten  Plänen  zu  einer  gemeinsamen,  gemächlichen  Rück- 
reise verplaudert,  die  für  alles  erlittene  Reiseungemach  ent- 


366  Das  Jahr  1835. 

schädigen  sollte.  Da  kam  ein  dringender  Brief  aus  Berlin: 
Hensels  Mutter  war  bedenklich  erkrankt  und  er  wurde  schleunigst 
zurückgerufen,  wenn  er  sie  noch  einmal  sehn  wollte.  Hensels 
reisten  sofort  ab,  über  Leipzig,  wo  sie  Felix  trafen,  der  in- 
dessen dorthin  übergesiedelt  war,  und  erreichten  am  27sten 
September  Berlin.  Hensel  fand  seine  Mutter  noch  am  Leben, 
indess  am  4ten  Oktober  starb  sie.  Ihr  Tod  war  ein  schon 
längst  erwarteter  und  für  die  alte  Frau  beinahe  als  eine  Wohl- 
that  anzusehn.  Doch  war  er  der  Vorläufer  eines  andern,  der, 
plötzlich  und  ungeahnt  eintretend,  die  ganze  Familie  schwer 
treffen  sollte.  — 

Felix  hatten  wir  verlassen,  als  er  seine  Stelle  in  Düssel- 
dorf definitiv  antrat,  im  Herbst  1833  und  sahen  eben,  dass  er 
im  Herbst  1835  von  dort  nach  Leipzig  gegangen  war.  Diese 
zwei  Jahre  waren  selir  fleissige  und  zugleich  sehr  lustige  in 
seinem  Leben.  Alles,  was  sich  sein  Vater  von  der  Düssel- 
dorfer Stellung  versprochen  hatte,  ging  in  vollem  Mass  in 
Ei-füllung,  ja,  es  wurde  noch  übertroffen.  Felix'  Stellung  w^ar 
eine  dreifache.  Erstens  war  er  Dirigent  des  gesammten  städti- 
schen Musikwesens,  das  theilweis  erst  im  Entstehen,  theilweis 
in  einem  chaotisch  verwirrten,  veralteten  Zustand  war.  Damit 
innig  zusammen  hing  die  Leitung  der  Musik  zu  den  kirchlichen 
Feierlichkeiten  in  der  fast  ganz  katholischen  Stadt.  Gleich  zu 
Anfang  ereignete  sich  die  aus  den  Felix'schen  Briefen*)  bekannte 
Geschichte  mit  dem  früheren  Leiter  dieser  Kirchenmusiken: 
„  Ein  ganz  alter,  verdriesslicher  Musikant  mit  einem  schabigen 
Kock  wurde  vorgeladen,  erschien  und  als  sie  ihm  auf  den  Pelz 
fuhren,  sagte  er,  er  werde  und  woUe  keine  bessere  Musik  ma- 
chen, wollten  wir  es  besser  haben,  so  möchten  wir  es  einem 
Andern  geben.  Er  -svisse  wohl,  dass  man  jetzt  \äel  Ansprüche 
mache,  es  soUe  jetzt  Alles  schön  klingen,  das  sei  zu  seiner 
Zeit  nicht  gewesen  und  er  mache  es  noch  eben  so  gut  wie 
damals.  Da  wiuxle  es  mir  wahrhaftig  schwer,  ihm  die  Sache 
abzunehmen,  \viewohl  es  die  Andern  gewiss  besser  machen 
werden,   aber  ich   dachte  mir  so,  wenn  ich  in  fünfzig  Jahren 


*)  Brief  an  Rebeoka.  26.  Oktober  1833. 


Felix  ia  Düsseldorf.  367 

einmal  auf  ein  Rathliaus  gernfen  würde  und  möchte  so  spre- 
chen, und  ein  Gelbschnabel  schnauzte  mich  an,  und  mein  Rock 
wäre  so  schabig,  und  ich  wüsste  eben  auch  gamicht,  warum 
Alles  besser  klingen  sollte  —  und  da   wurde  mir  schlecht  zu 

Muthe."  — 

Nun  musste  aber  erst  gute  Musik  herbeigeschafft  werden,  da- 
mit die  bessern  Musiker  auch  etwas  Ordentliches  aufzufuhren 
hätten.    So  bereiste  denn  Felix,  me  er  sich  ausdi-ückte,  ^  seine 
Domainen,"    d.    h.    er   fuhr   nach   Elberfeld,    Bonn  und  Köln, 
kramte   alle   Bibliotheken  durch   und   kam  mit  einem  grossen 
Schatz   altitaliänischer  Kirchensachen  nach  Düsseldorf  zurück. 
Unterdess   aber   hatten   die   Düsseldorfer  für  den  Augenblick 
allen  Sinn  für  Msereres  von  Allegri  und  Bai  und  Motetten  von 
Orlando  Lasso  und  Pergolese  verloren,  und  dachten  an  Nichts, 
als  an  den  Kronprinzen   von  Preussen,  nachherigen  Friedrich 
Wilhelm  IV.,  der  durch  Düsseldorf  kam.    Ehrenpforten,  Grlocken- 
läuten,  Kanonendonner  und  ein  Diner   wai'en  die  unvermeidli- 
chen  Folgen.    Aber   Düsseldorf  wollte   auch  ein  Fest  geben, 
und  den  Hauptgedanken   dazu   hatte  Felix,   in  Erinnerung  an 
das  Musikfest  vom  Frühjahr  vorher,  angeregt:  Israel  in  Aegypten 
mit  lebenden   Bildern,    von   Bendemann   und   Hübner  gestellt. 
Die  Chöre  waren  noch  in  frischem  Andenken,  die  Vorbereitungen 
also   verhältnissmässig   einfach   und   wenig  zeitraubend.    Das 
Fest  ist  in  dem  auf  der  vorigen  Seite  erwähnten  Brief  ausführlich 
beschrieben. 

Demnächst  ging  es  wieder  an  die  ernstere  Arbeit.  Die 
Kirchenmusiken  bekamen  ein  ganz  anderes  Ansehn.  Felix 
scheint  sogar  sich  in  diese,  doch  wesentlich  katholische  Seite 
der  Musik  —  denn  er  ist  sich  darüber  ganz  klar,  dass  eine 
wirkliche  Kirchenmusik,  das  heisst,  eine  solche,  die  integriren- 
der  Tbeil  des  Gottesdienstes  wüi'de,  im  Protestantismus  un- 
möglich sei  —  so  hineingedacht  zu  haben,  dass  er  einen  Augen- 
blick nicht  übel  Lust  hatte,  eine  Messe  zu  schreiben,  von  der 
er  memt,  „sie  möchte  werden,  wie  sie  woUe,  so  würde  es 
die  einzige  Messe  sein,  welche  wenigstens  mit  fortdauernde*' 
Erinnerung  an  den  kirchlichen  Zweck  geschrieben  wäre." 

Neben    dieser    Thätigkeit    nahm    nun    aber    eine    andre, 


868  Das  Jahr  1835. 

wesentlich  verschiedene,  einen  grossen  Theil  seine  r  Zeit  in 
Anspruch:  Das  damals  nach  allen  Seiten  sprossende  künst- 
lerische Interesse  in  Düsseldorf  hatte,  namentlich  durch  Immer- 
mann geleitet,  sich  auch  lebhaft  der  Gründung  eines  Theaters 
zugewendet.  Immermann  gab  sich  derselben  Hoffnung  hin, 
die  Lessing  in  Hamburg  gehegt  hatte,  und  deren  Enttäuschung 
ihm  sowohl  wie  jenem  bittre  Stunden  bereiten  sollte,  der  Hoff- 
nung, man  könne  ein  wirklich  edles,  klassisches  Theater  aus 
sich  selbst  schaffen  und  erhalten.  Der  Anfang  war  hier  wie 
dort  ein  vielversprechender.  Aber  nirgends  war  auch  vielleicht 
ein  so  günstiger  Boden  dafür,  als  in  dem  Düsseldorf  des  Jahres 
1834.  Die  vielen  künstlerischen  Elemente,  die  jungen  Maler, 
das  frische  Naturell  des  ganzen  Volkes,  die  gute  Kamerad- 
schaft, die  unter  Allen  herrschte,  die  Maler  für  Immermann 
Decorationen  anfertigend,  dieser  jenen  ihre  Feste  durch  Dich- 
tungen verherrlichend;  und  an  der  Spitze  des  Theaterunter- 
nehmens Immermann's  zähe,  entschlossene,  despotische  Natur, 
wie  sie  ein  Dirigent  eines  solchen  Instituts  der  Natur  der 
Sache  nach  haben  muss ;  das  Alles  Hess  sich  gut  an.  In  FeUx 
glaubte  nun  Immermann  einen  geeigneten  Helfer  bei  seinem 
Werk  gefunden  zu  haben,  und  Felix  war  auch  gern 
bereit,  sich  mit  Jenem  zu  verbinden,  die  Leitung  der 
Oper  zu  übernehmen,  wie  Immermann  die  des  Schauspiels. 
Namentlich  hatten  sich  beide  zu  einer  Anzahl  sogenannter 
„Mustervorstellungen''  vereinigt;  als  erste  von  diesen  sollte 
der  Don  Juan  in  Scene  gelin.  Die  Düsseldorfer  Opposition  — 
und  eine  solche  mangelt  der  menschlichen  Natur  gemäss  auch 
dem  besten  Unternehmen  nicht  —  nahm  aber  Anstoss  an  dem 
Namen  „Mustervorstellungen",  der  als  Arroganz  ausgelegt 
ward,  und  —  an  dem  erhöhten  Eintrittspreise,  und  es  entstand 
ein  fui'chtbarer  Lärm,  den  Felix  in  einem  Brief  an  seinen 
Vater  beschreibt:*) 

„Es  ist  doch  ein  lebendiges  Volk  in  Düsseldorf!  Die 
Don  Juan-Geschichte  hat  mich  bei  alledem  amüsirt,  obwohl 
sie  wild  genug  war  imd  Immermann   ein  heftiges  Fieber  vor 


*)  Felix'  Briefe.    28.  December  1833. 


Don  Juan  Aufführung.  369 

Aerger  bekommen  hat.  Da  Du,  liehe  Mutter,  Zeitungen  lesen 
magst,  so  sollst  Du  im  nächsten  Briefe  alle  gedruckten  Akten 
über  diese  Geschichte,  die  die  ganze  Stadt  di-ei  Tage  lang 
beschäftigt  hat,  erhalten.  —  Nachdem  der  grand  scandale  an- 
gefangen hatte,  der  Vorhang  dreimal  gefallen  und  wieder  auf- 
gezogen worden  war,  nachdem  sie  das  erste  Duett  des  zweiten 
Aktes  durchgesungen  hatten,  ohne  vor  Pfeifen,  Trommeln  und 
Brüllen  gehört  worden  zu  sein,  —  nachdem  sie  dem  Regisseur 
(Immermann)  die  Zeitung  aufs  Theater  geworfen  hatten,  da- 
mit er  sie  vorlesen  solle,  und  der  darauf  sehr  piquirt  wegge- 
gangen war,  und  der  Vorhang  zum  vierten  Mal  liel,  wollte 
ich  meinen  Stock  hinlegen,  oder  ihn  wahrhaftig  lieber  den 
Kerls  an  den  Kopf  werfen,  als  es  wieder  ruhig  wurde  —  die 
Schreier  waren  heiser  geworden,  die  ordentlichen  Leute  leb- 
hafter, kui'z,  wir  spielten  den  zweiten  Akt  unter  tiefer  Stille 
und  vielem  Applaus  weiter  und  durch.  Nachher  wurden  Alle 
herausgerufen  —  Keiner  kam,  und  Immermann  und  ich  kon- 
ferirten  im  Pulverdampf  des  Feuerregens  zwischen  den  schwarzen 
Teufeln,  was  zu  thun  sei.  Ich  erklärte,  bis  das  Personal  und 
ich  keine  Satisfaction  hätten,  dirigirte  ich  die  Oper  nicht  wie- 
der, zugleich  kam  eine  Deputation  von  Mehreren  aus  dem 
Orchester,  die  wieder  erklärten,  wenn  ich  die  Oper  nicht  diri- 
girte, würden  sie  nicht  spielen,  —  nun  jammerte  der  Schau- 
spieldirektor, der  zur  nächsten  Vorstellung  schon  alle  Billets 
verkauft  hatte.  Immermann  fuhr  alle  um  sich  her  an,  —  mit 
solcher  Grazie  verliessen  wir  Beide  das  Schlachtfeld.  Den  fol- 
genden Tag  stand  an  den  Ecken  „wegen  eingetretener  Hin- 
demisse'' u.  s.  w.  und  wo  man  auf  der  Strasse  ging,  war  von 
nichts  die  Rede  als  vom  Skandal.  Die  halbe  Zeitung  voll  An- 
zeigen darüber;  der  Urheber  verantwortPte  sich  —  behauptete, 
er  habe  trotz  Alles  dessen  einen  grossen  Genuss  gehabt,  für 
den  er  mir  und  dem  Personal  dankbar  sei,  —  nannte  sich,  und 
da  er  Regierungssekretär  ist,  so  Hess  ihn  der  Präsident  kommen, 
rüffelte  ihn  schrecklich,  schickte  ihn  dann  zum  Direktor,  der 
ihn  wieder  schrecküch  rüffelte  —  den  Soldaten,  die  Theil  ge- 
nommen hatten,  ging's  von  ihren  Chefs  ebenso—,  der  ganze  Ver- 
ein zur  Beförderung    der  Tonkunst  erliess  ein  Manifest,  worin 

Die  Familie  Mendelssolin.  I.  ^*^ 


370  Das  Jahr  1835. 

er  um  Wiederholung  der  Oper  bat  und  auf  die  Störungen  schalt 
—  das  Theatercomite  zeigte  an,  wenn  die  geringste  Unter- 
brechung in  seinen  Vorstellungen  wieder  stattfände,  würde  sich's 
sogleich  auflösen,  —  ich  liess  mir  die  Ermächtigung  vom 
Au-schuss  geben,  die  Vorstellung  zu  beendigen,  für  den  Fall, 
dass  gelärmt  würde;  vorigen  Montag  hiess  es  allgemein,  der 
Regisseui'  solle  ausgetrommelt  werden,  wegen  seiner  neulichen 
Piquirtheit,  nun  kriegte  Immennann  das  Fieber  und  ich  gestehe, 
dass  ich  mit  sehr  unangenehmen  Gefühlen  in's  Orchester  zum 
Anfang  liinunterging,  weil  ich  beim  kleinsten  Skandal  die  Vor- 
stellung endigen  wollte.  Aber  gleich,  wie  ich  an's  Pult  ging, 
empfingen  sie  mich  mit  vielem  Applaus,  riefen  dann  nach  einem 
Tusch,  der  musste  mir  di'eimal  gebracht  werden  unter  einem 
Teufelsspektakel,  dann  wurde  es  mäuschenstill,  alle  einzelnen 
Nummern  erhielten  ihren  Applaus,  kurz,  das  Publikum  war 
nun  so  artig,  wie  vorher  ungeberdig.  Ich  wollte,  Ihr  hättet 
die  Vorstellung  gesehen;  einzelne  Sachen,  bin  ich  überzeugt, 
können  nicht  schöner  gehn,  als  an  dem  Abend;  das  Quartett 
z.  B.  und  der  Geist  im  letzten  Finale,  fast  der  ganze  Leporello 
waren  wirklich  prächtig,  und  ich  hatte  grosse  Freude  daran. 
— Besonders  ist  mir's  lieb,  dass  die  Sänger,  die,  wie  ich  höre, 
Anfangs  gegen  diese  Mustervorstellungen  und  mich  persönlich 
gestimmt  waren,  sich  jetzt  für  mich  todtschlagen  lassen  und 
die  Zeit  gar  nicht  eiTs^arten  wollen,  bis  ich  wieder  eine  Oper 
gebe.  Jetzt  bin  ich  zum  Weihnachten  hier  nach  Bonn  gefah- 
ren, mitten  durch  den  eistreibenden  Ehein  und  habe  hier  ein 
paar  angenehme  Tage  verlebt."  — 

So  hatten  die  „Mustervorstellungen''  begonnen.  Dem  Don 
Juan  folgte  Egmont,  mit  der  Beethoven' sehen  Musik.  Beson- 
ders gelungen  aber  war  der  Wasserträger.  Diese  Oper  war 
seit  langen  Jahi-en  vom  Eepertoü'e  aller  Bühnen  verschwunden, 
man  hatte  sie  ganz  vergessen  und  hielt  es  für  eine  Marotte 
des  Comites,  solch  ein  altes  Ding  wieder  aufwärmen  zu  wollen. 
Da  fürchteten  Alle  auf  der  Bühne,  es  möchte  eine  Wiederho- 
lung des  Don  Juan -Skandals  geben  —  „das  gab  aber",  schreibt 
Felix,*)  „grade  die  rechte  Stimmung  für  den  ersten  Akt;  das 


*)  Brief  an  seineu  Vater.   28.  März  1834. 


Egmont.    Wasserträger.  ■  371 

Ganze  ging  so  nervös,  gespannt,  zitternd  diirclieinander,  dass  schon 
bei  dem  zweiten  Musikstück  die  ganze  Düsseldorfer  Opposition 
in's  Feuer  gerieth,  und  klatschte  und  rief  und  weinte  durcheinan- 
der. Einen  bessern  Wasserträger  als  meinen  Günther  habe  ich  nie 
gesehen  —  das  war  alles  so  liebenswürdig  und  natürlich,  und  ein 
bischen  ordinär  dabei,  damit  die  Noblesse  nicht  gar  zu  fabel- 
haft wäre.  —  Er  wurde  ungeheuer  fetirt  und  zwei  Mal  heraus- 
gerufen; das  verdarb  ihn  für's  zweitemal,  wo  er  dann  gleich 
zu  viel  auftrug  und  zu  sicher  schien ;  aber  das  erste  Mal  hättet 
Ihr  ihn  sehn  sollen.  Das  war  mein  vergnügtester  Theater- 
abend seit  langer  Zeit,  denn  ich  nahm  an  der  Vorstellung 
Theil,  wie  ein  Zuschauer,  lachte  und  klatschte  mit  und  schrie 
Bravos  hinauf,  dirigirte  dabei  munter  fort,  die  Chöre  im  zwei- 
ten Akt  klangen  wie  aus  der  Pistole  geschossen.  Im  Zwischen- 
akt war  die  ganze  Bühne  voll  Menschen,  die  sich  freuten  und 
den  Sängern  gratulirten,  und  sogar  das  Orchester  klappte  bis 
auf  einige  Placker,  wo  ich  sie,  trotz  alles  Ermahnens  und 
Drohens  wälu-end  der  Vorstellung  nicht  dazu  bringen  konnte, 
die  Augen  von  der  Bühne  weg  und  auf  die  Noten  zu 
richten.'' 

Diese  Stellen  wurden  hauptsächlich  deshalb  aufgenommen, 
weil  aus  ihnen  klar  hervorgeht,  woran  die  Harmonie  zwischen 
Felix  und  Immermann  scheitern  musste.  Beide  sahen  die  Sache 
von  einem  gar  zu  verschiedenen  Gesichtspunkte  an;  Felix 
amüsirte  die  Don  Juan -Geschichte,  über  die  Immermann  vor 
Kränkung  ein  heftiges  Fieber  bekam.  Ersterer  hatte  an  den 
Aufführungen  Freude,  die  Immermann  als  die  ernsteste  Sache 
von  der  Welt  ansah.  Felix  schreibt  an  seinen  Vater:  „Eine 
gute  Aufführung  im  Düsseldorfer  Theater  geht  freilich  nicht 
durch  die  Welt  und  wohl  kaum  über  die  Dussel,  aber  wenn 
ich  selbst  und  alle  Menschen  im  Hause  sich  recht  durch  und 
durch  an  der  guten  Musik  erfreuen  und  erwärmen,  so  ist  das 
auch  was  Hübsches."  —  Immermann  war  bereit,  diesem  Unter- 
nehmen, das  Felix  als  etwas  schliesslich  doch  Nebensächliches 
behandelt,  seinen  ganzen  Lebensberuf  zum  Opfer  zu  bringen, 
und  ihm  all'  seine  Kräfte  ausschliesslich  zu  widmen,  mit  einem 
Worte,    Inunermann   war   das  Düsseldorfer  Theater    Herzens- 

24* 


372  Das  Jahr  1835. 

und  Begeisterungssache,  für  Felix  lag  die  Herzens-  and  Be- 
geisterungssache ganz  wo  anders,  in  seinen  eigenen  Compo- 
sitionen. 

So  grosses  Vergnügen  er  auch  namentlich  von  der  oben- 
erwähnten Wasserträgervorstellimg  hatte,  so  war  ihm  doch 
schon  damals  vieles  an  dem  Theaterwesen,  die  Schauspieler- 
geschichten, das  Effektsuchen  und  Effektmachen,  die  Zeitungs- 
klatschereien, namentlich  aber  das  Zeitraubende,  das  ihn  ^von 
seinem  eigentlichen  Zweck,  den  eigenen  Arbeiten",  zu  weit 
entfernte,  unangenehm.  Daher  übernahm  er  auf  der  bald  nach 
dem  Wasserträger  abgehaltenen  Theaterkonferenz  nur  die  obere 
Aufsicht  über  die  musikalischen  Geschäfte,  Zusammensetzung 
des  Orchesters,  Engagement  der  Sänger  und  die  monatliche 
Auffülirung  einer  Oper;  er  verzichtete  auch  auf  das  Gehalt,  für 
welches  nun  ein  zweiter  Dii'igent  angestellt  wurde;  er  wollte 
beim  Theater  nur  ganz  unabhängig  und  nur  als  Freund  der 
Sache  stehn.  Eine  solche  Stellung  ist  aber  auf  die  Dauer  nicht 
haltbar;  um  so  weniger  bei  dem  gewissenhaften  Naturell 
Felix',  der  sich  nicht  entschliessen  konnte,  die  Sache  lässig 
zu  behandeln,  sie  eben  gehen  zu  lassen,  sondern  der,  so  lange 
er  dabei  war,  mit  ganzer  Pflichttreue  und  grossem  Eifer  dabei 
war,  bis  es  ihm  gradezu  unerträglich  wurde.  Dieser  Zeitpunkt 
trat  ein,  als  im  Herbst  des  Jahres  1834  die  neuen  Contrakte 
imd  Engagements  anzufertigen  und  darüber  zu  unterhandeln 
war.  Schon  aus  jener  kleinen  Geschichte  mit  dem  Kirchen- 
musikanten haben  wir  gesehn,  welch  ein  weiches,  zartempfin- 
dendes Herz  Felix  hatte;  das  war  nicht  dazu  angethan,  mit 
dem  vielen  Gesindel,  das  an  einem  —  namentlich  kleinstädtischen 
—  Theater  hängt,  sich  herumzustreiten.  Er  hat  uns  die  „Lei 
den  eines  Düsseldorfer  Intendanten"  in  einem  Brief  an  Eebeckt 
recht  anschaulich  selbst  beschrieben.  *) 

Das  Traurigste  an  der  Sache  war,  dass  das  Verhältniss  zu 
Immermann,  welches  vorher  ein  so  ausserordentlich  gutes  ge- 
wesen war,  jetzt  zuerst  ein  kühles,  dann  beinahe  ein  feindliches 
wurde.    Freilich  war  der  Antagonismus  beider  Naturen  in  die- 


♦)  Brief  vom  23.  November  1834. 


Zerwürfniss  mit  Immermann.    Paulus.  373 

sem  Punkte  zu  gTOSs,  und  Immermann  war  durch  Felix  in 
seiner  Lieblingssache  gehemmt  worden,  er  hielt  ihn  deshalb 
für  einen  Abtrünnigen  an  dem  verdienstlichen  Werk  der  Er- 
richtung der  Nationalbühne.  —  Rechnet  man  aber  zu  den  bis 
jetzt  besprochenen  amtlichen  Obliegenheiten,  zu  den  vielen  Con- 
zerten  und  Aufführungen  im  Singverein,  in  der  Kirche,  im 
Theater,  noch  die  ausserdem  an  andern  Orten  gegebenen  Con- 
zerte  (von  einer  solchen  Rundreise  in  Elberfeld  und  Barmen 
handelt  ein  sehr  frischer,  hübscher  Brief),  das  Musikfest  1834 
in  Aachen,  das  er  allerdings  nur  als  Zuhörer  besuchte,  und  dabei 
Hiller  und  Chopin  aus  Paris  traf, — (man  hatte  ihm  nahe  gelegt,  sich 
um  die  Direktion  dieses  Musikfestes  zu  bewerben,  was  er 
aber  grundsätzlich  nicht  that,)  und  das  Musikfest  in  Köln  1835, 
wovon  schon  gesprochen  ist;  rechnet  man  Alles  dies,  was 
sich  schon  in  den  Zeitraum  von  zwei  Jahren  zusammendrängte, 
so  erscheint  es  wahrhaft  erstaunlich,  dass  dies  in  Felixens  Augen 
die  Nebensachen  waren,  und  dass  ausserdem  seine  Thätigkeit 
als  Komponist  eine  ausserordentliche  blieb.  Es  fallen  in  diese 
Zeit  das  Es -dur- Rondo  und  das  A-moll-Capriccio  für's  Piano- 
forte  (1834),  das  E-dur-Capriccio  nnd  eine  As-dur-Fuge  (1835), 
viele  Lieder  ohne  Worte  und  mit  Worten,  darunter  „Auf 
Flügeln  des  Gesanges",  ferner  die  Ouvertüre  zur  schönen 
Melusine. 

Und  selbst  alle  diese  verschiedenen  und  zum  Theil  sehr 
umfangreichen  Arbeiten  waren  nur  gewissermassen  Vorstudie, 
Tun  recht  in  Zug  zu  kommen,  zu  dem  grössten  Werk,  das  Felix 
bis  dahin  unternommen  hatte,  und  dessen  beinahe  vollständige 
Beendigung  noch  in  die  Düsseldorfer  Zeit  fällt,  zum  Paulus. 
Zu  diesem  drängte  und  trieb  ihn,  den  gewiss  von  Natur  schon 
Thätigen,  fortwährend  sein  Vater,  gleich  als  hätte  er  eine 
Ahnung  von  der  hohen  Stelle  sowohl,  die  Felix  mit  diesem 
W' erk  unter  den  Komponisten  einnehmen  sollte,  als  auch  davon, 
dass  ihm  selbst  nicht  mehr  vergönnt  sein  würde,  die  Auffüh- 
rung zu  erleben.  Dies  Oratorium  war  nun  Felix'  Herzens-  und 
Gewissenssache,  wogegen  ihm  alles  Andre  nebensächlich  vor- 
kam. Wie  ernst  er  es  mit  Allem,  was  sich  darauf  bezog, 
nahm,   wie  gründlich    er  mit   den  Predigern  Bauer  und  Sehn- 


374  Das  Jahr  1835. 

bring,  seinen  Jugendfreunden,  den    Text,  die  ganze  Grundlage 
durchsprach,    wie  ihm    auch  hierin  sein  Vater  in  dem  schönen 
Brief  vom  lOten  März  1835  den  besten  Rath  ertheilt,  wie  sich 
Felix,  als  nun  der  Paulus  seiner  Vollendung  entgegengeht,  nach 
dem  Urtheil  seiner  Schwester  Fanny  sehnt,  weil  er  von  dieser 
ein  wirklich  kritisches,  sachverständiges  Urtheil  erwartet,  („von 
dem  Kantor  mit  den  dicken  Augenbrauen'',    wie  er  sie  nennt, 
denn  „dass    die  Düsseldorfer   Freunde    sehr   ausser  sich  seien, 
wolle  nicht  viel  beweisen")  —  das  Alles  liegt  in  den  gedruckten 
Briefen  vor.    So  reifte  während    aller  jener  Zerstreuungen  das 
Werk    stetig    seiner  Vollendung  entgegen.     Während  des  Be- 
suchs zum  Kölner  Musikfest  lernten  die  Familienmitglieder  die 
fertigen  Theile  kennen  und  waren  nun  allerdings  ebenso  auss^ 
sich  vor  Freude,  als  die  Düsseldorfer  Freunde.     Abraham  war 
ganz   zufrieden,   und   nun   erst   hielt  Felix   dafür,  dass  es  die 
Feuerprobe    einer   unpartheiischen    und   unbestochenen   Kritik 
"bestanden  habe,    und    sah    dem  allgemeinen  Erfolg  mit  Zuver- 
sicht entgegen.    Welche  Freude  wäre  es  für  den  Vater  gewe- 
sen, wenn   der  Paulus    schon  auf  dem  1835er  Musikfest  hätte 
aufgeführt  werden  können,  und  es  ihm  vergönnt  gewesen  wäre, 
den  Triumph  des  Sohnes  noch  mit  zu  erleben.    Die  Worte,  die 
Felix  mit   der  Einladung    zu  dem  Kölner  Musikfest  schrieb,*) 
auf  dem  garnichts  von  ihm  aufgeführt  wurde,  hätten  dann  eine 
noch  prägnantere  Bedeutung   gehabt:    „Dass    Eui-e  Gegenwart 
mich  nicht  nur  nicht  hemmen,  sondern  im  Gegentheil  mir  erst 
die  rechte   Lust   und  Freude   am  Gelingen  geben  wird,  weisst 
du  wohl.     Lass   mich  Dir   bei   dieser  Gelegenheit  auch  sagen, 
dass   mir   der   Beifall   und  die  Freude  des  Publikums,  für  die 
ich  gewiss  empfänglich  bin,  e^st  aas  rechte  Vergnügen  machen, 
wenn  ich  Euch  davon  schreiben  kann,  weü  ich  weiss,  dass  sie 
Euch  freuen,    und   mir    an   einem  Worte  des  Lobes  von  Euch 
wahrhaftig   mehr   liegt,    oder  dass  es  mich  glücklicher  macht, 
als  alle  Publikums    der  Welt,    die   zusammen   klatschen,    und 
dass  es  mir  darum  die  liebste  Belohnung  für  meine  Arbeit  ist, 
wenn  ich  Euch  unter  den  Zuhörern  sehen  kann.'* 


*)  Brief  an  seinen  Vater.    3.  April  1835. 


AnkuüpfuDgen  mit  Leipzig.  375 

Der  Brief  schliesst:  „Mein  Oratorium  wird  erst  im  No- 
vemlDer  in  Frankfurt  aufgeführt  werden,  wie  mir  Schelble 
sehreibt,  und  so  lieb  es  mir  wäre,  wenn  Du  es  bald  hörtest, 
so  möchte  ich  doch  noch  lieber,  Du  hörtest  es  bei  dem  Musik- 
fest im  nächsten  Jahr  zuerst.  Um  dies  bestimmt  anzunehmen, 
habe  ich  mir  vorbehalten,  die  Aufführung  in  Frankfurt  abzu- 
warten, damit  ich  selbst  es  erst  höre  und  wisse,  ob  es  für  das  Mu- 
sikfest passt;  aber  wenn  das  der  Fall  ist,  wie  ich  hoffe  und 
wünsche,  so  ^vird  sich's  da  viel  schöner  ausnehmen,  und  dann 
ist  es  das  Musikfest,  das  Du  lieb  hast,  und  Pfingsten  statt 
November,  und  besonders  werde  ich  dann  schon  wissen,  ob  es 
Dir  gefallen  wird  oder  nicht,  worüber  ich  jetzt  noch  nicht 
sicher  bin." 

Als  jenes  Musikfest  mit  dem  Paulus  gefeiert  wurde,  sah 
Felix  den  Vater  nicht  unter  den  Zuhörern,  da  hatte  er  den 
ersten  grossen  Schmerz  seines  Lebens  schon  erlitten. 

Durch  alle  die  Theaterverhältnisse,  namentlich  durch  den 
gespannten  Fuss,  auf  den  Felix  mit  Lnmermanu  gekommen 
war,  hatte  sich  allmählich  das  Düsseldorfer  Leben  weniger 
angenehm  gestaltet,  als  zu  Anfang.  Ein  hauptsächlicher  Mangel 
war  wohl  das  erst  Werdende  aller  Institute ;  auf  das  einmüthige 
Zusammenwirken  freiwillig  sich  betheiligender  Menschen,  die 
im  Uebrigen  die  verschiedensten  Zwecke  hatten,  w^ar  aller 
Erfolg  basirt.  Das  giebt  eine  Zeit  lang  ausserordentliche  Re- 
sultate, aber  eben  nur  so  lange  die  Einmüthigkeit  und  das 
Zusammenhalten  dauert.  Nun  zeigten  sich  aber  schon  an 
manchen  Stellen  bedenkliche  Risse;  die  Einigkeit,  die  mehr 
als  in  einem  grossen  Menschenwesen  in  einer  kleinen  Stadt 
schwierig  zu  erhalten  ist,  verschwand.  Und  gerade  in  dieser 
Zeit  —  es  konnte  kaum  ein  Moment  gedacht  werden,  der  Felix 
in  einer  günstigeren  Stimmung  füi'  die  Annahme  gefunden  hätte 
—  kam  eine  Aufforderung  zui'  Uebernahme  einer  anderen 
Stellung,  der  Direction  der  Gewandhaus-Concerte  in  Leipzig. 
Und  wie  der  Augenblick  ein  günstiger  war,  so  war  auch  die 
Stelle  eine  solche,  wie  sie  ihm  nicht  besser  hätte  passen  können. 

Die  Annehmlichkeiten  waren  dieselben,  wie  in  Düsseldorf. 
Auch  diese  Stelle  war  keine  staatliche,  keine,  die  mit  „Behör- 


376  Das  Jahr  1836. 

den"  zu  thnn  hatte,  sondern  eine  freie  Gesellschaft,  die  zusam- 
mengetreten war  zu  dem  Zwecke,  gute  Musik  zu  machen,  und 
einen  Director  anzustellen  wünschte,  der  im  Stande  wäre,  zu 
diesem  Zwecke  die  geeignetsten  Mittel  zu  ergreifen.  Auch 
Leipzig  w^ar  eine  mittelgrosse  Stadt  Deutschlands,  in  der  das 
Lehen  ein  Felix  sehr  zusagendes  war.  Was  in  Düsseldorf  die 
Malerschule  that,  ein  geistiffes  ^»-isches  Element  in  das  Treiben 
zubringen,  das  that  in  Leipzig  der  grosseVerkehr  der  Handelsstadt, 
namentlich  der  buchhändlerische  und  die  Universität.  Aber 
ausserdem  hatte  Leipzig  grosse  Vorzüge.  Das  Listitut  der 
Gewandhaus-Concerte  war  ein  altes,  längst  begründetes  und 
seit  56  Jahren  fest  bestehendes.  Das  war  wesentlich  günstiger, 
als  in  Düsseldorf,  wo  Vieles  noch  in  den  Anfangstadien  des 
Versuchs  steckte;  es  hatten  sich  ordentliche  geschäftsmässige 
Formen  ausgebildet,  die  Wirkungskreise  w^aren  sicher  abge- 
grenzte, von  Kompetenzkonflikten,  wie  in  Düsseldorf,  konnte 
nicht  gut  die  Rede  sein ;  und  da  Felix  unter  solchen  unsicheren, 
tappenden  Umständen  gerade  in  Düsseldorf  gelitten  hatte,  so 
war  dies  auch  das  Erste,  was  ihn  in  Leipzig  sehr  angenehm 
beruhigte. 

Auch  die  Erinnerung  an  Seb.  Bach  und  sein  Wii'ken  als 
Kantor  an  der  Thomaskirche  zu  Leipzig  war  für  Felix,  der 
sich  so  ganz  in  Bach  versenkt,  der  seine  Matthäuspassion 
wieder  zu  Ehren  gebracht  hatte,  verlockend. 

Rechnet  man  zu  alledem  die  bedeutend  grössere  Nähe  von 
Berlin,  die  damals,  wo  noch  keine  Eisenbahn  existirte,  viel 
mehr  in's  Gewicht  fiel,  als  dies  jetzt  der  Fall  sein  wüi'de,  so 
liegen  die  Vortheile  der  Uebersiedelung  nach  Leipzig  auf  der 
Hand.  Felix  kam  dem  die  Unterhandlung  Anknüpfenden  auf 
die  erste  Anfrage  bereitwillig  entgegen,  bat  nur  um  Aufklärung 
einiger  Punkte,  unter  denen  der  hauptsächlichste  der  war,  ob 
er  nicht  einen  Andern  durch  seine  Annahme  von  diesem  Posten 
verdrängen  würde,  in  welchem  Falle  er  unbedingt  nicht  darauf 
eingehen  könnte.  Alle  seine  Zweifel  wurden  jedoch  zu  seiner 
vollkommenen  Zufriedenheit  erledigt,  und  im  Herbst  1835  trat 
er  die  Stelle  als  Kapellmeister  der   Gewandhaus-Concerte  an. 

Bald  darauf  (13.  November  1835)   schrieb  er  an  Fanny 


Erste  Zeit  in  Leipzig.  377 

„ Dr.  Reiter  kam  ganz  entzückt  von  Eurer  Auf- 
nahme hier  an ;  über  Vater  ist  er  in  einem  wahren  Enthusias- 
mus. Dafür  kann  ich  aber  nicht  verschweigen,  dass  Herr  L. 
am  meisten  begeistert  von  Walter,  dann  von  Sebastian,  und 
dann  erst  von  Deinem  Klavierspiel  sprach.  Er  sagte.  Du 
solltest  eine  reisende  Künstlerin  sein.  Du  würdest  die  Andern 
todtspielen.  Ich  sagte:  pourquoi?  Denn  mich  fror  sehr,  es 
war  auf  der  Concerttreppe  gestern  Abend,  und  er  wurde 
garnicht  fertig  mit  Erzählungen  von  Eurer  Liebenswürdigkeit. 

A.  ist  hier  mit  M.  Wenn  ich  sagen  sollte,  dass  er  mir 
einen  guten  Eindruck  gemacht  hätte,  so  müsste  ich's  lügen. 
Ein  rechtes  Bild  eines  spekulirenden,  geizigen  Musikus  —  also 
ein  trauriges.  Er  ist  auf  kein  ander  Gespräch  zu  bringen 
als  auf  Geldsachen,  auf  Geldpläne  und  Geldverluste  —  und 
wär's  noch  sein  eignes,  aber  so  verdient  er's  mit  der  M.,  die 
er  deshalb  vor  5  Jahren  schon  adoptirt  hat,  und  die  nun  von 
Kopf  bis  Fuss  nichts  als  eine  Musikspekulation  ist.  Die  mag 
nun  gelungen  sein  oder  nicht,  so  ennuyirt's  mich ;  mein  Inter- 
esse an  ihr  könnte  erst  anfangen,  wenn  sie  sich  mit  A.  um's 
Geld  recht  tüchtig  zankte  oder  gar  wegliefe,  aber  so  ist's  gar  zu 
jämmerlich.  Sie  soll  übrigens  schön  singen  und  achtet  mich 
sehr  —  das  hilft  mir  aber  garnichts,  wie  gesagt. 

Denk'  Dir,  Fanny,  bei  Wieck's  Concert  neulich  hörte  ich 
meinem  H-moll- Capriccio  zum  ersten  Male  zu  (Clara  spielte  es, 
wie  ein  Teufelchen)  und  es  hat  mir  sehr  gut  gefallen.  Ich 
war  eigentlich  ganz  verwundert  darüber,  denn  ich  hielt  es  für 
ein  selir  dummes  Ding,  seit  Du  und  Marx  sehr  darauf  ge- 
schimpft, aber  es  klingt  wahrhaftig  lustig  mit  dem  Orchester, 
es  scheint  mir  lange  frisch  für  ein  Concertding.  Ich  glaube, 
es  ist  hübscher,  als  das  aus  Es,  Du  glaubst  aber  das  Gegen- 
theil,  glaube  ich."  — 

Dirichlet's,  die  während  Hensels  verunglückter  franzö- 
sischer Reise  eine  sehr  vergnügte  durch  Belgien  nach  Ostende 
gemacht  hatten,  brachten  bei  ihrer  am  14.  October  erfolgenden 
Rückkehr  nach  Berlin  Felix  und  Moscheies,  der  zum  Besuch 
in  Leipzig  war,  auf  einige  Tage  mit.  Fanny  zählte  sie  immer 
zu  den  heitersten,    ungetrübt   glücklichsten,    die  sie  je  erlebt. 


378  Das  Jahr  1835. 

Nachts  waren  die  Reisenden  angekommen,  nnd  Hensels  wur- 
den Morgens  mit  der  frohen  Nachricht  geweckt.  Nun  wurde 
eine  Ueberraschung  für  die  Eltern  bereitet;  die  ganze  Gesell- 
schaft zog  aus  der  Gartenwohnung  über  den  Hof  nach  vom. 
Der  Flügel  wurde  hinübergeschafft  und  es  ging  an's  Musiciren. 
Die  Nachricht  verbreitete  sich  in  der  Stadt  bei  den  Freunden, 
und  die  zwei  Tage  hindurch  war  das  munterste,  lebhafteste 
Treiben.  Beide  spielten  wunderschön ;  Abraham,  der  fast  ganz 
blind  war,  verwechselte  bei  einem  vierhändigen  Stück  die 
Beiden,  und  wunderte  sich  über  Felixens  etwas  zierliches  Spiel, 
sowie  über  Moscheies'  lebhafte  Natürlichkeit,  und  erst  als  sie 
aufstanden,  bemerkte  er  seinen  Irrthum.  Am  zweiten  Abend, 
unmittelbar  vor  Moscheies'  Abreise  phantasirten  sie  vierhändig ; 
als  die  Zeit  der  Abfahrt  da  war,  unterbrach  Felix  Moscheies 
durch  das  Schnellpostsignal;  darauf  nahm  Moscheies  in  einem 
rührend  feierlichen  Andante  Abschied,  wurde  abermals  durch 
das  Signal  unterbrochen  und  nun  schlössen  beide  zusammen. 
Abraham  erzählte  noch  in  den  nächsten  Wochen  hiervon  gern 
und  gut.  Am  andern  Morgen  fuhr  Felix  nach  Leipzig  zurück 
unter  dem  Versprechen,  Weihnachten  wiederzukommen.  Abra- 
ham sagte  noch  bei  der  Gelegenheit:  „Das  darf  man  ja 
menschlicher  Weise  hoffen  zu  erleben"  —  und  Felix  hatte  den 
Vater  zum  letzten  Male  gesehen. 

Es  folgte  noch  eine  muntere  Zeit.  Der  Sänger  Hauser 
kam  nach  Berlin,  den  Abraham  sehr  gern  hatte,  und  oft 
hörte.  Fanny  gab  eine  sehr  brillante  Sonntagsmusik,  bei 
der  ihr  Vater  meinte,  die  Sache  sei  so  gross  und  hoch 
angefangen,  sie  könne  sich  nicht  so  halten.  Am  14ten  November 
war  Fannys   Geburtstag,    der   vergnügt  gefeiert   wurde. 

Es  ist  (S.  33)  erwähnt  worden,  dass  die  letzten  Tage  Moses 
Mendelssohns  durch  eine  litterarische  Fehde,  deren  Gegenstand 
Lessing  war,  ausgefüllt  wurden.  Ein  eigen thümlicher  Zufall 
wollte  es,  dass  auch  Abraham  etwas  Aehnliches  begegnete. 
Kurz  vor  seinem  Tode  am  löten  November  hatte  er  eine 
Unterredung  mit  Herrn  v.  Varnhagen,  in  welcher  dieser  einige 
junge  deutsche  Schriftsteller  auf  Kosten  von  Lessing  ausser- 
ordentlich  hoch   stellte   und   lobte.    Es    entstand  daraus  ein 


Letzter  Brief  von  Abraham.  379 

heftiger  Streit  zwischen  beiden,  welcher  damit  endete,  dass 
Varnhagen  ziemlich  eiTegt,  und  ohne  versöhnenden  Abschluss 
der  Diskussion  das  Haus  verliess. 

Nach  Abrahams  Tode  fand  man  auf  seinem  Pult  den  nach- 
folgenden, unbeendigten  Brief,  dessen  Original  Varnhagen  zu 
sich  nahm,  während  sich  in  den  Familienpapieren  eine  Abschrift 
von  der  Hand  von  Fanny  Hensel  befindet. 

16.  November  1835. 
,,Wenn  Sie,  hochgeehrter  Herr  und  Freund,  erwägen,  dass 
Lessing  während  eines  grossen  Theils  seines  Lebens  der  ver- 
trauteste Freund  meines  Vaters  war,  und  von  diesem  innigst 
geliebt  und  wahrhaft  verehrt  worden,  dass  Lessing  den  Nathan, 
die  Emilia  Galotti,  die  Erziehung  des  Menschengeschlechts, 
den  Laokoon,  die  Dramatiu'gie  (welcher  Deutschland  mehr 
schuldig  geworden  als  allen  seitdem  geschriebenen  Theater- 
kritiken und  Feuilletons  zusammengenommen,  nämlich  die 
Kenntniss  Shakespeares)  geschiieben,  dass  er  ohne  Widerrede 
ein  profunder  Gelehrter  war,  dass  fast  aus  jeder  Zeile  in 
seinem  Werke  der  klarste  Verstand,  mit  dem  tiefsten  Gemüth 
vereinigt,  hervorgeht,  so  werden  Sie  es  um  so  freundlicher 
entschuldigen,  dass  ich  gestern  seine  Vertheidigung  vielleicht 
etwas  zu  lebhaft  gegen  Sie  geführt  habe.  Ich  war  überrascht, 
ich  kann  es  nicht  leugnen,  Sie,  den  ich  so  oft  mit  der  wärmsten- 
Verehi'ung  von  Lessing  und  seinen  Werken,  besonders  vom 
Nathan,  und  ganz  besonders  von  der  daraus  hervorleuchtenden 
Gesinnung  sprechen  gehört  habe,  nun  eben  diesen  Mann,  der 
die  Wahrheit  so  hoch  verehrte,  dass  er  sie  für  Gott  allein 
geeignet  glaubte,  und  für  sich  nur  das  Streben  danach,  kurz, 
diese  Sonne,  in  welcher  man  durch  schwarzgefärbte  Gläser 
wohl  Flecken  auffinden  kann,  mit  Leuten  zusammenstellen  zu 
hören,  welche  bis  jetzt  nur  Flecken  gezeigt  haben,  hinter 
denen  allerdings  Niemandem  versagt  ist,  eine  Sonne  zu  ahnen. 
Ich  hätte  mir  indess  sagen  sollen,  dass  nur  eine  augenblickliche 
Stimmung  Sie  zu  dieser  Verunglimpfung  Lessings  hinzureissen 
vermochte,  und  dass  eine  solche  durch  den  Widerspruch  eines 
Laien  sich  nur  noch  mehr  aufgeregt   fühlen  musste.     Mehrere 


380  Das  Jahr  1835. 

jener  jungen  Leute  stehen  Ihnen  persönlich  näher,  und  es  ist 
gi'ossmüthig,  dass  Sie  das  Aeusserste  wagen,  um  sie  zu  retten 
nnd  zu  heben.  Schon  aus  dem  Gesichtspunkte  der  gesellschaft- 
lichen Convenienz  wäre  diese  Betrachtung  meine  Pflicht  ge- 
wesen." — 

Noch  am  18ten  war  Abraham  bis  auf  einen  wenig  bedeutenden 
Husten  ganz  wohl.  Am  andern  Morgen  wurde  die  Familie  mit  der 
Nachi'icht  geweckt,  er  sei  die  Nacht  unwohl  geworden.  Man 
glaubte  an  einen  Schlagfluss,  aber  er  war  bei  Besinnung  und 
Bewusstsein.  Die  herbeigerufenen  Aerzte  fanden  indessen  den 
Zustand  so  wenig  bedenklich,  dass  sie  Felix  nicht  benach- 
richtigen lassen  wollten,  um  ilm  nicht  unnütz  zu  erschrecken 
und  nach  Berlin  zu  sprengen.  Das  war  um  10  Uhr.  Der 
Kranke  drehte  sich  um,  sagte,  er  wolle  ein  wenig  schlafen,  doch 
eine  halbe  Stunde  darauf  war  er  todt.  So  rasch,  so  uner- 
wartet, so  sanft  und  ruhig  ging  er  hinüber,  dass  keins  der 
um  das  Lager  versammelten  Kinder  anzugeben  wusste,  wann 
der  Tod  eingetreten  sei.  Es  war  stets  sein  Wunsch  gewesen, 
In  dieser  Weise  zu  sterben,  und  er  war  ihm  gewährt. 
Und  Fanny  schliesst  ihre  Erzählung  des  Todes  mit  den 
Worten:  „So  schön,  so  unverändert  ruhig  war  sein  Gesicht, 
dass  wii'  nicht  nur  ohne  Scheu,  sondern  mit  einem  wahren 
Gefühl  der  Erhebung  bei  der  geliebten  Leiche  verweilen  konnten. 
Der  ganze  Ausdruck  so  ruhig,  die  Stirn  so  rein  und  schön, 
die  Hände  so  mild ;  es  war  das  Ende  des  Gerechten,  ein  schönes 
beneidenswerthes  Ende  und  ich  bitte  Gott  um  ein  gleiches  und 
will  mich  mein  ganzes  Leben  lang  bemühen,  es  zu  verdienen, 
wie  er  es  verdiente.  Es  war  das  versöhnendste,  schönste 
Bild  des  Todes." 

Die  nächste  Sorge  der  Familie  war  fiir  die  Mutter  und 
für  Felix.  Erstere,  von  Natur  reizbar,  neigend  zu  einem  Herz- 
leiden, und  denselben  Sommer  ernstlich  krank  gewesen,  war 
in  einem  besorgnisserregenden  Zustand.  Und  nun  Felix!  — 
Wie  sollte  er,  der  ganz  Unvorbereitete,  der  am  schwärme- 
rischsten, beinahe  fanatisch  an  dem  Vater  hing,  die  fui'chtbare 
Nachi'icht  erfahren,  wie  sollte  ihm  der  zerschmetternde  Schlag 
gemildert  werden?  —  Hensel  war  sogleich  bereit,  hinzufahren; 


Felix  über  den  Tod  seines  Vaters.  381 

er  besorgte  sich  schnell  Pass  und  Wagen,  und  um  V2  ^  Uhr 
war  er  unterwegs.  Am  Sonnabend  Morgen  kamen  beide  in 
Berlin  an ;  Felix  in  einem  beängstigenden  Zustand,  aufs  Höchste 
gespannt,  wenig  weinend,  mit  wahrer  Hoffnungslosigkeit  in 
die  Zukunft  sehend.  Er  war  zu  keiner  Mittheilung,  zu  keinem 
herzerleichternden  Thränenstrom  fähig,  man  musste  für  ihn 
das  Schlimmste  befürchten.  Und  allerdings  verlor  er  am 
meisten,  wenn  bei  solchem  Verlust,  wie  der  des  Vaters,  Steige- 
rungen möglich  sind ;  oder  vielmehr  er  hatte  diesem  unendlichen 
Verlust  gegenüber  kein  milderndes  Gegengewicht.  Die  andern 
Kinder  besassen  alle  schon  ihre  eigene  Häuslichkeit  und  hatten 
im  Umgang  mit  ihren  Gatten,  zum  Theil  in  der  Sorge  für 
ihre  Kinder  versöhnende,  ablenkende  Thätigkeiten,  andere,  die 
die  schwere  Last  mit  tragen  halfen.  Felix,  der  Unverhei- 
rathete,  verlor  im  Vater  das  Liebste,  und  nichts  lenkte  seinen 
Blick  vom  Betrachten  des  unersetzlichen  Verlustes  ab.  Seiner 
wartete  in  Leipzig  seine  leer^  Junggesellenstube;  und  alle 
seine  Thätigkeit,  die  die  Freude  seines  Lebens  gewesen  war, 
kam  ihm  jetzt  schaal  vor,  denn  die  Hauptfreude  war  ja  eben 
der  Bezug  seiner  Thätigkeit  auf  den  Vater  gewesen.  Er  ging 
nach  einigen  Wochen  nach  Leipzig  zurück.  Wie  es  in  ihm 
aussah,  zeigen  zwei  Briefe  an  die  Prediger  Schubring  und 
Bauer,  bald  nach  der  Eückkehr  nach  Leipzig  geschrieben.*) 

„Du  wirst  es  schon  wissen,  lieber  Schubring,  welcher 
schwere  Schlag  mein  und  aller  Meinigen  glückliches  Leben 
getroffen  hat !  Es  ist  das  grösste  Unglück,  was  mir  widerfahren 
konnte,  und  eine  Prüfung,  die  ich  nun  entweder  bestehen  oder 
daran  erliegen  muss.  Ich  sage  mir  dies  jetzt  nach  drei  Wochen 
ohne  jenen  scharfen  Schmerz  der  ersten  Tage,  aber  ich  fühle 
es  um  so  sicherer:  es  muss  für  mich  ein  neues  Leben  anfan- 
gen, oder  alles  aufhören  —  das  alte  ist  nun  abgeschnitten. 
Zu  unserem  Trost  und  Vorbild  erträgt  Mutter  den  Verlust  so 
ruhig  und  standhaft,  dass  es  zu  bewundern  ist;  sie  freut  sich 
an  den  Kindern  und  Enkeln,  und  sucht  sich  so  die  unersetz- 
liche Lücke   zu  verbergen,    meine  Geschwister  thun,   was  sie 


♦)  Felix'scbe  Briefe  vom  6.  udc   9.  Decetnber  1835. 


382  Das  Jahr  1835. 

können,  um  ihre  Schuldigkeit  desto  vollkommener  zu  erfüllen, 
je  schwerer  sie  ihnen  wird;  ich  war  auf  10  Tage  in  Berlin, 
um  durch  meine  Gegenwart  die  Mutter  wenigstens  mit  dem 
Rest  der  Familie  vollzählig  zu  umgeben,  aber  w^elche  Tage 
das  waren,  das  brauche  ich  Dir  nicht  zu  sagen ;  Du  weisst  es 
wohl  und  hast  gewiss  meiner  gedacht,   in  dieser  dunklen  Zeit ! 

Ich  weiss  nicht,  ob  Du  wusstest,  wie   besonders 

seit  einigen  Jahren  mein  Vater  gegen  mich  so  gütig,  so  wie 
ein  Freund  war,  dass  meine  ganze  Seele  an  ihm  hing,  imd  ich 
während  meiner  langen  Abwesenheit  fast  keine  Stunde  lebte, 
ohne  seiner  zu  gedenken,  aber  da  Du  ihn  in  seinem  Hause 
mit  uns  Allen  und  in  seiner  ganzen  Liebenswüi^digkeit  gekannt 
hast,  so  wirst  Du  Dir  denken  können,  wie  mir  jetzt  zu  Muthe 
ist.  —  Das  Einzige  bleibt  da,  die  Pflicht  zu  thun,  und  dahin 
suche  ich  mich  zu  bringen,  mit  allen  meinen  Kräften;  denn  er 
würde  es  so  verlangen,  wenn  er  gegenwärtig  wäre,  und  ich 
will  nicht  aufhören,  so  wie  sonst  nach  seiner  Zufriedenheit  zu 
streben,  wenn  ich  sie  auch  nicht  mehr  geniessen  kann.  — 
Das  hätte  ich  nicht  gedacht,  als  ich  die  Beantwortung  Deines 
Briefes  verschob,  dass  ich  ihn  so  würde  beantworten  müssen; 
—  habe  auch  jetzt  noch  Dank  dafür  und  für  alle  Deine  Freund- 
lichkeit. —  Die  eine  Stelle  zum  Paulus  war  vortrefflich:  „Der 
Du  der  rechte  Vater  bist."  Ich  habe  gleich  einen  Chor  dazu 
im  Kopfe  gehabt,  den  ich  nächstens  schreiben  will,  üeber- 
haupt  mache  ich  mich  nun  mit  doppeltem  Eifer  an  die  Vollen- 
dung des  Paulus,  da  der  letzte  Brief  des  Vaters  mich  dazu 
trieb,  und  er  sehr  ungeduldig  die  Beendigung  dieser  Arbeit 
erwartete;  mir  ist's,  als  müsste  ich  nun  alles  anwenden,  um 
den  Paulus  so  gut  als  möglich  zu  vollenden,  und  mir  dann 
denken,  er  nähme  Theil  daran.  —  Wenn  es  fertig  ist,  wie 
dann  weiter,  das  wird  Gott  geben."  — 

An  Prediger  Bauer:  „Deinen  guten  Brief  erhielt  ich 
hier  an  dem  Tage,  wo  bei  Dir  die  Taufe  sein  sollte,  als  ich 
eben  von  Berlin  zurückgekommen  war,  wo  ich  meiner  Mutter 
die  ersten  Tage  nach  dem  Verluste  meines  Vaters  zu  erleich- 
tem gesucht  hatte.  So  bekam  ich  die  Nachricht  Deines  Glückes, 
als  ich  hier  wieder  in  meine  leere  Stube  trat,  und  zum  ersten 


Felix  über  den  Tod  seines  Vaters.  383 

Male  recht  im  Innersten  fühlte,  was  es  heisst,  das  bitterste 
schmerzlichste  Unglück  zu  erleben.  Denn  der  Wunsch,  den 
ich  mir  vor  Allem  jeden  Abend  wieder  gewünscht  hatte,  war 
der,  diesen  Verlust  nicht  zu  erleben,  weü  ich  an  meinem  Vater 
so  ganz  und  gar  gehangen  hatte,  oder  vielmehr  hänge,  dass 
ich  nicht  weiss,  wie  ich  mein  Leben  nun  fortsetzen  werde,  und 
weü  ich  nicht  bloss  den  Vater  entbehren  muss  (ein  Gefühl,  das 
ich  mir  schon  seit  meiner  Kindheit  als  das  Herbste  dachte), 
sondern  auch  meinen  einzigen  ganzen  Freund  während  der 
letzten  Jahre  und  meinen  Lehrer  in  der  Kunst  und  im  Leben. 
Da  war's  mir  eigen,  als  ich  Deinen  Brief  las,  der  ganz 
Freude  und  Behaglichkeit  athmet,  und  der  mich  auffordert, 
mich  am  neu  Werdenden  zu  erfreuen,  im  Augenblick,  wo  ich 
meine  ganze  Vergangenheit  als  wirklich  vergangen  und  vorbei 
fühlt«.  Doch  danke  ich  Dir  dafür,  dass  Du  mich  als  entfernten 
Grast  bei  der  Taufe  haben  wolltest,  und  wenn  Dir  auch  mein 
Name  dabei  einen  ernsteren  Eindruck  machen  wird,  als  Du 
vielleicht  dachtest,  so  möge  der  Eindruck  eben  nur  ein  ernst- 
hafter, nicht  ein  schmerzlicher  für  Dich  und  Deine  Frau  sein, 
und  wenn  Du  in  späteren  Jahren  Deinem  Kinde  von  denen 
erzählst,  die  Du  zu  seiner  Taufe  gebeten  hattest,  so  lass  mich 
nicht  weg,  sondern  sage  ihm,  wie  Einer  davon  an  diesem  Tage 
sein  Leben  auch  von  Neuem,  aber  in  einer  andern  Bedeutung 
angefangen  habe,  —  mit  neuen  Vorsätzen  und  Wünschen,  und 
mit  neuen  Bitten  zu  Gott!"  —  — 


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17. 


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P»  Stankiewicz'  Buchdruckerei,  Berlin  SW.,  11,  Bernburgerstr.  14, 


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ML  385  .H54  1906  Bd   1 
Hensel,  Sebastian,  1830- 
1898. 

Die  Familie  Mendelssohn 
~-i±m-lß  4  7 — 


DATE  DUE 

CAYLOnO 

PRtNTCOINU.S   A. 

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